Ein unmoralisches Angebot

Zwangsrente für ALG II-Bezieher Der erreichte Kompromiss beim Auslaufen der "58er Regelung" für den Vorruhestand verlangsamt die Altersarmut lediglich

Der Kabarettist Bruno Jonas brachte das finale Stadium beim Rückzug des Staates aus der Rentenversicherung vor Jahren wie folgt auf den Punkt: Die Relation zwischen zu finanzierenden Rentnern und arbeitender Bevölkerung sei ja bekannt, statt staatlich umverteilter Rentenbeiträge solle doch jeder die auf ihn entfallende Zahl von Rentnern privat finanzieren. Zum "Rentnerkauf" wäre dann jedermann verpflichtet. Der Wert - sprich: die "Restlaufzeit" solcher Rentner - würde nach gesundheitlicher Verfassung und erreichtem Alter variieren, die Preisbildung laufend über einen speziellen Börsenhandel erfolgen. "Kurzläufer" wären für Käufer besonders attraktiv - weil es beide Seiten schon bald hinter sich hätten.

Zugegebenermaßen ist man in der großen Koalition von solcher Praxis noch weit entfernt, bei der Entstaatlichung der Rente aber um eine forsche Gangart bemüht. Lange Zeit in der Öffentlichkeit fast unbeachtet, offenbart die Ende 2005 erfolgte zweijährige Verlängerung der so genannten "58er-Regelung" beim Arbeitslosengeld erst jetzt ihre ganze Brisanz, da sie nach dem Willen der Regierungskoalition lange Zeit nicht nochmals gestreckt werden sollte. 1986 zu Beginn der Ära Kohl eingeführt, galt seither: Wer im 58. Lebensjahr seinen Job verlor und sich bei den Arbeitsämtern freiwillig als "nicht mehr verfügbar für den Arbeitsmarkt" einstufen ließ, bekam fast drei Jahre Arbeitslosengeld und konnte sich zwischen 60 und 65 in den Vorruhestand verabschieden. In dieser Zeit gab es zwar Abschläge, mit Erreichen des Pensionsalters aber die volle Rente. Das schönte nebenbei auch die Arbeitslosenstatistik.

Viele Firmen missbrauchten den Mechanismus, um auf Kosten der Beitragszahler ihr Personal für höhere Renditen abzubauen. Zuletzt nahmen jährlich 300.000 ALG I-Empfänger die "58er-Regelung" in Anspruch. Sie konnten damit wählen, ob sie weiter vom Arbeitsamt gefördert werden oder lieber mit ALG I ohne spätere Rentenabschläge in den Vorruhestand gehen wollten. Seit zehn Jahren freilich ist dieser Vorruhestand auch mit Rentenkürzungen verbunden - nicht zuletzt, weil das reguläre Renteneintrittalter sukzessive auf 67 Jahre angehoben wird.

Wäre es beim ersatzlosen Auslaufen der "58er-Regelung" zum Jahreswechsel geblieben, hätte das für Hunderttausende von Betroffenen empfindliche Konsequenzen heraufbeschworen. Sie wären mit 58 Jahren nach Ablauf ihres ALG I-Bezuges automatisch den mit Hartz IV geltenden Regeln für ALG II und damit dem "Bedürftigkeitsprinzip" unterworfen worden. Dies besagt, es gilt eine Nachrangigkeit des ALG II-Bezugs gegenüber Ersparnissen, Einkünften der Bedarfsgemeinschaft - und gegenüber bis dato erworbenen Rentenansprüchen. Ab Neujahr 2008 hätten demnach ALG II-Bezieher, die das 60. Lebensjahr vollenden, von den Arbeitsgemeinschaften zwischen Arbeitsagenturen und Kommunen (ARGEN) oder den 69 in Alleinregie arbeitenden Kommunen (Optionskommunen) zwecks Einsparung von ALG II-Leistungen zum vorzeitigen Renteneintritt gezwungen werden können. Bei Rentenabschlägen um 0,3 Prozentpunkte pro Monat wären unter Umständen bis zu 18 Prozent des geltenden Rentenanspruchs verloren gegangen. Und das für den Rest ihres Lebens.

Nach massiven Protesten von Sozialverbänden, Gewerkschaften sowie Grünen und Linkspartei im Bundestag hat sich die große Koalition in der vergangenen Woche nun dazu durchgerungen, ihre Taktik des Aussitzens dieser Enteignung zu beenden. Die vom neuen Arbeitsminister Olaf Scholz umgehend als großer Kompromiss und allen Ernstes als "beruhigende Vorweihnachtsbotschaft" gefeierte Regelung sieht nun vor, ab Januar 2008 derartige Zwangsrenten für ALG II-Empfänger erst ab Erreichen des 63. Lebensjahrs verordnen zu können. Der Kurswechsel in letzter Sekunde mag einerseits ein schöner Beweis dafür sein, dass sich öffentlicher Druck auf Politik und Administration noch immer lohnen kann. Andererseits wurde damit lediglich das Tempo der Rentenkürzung verlangsamt und die zunächst einkalkulierte Zahl von fast 400.000 Betroffenen verringert.

Da die in Frage kommende Gruppe oft durch jahrelange Arbeitslosigkeit ohnehin wenig "Rentenpunkte" angesammelt hat, verschafft der maximale Rentenabschlag von "nur noch" 7,2 Prozent einem 63-jährigen Zwangsrentner noch immer einen erheblichen Schub in Richtung Altersarmut.

Denn es bleibt dabei, dass nach dem 1. Januar 2008 ARGEN und Optionskommunen die in Frage kommenden ALG II-Empfänger auffordern müssen, vorzeitige Rentenanträge zu stellen, wenn sie zuvor erklärt haben, dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung stehen zu wollen. Reagieren sie nicht, werden die Rentenanträge von Amts wegen gestellt.

Über Wochen hinweg hatte die CDU keinen Zweifel gelassen, dass für sie die verordnete Rente bestenfalls ein kosmetisches Problem sei. In der Regel - so Ralf Brauksiepe, arbeitsmarktpolitischer Sprecher der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion - sei es für die Betroffenen besser, von der gekürzten Rente als mit Hartz IV zu leben. Populistisch professionell wird man wenige Monate nach Beginn der neuen Regelung der Öffentlichkeit gewiss eine Mehrheit freiwilliger Übertritte in die dekretierte Altersarmut präsentieren. Wenn Entbehrung gegen Not aufgerechnet werden kann, hat man am Ende leichtes Spiel. Außerdem lässt sich in der jeweiligen Kommune ja immer noch mit Sozialhilfe aufstocken.

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