Wer erinnert sich noch an Schlingensiefs Bundestagswahlkampf "Chance 2000", bei dem Sozialhilfeempfänger in Zirkuszelten über Hürden sprangen und Arbeitslose durch massenhaftes Baden am Wolfgangsee des Kanzlers Residenz überschwemmen sollten? Vor zwei Jahren war der Arbeitsmarkt das Thema schlechthin. Die Nürnberger Statistik näherte sich allmählich der Grenze von fünf Millionen registrierten Arbeitslosen. Heute erfreut sich der Arbeitsmarkt besserer Zahlen und geringer Aufmerksamkeit. Dank Exportboom und demographischer Entwicklung waren im Mai 2000 "nur" noch 3,8 Millionen Arbeitslose gemeldet. Die "good news" beschränken sich allerdings auf den Westen. In Ostdeutschland sind zehn Jahre nach der Wirtschafts- und Währungsunion und nach fast zwei Jahren Rot-Grün noch immer 25 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung ohne regulären Job. Trotz dieser historischen Dimension verharrt die bundesdeutsche Beschäftigungspolitik in einem Zustand institutioneller Sklerose.
Überflüssige Landesarbeitsämter
Noch immer ist die Arbeitsförderung in der Bundesrepublik, was sie im Grunde schon seit Ende der siebziger Jahre war - überbürokratisiert und nur verwaltend, inhaltlich kontraproduktiv, fast durchweg wirtschaftsfern. Im europäischen Vergleich mittlerweile zur Lachnummer geworden, entzündet sich Kritik aus Brüssel regelmäßig an der Stillegungs-Philosophie des Regelwerks, die international ihresgleichen sucht, von Arbeitgebern, Gewerkschaften und Bundesregierung jedoch gleichermaßen getragen wird. Vor zehn Jahren rechneten die meisten Arbeitsmarkt-Experten mit grundlegenden Reformen, schien doch angesichts millionenfach freigesetzter Arbeitskräfte aus ehemaligen VEB wenigstens die Abkehr von altem Denken und Tun so klar wie nie. Wann, wenn nicht in einer solchen Krisensituation, sollte eine funktionsfähige, sozial faire Arbeitsförderung in Angriff genommen werden?
Zahllose Novellierungen des Arbeitsförderungsgesetzes und Anordnungen der Bundesanstalt für Arbeit hat es in der Tat gegeben - nur am Dornröschenschlaf der Arbeitsmarktpolitik haben sie fast nichts geändert. Auf der Plusseite sind einige neugeschaffene Instrumente zu nennen, die allerdings, wie der sogenannte Eingliederungsvertrag für Arbeitslose oder die Zuschüsse zu Sozialplanmitteln bei anstehenden Entlassungen, auf eine sehr geringe Nachfrage gestoßen sind. Auch die Erfolge der sogenannten "freien", das heißt je nach den lokalen Bedingungen von den einzelnen Arbeitsämtern flexibel gestalteten Förderung stehen und fallen eher mit der Risikobereitschaft von Arbeitsämtern, sich über die detaillierten Vorschriften auch mal hinwegzusetzen. Als größter Fortschritt mag da noch gelten, dass mit der Dezentralisierung der Bundesanstalt seit 1998 das Selbstverwaltungsprinzip der Arbeitsämter, bei dem Unternehmerverbände, Gewerkschaften, Landes- und Kommunalvertreter die Mittelverteilung für aktive Maßnahmen gemeinsam beschließen, nach jahrzehntelangen Alibiveranstaltungen reaktiviert wurde. - Angesichts dieser marginalen Fortschritte werden die verbleibenden Probleme um so offensichtlicher. Was soll mit den zehn Landesarbeitsämtern passieren, die "ihren" Arbeitsämtern nun nichts mehr vorschreiben können und die mit Ausnahme weniger Aufgaben zunehmend überflüssig werden wie ein Kropf? Auch hat jede der bisherigen Mini-Reformen die begleitende Papierflut an Vorschriften stets vergrößert statt entschlackt. Nach wie vor sind die im Sozialgesetzbuch III enthaltenen Bestimmungen der Arbeitsförderung und die präzisierenden Anordungen der Bundesanstalt so zahlreich und diffus, dass von den Mitarbeitern in den Arbeitsämtern bestenfalls 30 Prozent aktiv beherrscht werden. Die von der Bundesanstalt finanzierten Beschäftigungsgesellschaften und Bildungsunternehmen sehen sich umgekehrt nur als Dienstleister der Arbeitsämter und lassen in dieser lähmenden Abhängigkeit innovatives Handeln kaum noch erkennen. Noch immer bleibt auch die zentrale Finanzierungsdebatte der Arbeitsmarktpolitik ohne Lösung. Sollen bei der nächsten Krise des Arbeitsmarktes Pflicht-Leistungen wie Arbeitslosengeld und Kann-Leistungen wie Qualifizierung und Beschäftigungsmaßnahmen wieder aus demselben Topf kommen, bleibt für die Kann-Leistungen erneut gerade dann am wenigsten übrig, wenn dringender Handlungsbedarf besteht. Die lange Zeit diskutierte Umstellung auf eine breitere Steuerfinanzierung scheint jedoch vom Tisch. Schließlich ist auch eine faire Neuordnung der Verantwortung zwischen Bund, Ländern und Kommunen überfällig, da die schleichende Verschiebung finanzieller Beiträge auf die unteren Ebenen bis heute in keiner Novelle Niederschlag gefunden hat.
Olympiareife Schwimmer
Zusammen mit einer verfehlten inhaltlichen Grundphilosophie sorgt all dies für eine Pattsituation, die nicht durch Änderungen an einer einzigen Stelle aus den Angeln gehoben werden kann. Auch Matthias Knuth vom Gelsenkirchener Institut für Arbeit und Technik, unbestrittener Star des "arbeitsmarktpolitischen Konferenzzirkus", sieht vor allem grundsätzlichen Veränderungsbedarf und bespöttelt die deutsche Arbeitsmarktpolitik als "Modell Bademeister". Knuth: "Wir werfen in Deutschland erst einmal alle Arbeitskräfte in das kalte Wasser des Arbeitsmarktes hinein. Der staatlich geprüfte Bademeister registriert am Rande genau, wer alles wieder an die Oberfläche kommt. Wer lange genug nicht aufgetaucht ist, der braucht ganz offenbar Unterstützung, auf den konzentrieren sich die Hilfsangebote mit einem Schwimmkurs."
Die Absurdität des Ansatzes zeigt sich nicht nur darin, dass erwiesenermaßen nur wenige der zuvor in Langzeitarbeitslosigkeit "Ertrunkenen" zu olympiareifen Schwimmern entwickelt werden können. Allein die bewusst wirtschaftsfern ausgerichteten und mit schwindenden Mitteln untersetzten Förderinstrumente wie Arbeitsbeschaffung (ABM) und Strukturanpassung (SAM) sorgen schon dafür, dass oft nur Trockenübungen ohne Kontakt zum "Wirtschaftswasser" stattfinden dürfen. Notwendig wäre dagegen ein Fördersystem, das der Differenziertheit des Phänomens Arbeitslosigkeit Rechnung trägt und mit einem neuen Mix von Instrumenten Angebot und Nachfrage am Arbeitsmarkt weit besser zusammenbringen kann. Knuth plädiert für die Entwicklung einer arbeitsmarktpolitischen Infrastruktur von Beratung und Förderung, die es Menschen - ähnlich wie im Falle von Eheberatungen, ärztlichen Behandlungen oder juristischen Hilfsangeboten - ermöglicht, während des gesamten Erwerbslebens jederzeit auf ein breites Spektrum spezieller Dienstleistungen zurückzugreifen, ohne durch das Zugangskriterium Arbeitslosigkeit stigmatisiert zu werden.
Knuths Vier-Säulen-Modell beginnt bei der Situation "Gefährdung": Bei langer Betriebszugehörigkeit, fortgeschrittenem Alter oder bei einseitigen, betriebsspezifischen Qualifikationsabschlüssen sollen noch im Beschäftigtenstatus Hilfsangebote zur Verfügung stehen. Diese Ebene wird bisher in der Bundesrepublik ausschließlich mit wenigen EU-finanzierten Projekten abgedeckt. Die zweite Säule "Bedrohung" sollte Angebote bereithalten, wenn Arbeitslosigkeit im Sinne einer schon ausgesprochenen Kündigung mit feststehender Restlaufzeit des Arbeitsvertrages droht. Patenmodell sind die in Österreich mit Erfolg laufenden Arbeitsstiftungen. Bis auf die schwach nachgefragten, weil kaum Anreize vermittelnden Sozialplanzuschüsse der Bundesanstalt gibt es bisher für diesen zweiten Problembereich in Deutschland kaum Angebote. Die dritte Säule beginnt mit Maßnahmen, die beim unmittelbarem Eintritt der Arbeitslosigkeit ansetzen, also dann, wenn Reintegrationschancen noch am ehesten bestehen - zum Beispiel mittels beruflicher Entwicklungspläne. Erst bei der vierten Säule steht im Vordergrund, worauf sich deutsche Arbeitsförderung inhaltlich und finanziell bis heute fast ausschließlich konzentriert: Beschäftigungshilfen für Langzeitarbeitslose.
Ob jedoch gerade Walter Riester die Arbeitsförderung mit solchen Vorschlägen aus ihrem Dornröschenschlaf wach küssen kann, darf bezweifelt werden. Zur Erinnerung: Die rot-grüne Bundesregierung trat 1998 mit dem Ziel an, die längst überfällige Reform der Arbeitsförderung zum Jahresbeginn 2000 umzusetzen. Das wurde zunächst auf Anfang 2001 verschoben, doch auch für diesen Termin ist es längst zu spät. Bis heute existiert im Bundesarbeitsministerium noch nicht einmal ein Referentenentwurf zum einem neuen Sozialgesetzbuch III. Um nicht ganz als Kaiser ohne Kleider dazustehen, lässt Riester seinen Abteilungsleiter Buchheit auf öffentlichen Veranstaltungen Alternativen andeuten. Doch was ist davon zu halten, wenn ein Abteilungsleiter mangels offizieller Rückendeckung gehalten ist, interessante Vorstellungen, wie eine Vereinheitlichung von Lohnkostenzuschüssen, eine allgemeine Regelförderung für Jobrotations-Modelle oder die Umstellung bürokratischer Zuwendungen auf Dienstleistungsverträge als ganz persönliche Meinung zu verkaufen?
Nicht wenige vermuten deshalb, dass Riester die selbst auferlegte Prinzenrolle in dieser Legislaturperiode nicht mehr antritt, um ein für alle Seiten unberechenbares Thema nicht in den Wahlkampf hineinzuziehen. Schließlich kann er sich mit der ewigen Rentenfrage vier Jahre ganz gut beschäftigen. Und wenn die statistisch erfasste Arbeitslosigkeit bis zum Wahltermin 2002 aufgrund glücklicher konjunktureller Umstände oder durch altersbedingtes Abtauchen älterer Arbeitsloser in die Rentenkasse weiter zurückgeht, ist eine grundlegende Reform kaum noch zu erwarten.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.