"Irgendwann hat man hier nur noch Freunde und Bekannte über 40 - das kann es eigentlich nicht sein." Matthias Patzuda (Jahrgang 1979) befürchtet, dass in seiner Heimat Neubrandenburg eine solche Prophezeiung bald eintritt. Von 80 Absolventen seines Schuljahres sind im Augenblick noch zwei in der Stadt, der Rest ist abgewandert. Patzuda hingegen kehrte - nachdem er 1998 nach Hamburg ging und später in Kiel arbeitete - vor einem Jahr zurück. Als Ausbilder für die Multi-Media-Sparte versucht er etwas dafür zu tun, dass nicht mehr das Gros der Schulabgänger gen Westen zieht.
Patzuda gehört zu den etwa 300 Personen, die von der 1991 gegründeten Agentur MV4you mit einem Arbeitsangebot zur Rückkehr bewogen wurden. Seit der Wende hat Mecklenburg-Vorpommern annähernd 200.000 Einwohner verloren, bis 2020 wird noch einmal mit einem Schwund in dieser Größenordnung gerechnet. Diesem Trend stemmt sich MV4You entgegen - gefördert mit 300.000 Euro im Jahr vom PDS-geführten Arbeitsministerium in Schwerin, soll die Agentur potenzielle Rückkehrer von den Chancen des heimatlichen Arbeitsmarktes überzeugen. Trotz temporärer Rekordquoten in der Arbeitslosenstatistik braucht Mecklenburg-Vorpommern Fachkräfte und hofft auf all jene, die irgendwann mit ihrer Qualifikation und Lebenserfahrung aus dem Westen "heimkehren".
Als PDS-Projekt einst von Wirtschaft und CDU-Opposition verbissen bekämpft, hat sich der Sturm der Entrüstung über MV4You inzwischen gelegt. Die sechs Mitarbeiter verzeichnen gerade in diesem Jahr eine steigende Nachfrage derzeit werden fast 1.700 Interessenten, überwiegend mit Hochschulabschluss und aus fast allen Bundesländern, betreut. MV4You bietet regelmäßige Informationen über den regionalen Arbeitsmarkt, auf die Klienten zugeschnittene Stellen- und Unternehmensnachfolgeangebote, Hilfe bei der Wohnungssuche und ähnlichen Service. Mittlerweile wird MV4You häufig von Firmen kontaktiert, die praxiserfahrene Fachkräfte suchen, bei den Arbeitsagenturen aber nicht fündig werden.
Mit Versuchen dieser Art steht im Osten der Norden nicht mehr allein, in Sachsen hat sich die Dresdner Industrie- und Handelskammer mit dem Rückhalt von 165 Betrieben dem Projekt Sachse komm zurück verschrieben. In Sachsen-Anhalt untersucht ein Programm, inwieweit Wohneigentum als Motiv für die Rückkehr junger Familien in Betracht kommt. Über die Gründung einer "Rückholagentur" wird an der Hochschule Magdeburg-Stendal nachgedacht, seit 2004 existiert dort bereits die Initiative JungeKarriereMitteldeutschland (JuKam), die mit einer Datenbank qualifizierter Arbeitskräfte wirbt.
Dörfer in Abwicklung
Zwischen 1991 und 2004 sind fast 2,2 Millionen Menschen aus Ostdeutschland abgewandert, im Abgleich mit der Zuwanderung ein Nettoverlust von knapp 900.000, ein Bevölkerungsrückgang von über fünf Prozent. Mehr als die Hälfte der Aussiedler war unter 30, die meisten gingen, weil sie nach Schulabschluss, Lehre oder Studium in die Arbeitslosigkeit geschickt wurden oder einen weit unter Tarif bezahlten Job akzeptieren mussten.
Selbst die Zuwanderungszahlen sind bei näherer Betrachtung ein Problem. Aus dem Westen kommen überproportional Rentner, die ihren Lebensabend in aller Ruhe verbringen möchten. Dazu gibt es in zusehends mehr Ost-Regionen reichlich Gelegenheit. Städte wie Rostock, Zwickau, Schwerin und andere haben seit der Wende bis zu 30 Prozent ihrer Einwohner eingebüßt. Nicht nur in Mecklenburg-Vorpommern gelten viele Gemeinden mit weniger als 500 Einwohnern als "demographischer Krisentyp", auch in Brandenburg. Als dort die Landesregierung jüngst unvorsichtigerweise verlauten ließ, bald würden alte Dorftrottel die prägende Bevölkerungsgruppe in peripheren Regionen bilden, blieb ein öffentlicher Aufschrei aus. Warum auch? Abseits städtischer Ballungsgebiete vergreist der Osten in blühenden Naturparkzonen. Immer lauter werden Stimmen in den betreffenden Landesregierungen, die den Sinn weiterer öffentlicher Investitionen im ländliche Raum bezweifeln, wo doch in absehbarer Zeit ohnehin der Letzte das Licht ausschalten wird.
Kernbelegschaften in Rente
Auch wenn sich die Abwanderung seit drei Jahren wieder verlangsamt - die demographische Entwicklung führt statt wirtschaftlicher Erholung geradewegs in das nächste Fiasko. Neben dem Geburtenausfall durch den Zug nach Westen sind seit 1989/90 auch die im Osten Ausharrenden faktisch in einen Geburtenstreik getreten.
Nachdem sich zunächst die Schulen leerten, wird der Geburtenknick vermutlich genau dann den Arbeitsmarkt erreichen, wenn in den neuen Ländern händeringend Fachkräfte gesucht werden. Denn die Altersstruktur der meisten Betriebe bietet ein geradezu kurioses Bild. Da nach der Wende kaum noch ausgebildet wurde, über 55-Jährige in den Vorruhestand abgeschoben und zwischenzeitlich nur selten neue Mitarbeiter eingestellt wurden, gehen zwischen 2008 und 2010 jährlich relevante Teile der jeweiligen Kernbelegschaft in Rente und brauchen Ersatz. Fast alle dieser von Soziologen ironisch als "Überlebensgemeinschaften" beschriebenen Firmen haben für diesen Fall nicht vorgesorgt und gehen davon aus, es werde rechtzeitig Ersatz vom Arbeitsmarkt geben. Doch dürfte man schon in drei bis vier Jahren um die wenigen nachrückenden jungen, vor allem qualifizierten Arbeitskräfte mit aller Härte konkurrieren, da der überwiegende Teil der Langzeitarbeitslosen - gemessen an den Ansprüchen der Betriebe - längst nicht mehr integrierbar ist.
Die Folgen für Innovationskraft und Qualitätsstandards der Unternehmen liegen auf der Hand. Gerade für die zahlreichen Familienbetriebe in Ostdeutschland könnte diese Entwicklung zum Dilemma werden, wenn gleichzeitig in der Firmenleitung ein Generationswechsel stattfindet. Eine regionale Prävention, um einem solchen Szenario vor der Zeit zu begegnen, ist nirgendwo zu erkennen - Ausnahmen sind Tropfen auf den heißen Stein.
Auch Projekte wie MV4You hinterlassen vor diesem Hintergrund einen ambivalenten Eindruck. Die bisher vergleichsweise geringe Zahl heimgekehrter "kluger Köpfe" lässt verstehen, wie aussichtslos es ist, den Mahlstrom des demographischen Trends mit Kleinstdämmen aufhalten zu wollen. Andererseits zeigt der Umstand, dass es überhaupt Rückkehrwillige gibt - der homo oeconomicus muss nicht für alle Zeit westwärts ziehen. Der erwähnte Matthias Patzuda hätte auch in Hamburg bleiben können und dort etwa 30 Prozent mehr verdient. Er wollte zurück, um seine Kinder in der alten Heimat aufwachsen zu lassen. Eine Ausnahme, denn Befragungen der MV4You-Kunden ergaben, dass höchstens 15 Prozent Einkommenseinbußen in Kauf genommen werden, falls seriöse Angebote in der Heimat winken. Die zu finden, ist im Moment noch schwer genug.
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