Clements neues Meisterwerk

Arbeitslosengeld II Unberührt von den existenziellen Folgen für 1,5 Millionen Menschen präsentieren Regierung wie Opposition ein peinliches Theaterstück

Kaufen Sie heute und zahlen Sie später! Dass Ladenhüter mit diesem Trick erfolgreich unter die Leute gebracht werden können, ist Wolfgang Clement nicht entgangen. Für die Entzerrung der Leistungen und der Kosten bei der weit hinter dem Zeitplan zurück liegenden Fusion von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II musste das Prinzip jedoch umgedreht werden. Die Einsparungen, also die Kürzung der Arbeitslosenhilfe auf faktisches Sozialhilfeniveau, bitte schon ab Januar 2005 - der weitere Umbau der Arbeitsämter und die konkreten Festlegungen über Art und Höhe der Förderung irgendwann später. Dass nichts geklärt ist, dass Reintegration, Qualifizierung, Schuldnerberatung, Suchtberatung und psycho-soziale Betreuung in den Sternen stehen - wen interessiert das schon? Verdrängen und Verschieben sind für den künftigen Kahlschlag schon die halbe Miete.

Vom Arbeitslosengeld II sind etwa eine Million Menschen betroffen, deren Zahlungsansprüche gekürzt werden, und weitere 500.000, die nach dem 1. Januar 2005 gar keine Unterstützung mehr bekommen. Offenbar unberührt von diesen existenziellen Dimensionen präsentieren Regierung wie Opposition ein groteskes und peinliches Theaterstück. Roland Koch will mit albernen Beiträgen auf dem einzigen Politikfeld, das sich gegenüber Merkel zur eigenen Profilierung eignet, noch möglichst lange in der Öffentlichkeit herumreiten und den im Bundestag bereits verabschiedeten Gesetzentwurf in der Länderkammer am 14. Mai scheitern lassen. Wolfgang Clement zeigt wieder einmal, was unter "Fordern und Fördern" zu verstehen ist, wenn es konkret wird. Und die Nürnberger Bundesagentur für Arbeit steht wie gewohnt hilflos daneben und liefert den letzten Beweis, dass sie eigentlich komplett aufgelöst werden müsste.

Diese Forderung allerdings bleibt einem im Halse stecken, wenn man an die Alternative denkt. Ein Flickenteppich von Tausenden arbeitsmarktpolitisch unterschiedlich agierenden Kommunen wird nicht zwangsläufig bessere Ergebnisse bringen. Was würde passieren, wenn die Kommunen die ihnen bis zum August 2004 zugestandene Option wählen und selbst die gestaltende Kraft werden? Werden dann die Städte trotz aller gesetzlichen Vorgaben intern noch stärkere Daumenschrauben für die Betroffenen ansetzen? Werden sie die eigenen "Kostgänger" umgehend zum Leistungsbezug in die Nachbarschaft abschieben? Zumindest ein Wettbewerb der Kommunen um die geringsten Förderleistungen ist mehr als wahrscheinlich, da sie alle ein Interesse daran haben werden, für Leistungsempfänger möglichst unattraktiv zu sein. Ein effektives Controlling könnte manche Auswüchse verhindern. Aber wie soll das gehen mit einer inkompetenten Bundesagentur und einem überforderten Clement, der nahtlos an seine großen "Erfolge" in Nordrhein-Westfalen anknüpft?

Auch mit ihrem Zahlenwerk liegt die Bundesregierung daneben. Nicht zum ersten Mal können die Kommunen belegen, dass sich Rot-Grün zu ihren Lasten verrechnet hat. So räumt man mittlerweile ein, dass offenbar falsche Basiszahlen verwendet worden sind. Anstatt der mehrfach zugesagten Entlastung von 2,5 Milliarden Euro kommt nach derzeitigem Kenntnisstand annähernd derselbe Betrag als Defizit für die Kommunen heraus. Wie harmlos wirkt rückblickend ein Rudolf Scharping, der einst seine Kanzlerschaft durch die Verwechslung von brutto und netto vermasselte. Auch wenn Clement jetzt um fast zwei Milliarden Euro nachbessern will, um die Länder am 14. Mai doch noch zu einem positiven Votum im Bundesrat zu bewegen - am Drama wird das selbst im Erfolgsfall nichts ändern.

Die absolute Krönung dieser Posse ist aber zweifellos, dass in der Bundesagentur bis zum Jahresende 3.500 ausgeliehene Telekom-Mitarbeiter beim Aufbau der Datenbasis helfen sollen, um den 1. Januar als Starttermin für das Arbeitslosengeld II zu retten. Nach den Erfahrungen mit Toll Collect können wir uns ausmalen, was das bedeutet. Für die Betroffenen immerhin eine kleine Hoffnung: Softwareprobleme könnten den Sozialabbau verzögern.


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