Das Modell ist tot, es lebe das Modell

SCHWEDEN In relativ kurzer Zeit ist es gelungen, alte Tugenden in die "New Economy" zu transportieren. Die Euro-Skepsis ist damit auch Ergebnis eigener Erfolge

Thank god, it´s Friday! Mit diesem Stoßseufzer scheint ein ganzes Land allwöchentlich auszuatmen. Doch nicht nur das Ende der Arbeitswoche löst Erleichterung aus. Pawlow'schen Reflexen gleich, trifft man sich am Freitagnachmittag seit Jahrzehnten zum Extremshopping der besonderen Art. Systembolaget! Konsumträume des Alltags, die man sich finanziell nur am Wochenende leisten kann, nach 18.00 Uhr wie bei Juwelieren hinter Metallgittern gesichert. Kaum ein zweiter Begriff scheint gleichermaßen Zuneigung, Ablehnung und Kompetenz auf sich zu ziehen wie die schon in jeder schwedischen Kleinstadt anzutreffenden Monopolverkaufsstätten für "echtes" Bier, Wein und hochprozentigen Stoff.

Das Konsumentenverhalten fordert Kulturstudien heraus. Eiserne Disziplin beim obligatorischen Ziehen der Wartemarke, beeindruckende Kenntnis der im landesweit einheitlichen Katalog zuvor studierten Preislisten, schnelles Abwickeln der überaus teuren Ware-Geld-Beziehung, all das bei oft geringem Blickkontakt und auch sonst eher defensivem Kommunikationsverhalten. Und ab mit den Tüten in die Kofferräume der ältesten Kraftfahrzeugflotte Westeuropas. Zugegeben, dieses Ritual eines arg verklemmten Konsumententypus scheint eher für unbewältigte Prohibitionszeiten, denn für Zukunft, Fortschritt und europäisches Selbstbewusstsein zu sprechen. Doch der Eindruck täuscht. Sverige is back, Episoden dieser Art sind fast die letzten sichtbaren Symptome des alten "Schwedischen Modells".

Sverige is back

Und wenn jetzt der Euro käme? Die Frage macht in der hochpolitisierten Bevölkerung fast jeden zum Experten. Die wirtschaftlichen und sozialen Anknüpfungspunkte für die politische Argumentation sind jedoch dünn gesät. Mit einer derzeit auf 4,6 Prozent gesunkenen Arbeitslosenquote und einem geschätzten Wachstum von 4,4 Prozent in diesem Jahr liegt man an der Spitze Europas - da bleibt für zusätzliche Erwartungen kaum noch Platz. Die Haushaltsüberschüsse werden sich im laufenden Jahr auf 2,3 Prozent des BIP belaufen. Nach den schweren Einbrüchen am Arbeitsmarkt vor etwa acht Jahren nähert man sich damit fast wieder guten alten Zeiten der sechziger und siebziger Jahre, als Arbeitslosenquoten von zwei Prozent die Normalität darstellten und über vier Prozent ernsthafte Regierungskrisen heraufbeschwören konnten.

Das Comeback des Landes hat mit einem Neuaufguss des berühmten "Schwedischen Modells" allerdings nichts zu tun. Es hatte bis Mitte der achtziger Jahre dazu geführt, dass mit der "solidarischen Lohnpolitik" branchenübergreifend einheitliche Lohn- und Gehaltsstrukturen vorgeschrieben waren, der Privatwirtschaft ansonsten aber überdurchschnittlich große Spielräume blieben. Diese Produktivitätspeitsche förderte den Konzentrationsprozess, indem es speziell mittlere Unternehmen vor die Alternative Wachstum oder Konkurs stellte, große Unternehmen dagegen durch niedrige Lohnkosten begünstigte und zur Schnäppchenjagd einlud. Umfangreiche staatliche Interventionen konzentrierten sich auf eine ausgefeilte Steuergesetzgebung und eine für jeweils kurze Zeit relativ generöse Arbeitslosenunterstützung, die sehr schnell durch aktive Vermittlungstätigkeit begleitet wurde und auch vor Druck nicht zurückschreckte. Im Übrigen stand ein üppiger, gelegentlich als militant fürsorglich empfundener öffentlicher Sektor als Beschäftigungsalternative zur Verfügung.

Dieses spätindustriell orientierte Wachstumsmodell ging Ende der achtziger Jahre am eigenen Erfolg zugrunde, als traditionelle Wachstumswege ausgereizt waren, die großgepäppelten global player ihre Firmenzentralen reihenweise ins Ausland verlagert hatten, der Staatshaushalt in eine Finanzkrise schlitterte und mit dem Einzug des Informationszeitalters auf dem Arbeitsmarkt zunehmend andere Qualifikationen nachgefragt wurden. Der Nimbus der Modellgesellschaft schien verloren - Schweden ein Land unter vielen mit identischen Problemen.

"New Economy" und Online-Demokratie

Das Schwedische Modell ist tot. Es lebe ... das neue Schwedische Modell! Die Wende gelang in erstaunlich kurzer Zeit. Schon 1999 hat Schweden nach Untersuchungen der International Data Corporation (IDC) der USA den Spitzenplatz in der Welt hinsichtlich IT-Entwicklung und Internet-Reife erfolgreich streitig machen können. Das Land ist heute die am dichtesten verkabelte Nation der Welt. Die High-Tech-Expansion konzentriert sich nicht nur auf Stockholm, das nordische Silicon Valley, und ist längst nicht mehr auf das "alte" Vorzeigeunternehmen Ericsson beschränkt. Vor allem erfolgreiche Newcomer wie Framfab, Razorfish, Spray und Icon Medialab stellen die neue IT-Elite und sind mittlerweile auch auf dem Kontinent vertreten. Neue Kristallisationspunkte wie das an Dänemark grenzende Medicon Valley mit heute bereits 30.000 Beschäftigten sollen die Erfolgsstory im Biotechnologiebereich wiederholen.

Modellhaftes Herangehen wird dabei besonders in der gelungenen Symbiose zwischen hochentwickelter "New Economy" und der Nutzung moderner Medien für eine aktive Einbindung der Menschen in die Gesellschaft sichtbar. Laut IDC ist Schwedens Erfolg vor allem auf zwei Faktoren zurückzuführen. Das Land steht seit langem an vorderster Front auf Gebieten wie sozialer Infrastruktur, Ausbildung und IT-Investitionen und besitzt deshalb eines der qualifiziertesten Arbeitskräftereservoirs der Welt. Den entscheidenden Kick aber brachte in den Jahren 1998 und 1999 ein Förderprogramm, das allen Beschäftigten einen steuerbegünstigten Kauf von Computern über den Arbeitgeber ermöglichte. Parallel sorgte auch der Dachverband der Gewerkschaften (LO) dafür, dass sich 50.000 Mitglieder über ein spezielles Mietkaufmodell einen sogenannten LO-Computer anschafften. Auf diese Weise besitzen heute fast 70 Prozent der Bevölkerung einen PC - 60 Prozent der Schweden sind an das Internet angeschlossen. Das verschafft einer lebendigen Demokratie gerade in dünnbesiedelten Gegenden völlig neue Spielräume. Immer mehr Kommunen versuchen beispielsweise, ihren Bürgern die Debatten des Gemeinderates direkt über den Computer nahe zu bringen und während der Sitzung Anfragen über e-mail zu ermöglichen.

Im Lichte der Erfolge spielt den Euro-Gegnern nicht nur die aktuelle Währungsschwäche und der negative Ausgang des dänischen Volksentscheids in die Hände. Für den Sozialdemokraten Pelle Svensson, Vorsitzender im Reichstagssausschuss für Steuer- und Europafragen, ist auch die gelungene Kehrtwende ein großes Argumentationshindernis: "Wir waren in Schweden über Jahrzehnte mit unserem Sonderweg erfolgreich. Und die derzeitigen Wirtschaftsdaten scheinen vielen aufs Neue zu bestätigen, dass keine Vorteile mit einem Euro-Beitritt verbunden sind. In vielen Köpfen ist die Überzeugung verankert, wir hätten nach wie vor das beste System in Europa." Für Svensson, der ein Euro-Referendum erst deutlich nach der 2002 stattfindenden Reichstagswahl kommen sieht, ist das eine Wahrnehmungslücke. Gerade die mittelständische Wirtschaft könnte deutlich profitieren. Trotz der mit Ausnahme der Grünen und der ehemaligen Kommunisten offiziellen Pro-Euro-Argumentation aller übrigen im Reichstag vertretenen Parteien, steht jedoch die euroskeptische 60:40 Mehrheit in Meinungsumfragen felsenfest.

"Die großen Unternehmen mit ihren Zentralen im Ausland interessiert die Euro-Diskussion im Grunde nicht. In diesen Unternehmen ist der Euro längst Realität." Mit Ausnahme der Schweiz hat Schweden pro Kopf mehr Großunternehmen als jedes andere Land in Europa aufzuweisen. Vor allem sie sorgen dafür, dass schon heute 30 Prozent aller Geschäfte in Schweden auf Euro-Basis abgewickelt werden. Aufwecken muss man dagegen die kleinen und mittleren Unternehmen, die trotz des Bekanntheitsgrades der global player mit über 95 Prozent die große Masse darstellen. Mit jährlich etwa 1,6 Milliarden Schwedischen Kronen aus dem Europäischen Sozialfonds (ESF) und dem schwedischen Staatshaushalt fördern Waglund und seine Kollegen nicht nur Kommunen und Arbeitslosenprojekte, die Hälfte des Geldes der Programme "Ziel 4" und "Ziel 3" fließt gezielt in kleine und mittlere Unternehmen. Sie sollen mit der Übernahme von Qualifizierungs- und Beratungskosten aus dem Dornröschenschlaf geweckt und auf das IT-Zeitalter vorbereitet werden, müssen dafür allerdings einen professionellen Unternehmensentwicklungsplan aufstellen. Für viele der sich bislang durchwurstelnden Betriebe eine völlig neue, anstrengende, aber auch sehr positive Erfahrung mit Europa.

Europa und der Alkohol

Positive Assoziationen wie diese brauchen die mental in sich ruhenden Schweden, um Nutzen in einer stärkeren EU-Integration zu erkennen. Auch eine Lockerung der Alkoholpolitik - als Pro-Europa-Argument im Vorfeld des EU-Beitritts schon einmal erfolgreich getestet -, wäre hierbei ein spitzer Pfeil im Köcher, fällt doch die Gesamtbilanz Schwedens letztlich nicht besser als anderswo aus. Positive Ergebnisse wie eine im Vergleich zu Deutschland sehr hohe Selbstdisziplin im Umgang mit Alkohol am Steuer sind das eine. Trotz jahrelanger Bemühungen hat andererseits die gesundheitsgefährdende, aber sehr preiswerte Alternative des Schwarzbrennens vor allem auf dem Lande ihren hohen Stellenwert nie eingebüßt und steht für einen Großteil der alkoholbedingten Kosten - was regelmäßig Forderungen nach noch rigoroserem Durchgreifen nach sich zog. Immer mehr Schweden sind es in diesem radikalisierten Klima leid, im Dickicht zahlloser Vorschriften und einem durch Doppel- und Dreifachbesteuerung absurden Preisniveau schon bei normalem Konsum von Bier und Wein in die Nähe des mit allen Mitteln zu bekämpfenden Alkoholismus gestellt zu werden.

Begünstigt durch Widerstände in den eigenen politischen Lagern, traut sich bisher keine der großen Parteien, das Thema europakompatibel auf die Waagschale zu werfen. Noch bleibt etwas Zeit, erhält die beim EU-Beitritt 1995 abgetrotzte Weitergeltung der schwedischen Sonderpraxis erst ab 2004 durch die Akzeptanz der geltenden EU-Freigrenzen für die steuerfreie Einfuhr von Bier, Wein und Spirituosen erste tiefe Risse. Das Thema dann wieder vertagen zu wollen, wird kaum möglich sein. Die stille Mehrheit der Schweden hofft denn auch, dass es Brüssel gelingt, diesen gordischen Knoten irgendwann zu durchschlagen.

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