Magdeburger Hochtief

Sportplatz Kolumne

Glaubt man Adorno, gibt es kein richtiges Leben im falschen. Das gilt für Hans Meyer, DDR-Trainerlegende und mit Nürnberg aktueller DFB-Pokalsieger, auch beim Fußball. Denn zumindest langfristig, so Meyer vor Monaten auf die Frage nach den Perspektiven des Fußballs im Osten, werden sich erfolgreiche Klubs nur in den Regionen behaupten, in denen ein Mindestmaß an industrieller Basis vorhanden ist. Oder nach Deindustrialisierung verblieben ist, um es mal auf den Punkt zu bringen. Meyer arbeitet im Westen.

Wenn Energie Cottbus jetzt wochenlang den Klassenerhalt der 1. Bundesliga feiert oder Hansa Rostock wieder mal aufsteigt, um erneut Abstiegskandidat Nr. 1 zu sein, ist das die Ausnahme. Gleiches gilt für den Fakt, dass in diesem Jahr unter den 18 Mannschaften der 2. Bundesliga die ostdeutschen Klubs aus Aue und Jena nicht abgestiegen sind. Doch wenn die Dinge am Sonnabend glücklich laufen, müsste Adorno-Meyer so langsam vom Tisch. Man kann eigentlich nur hoffen, dass der Mannschaft bis zum Sonnabend die Lektüre dieses Artikels verweigert wird. Denn mit dem 1. FC Magdeburg, im Herbst gerade erst in die Regionalliga aufgestiegen, steht eine Mannschaft kurz vor dem Aufstieg in die 2. Bundesliga, die damit aus der Nachwendeversenkung auftauchen und eine lange Kette von Peinlichkeiten der Vereinsführung vergessen machen könnte. Nur noch ein abschließender Heimsieg gegen Tabellenführer St. Pauli, der den Aufstieg schon in der Tasche und hoffentlich so lange gefeiert hat, dass man ihn mit all dem Restalkohol im Blut ab der 60. Minute überrennen kann.

Soweit der Schlachtplan. Gegen über 18 Prozent offizieller Magdeburger Arbeitslosigkeit im April. Gegen die konstant hohe Zahl der "Hartz-4-Haushalte" in der Stadt. Gegen den langen schwarzen Schatten der industriellen Vergangenheit, der sich bis heute auf die Gemüter vieler Menschen legt. Nein, ein Aufschwung, gar eine Rückgewinnung industrieller Basis mit deutlichem Beschäftigungszuwachs sieht anders aus.

Gehen die neu erwachten Hoffnungen einer ganzen Stadt und ihres Umlands dennoch auf, schafft mit Magdeburg die einzige Mannschaft den Wiederaufstieg in bundesweite Wahrnehmung, der während der DDR-Zeit ein Europacupgewinn (1974) glückte. Heimspiele gegen Sporting Lissabon, Bayern München, Schalke und Eindhoven hatte man nicht vergessen, wenn man Jahrzehnte später auf die aktuelle Tabelle schaute oder der Mannschaft Mitte der neunziger Jahre missmutig bei Auswärtspunktspielen auf Potsdamer Dorfackern zusah. Auch wenn der Erfolg nach dem letzten DDR-Meistertitel 1975 nach und nach zurückging. Es waren goldene Jahre für eine Stadt, die Auswärtige mit geschlossenen Augen schon auf dem Bahnhof am Geruch erkannten und deren wenige nach dem Bombenkrieg verbliebene barocke Häuser mit in immer kürzeren Abständen erfolgenden Farbanstrichen einen aussichtslosen Kampf gegen Ruß und Dreck führten. Magdeburg spielte in der DDR mit seiner Wirtschaftsstruktur als "Zentrum des Schwermaschinenbaus" in einer völlig eigenen Liga. Heute muss man suchen, um noch Industrie zu finden. Frühere Stadtoberhäupter versuchten nach der Wende, sich angesichts dieses Dilemmas als "Stadt der Rosen" neu zu erfinden - die schiere Verzweiflung.

Ging man früher über eine der Brücken zum Stadion, kroch einem eine Mischung in die Nase, die ich als olfaktorischen Heimatreflex noch Jahre nach der Wende vermisst habe, als die Elbe schon wieder ein Fluss wie alle anderen war. Seit den frühen Neunzigern hielt die Farbe an den Häusern, aber Größenwahn und Unfähigkeit der Vereinsführung verhinderten den Erfolg erster sportlicher Trotzreaktionen. Im Jahr 2000 besiegte man als Viertligist im DFB-Pokal immerhin Köln, Bayern München und Karlsruhe, um erst gegen Schalke 04 mit einem 0:1 unglücklich auszuscheiden. Nur wenig später wurde trotz Aufstieg in die Regionalliga die Lizenz vom DFB verweigert, weil man aus Verträgen mit Ex-Managern und Trainern aus Bielefeld, Lamm und Middendorp, nicht herauskam, der Sponsor Kinowelt im Strudel des Neuen Marktes unterging.

Der Spagat zwischen gestern und heute prägt die Atmosphäre im neuen Stadion, in Freud´scher Verarbeitung des Clubsiechtums vor einem halben Jahr ausgerechnet von der Firma Hochtief fertig gestellt. Konnte man Zuschauer viele Jahre zuvor fast persönlich begrüßen, findet man derzeit abseits der dauersingenden Fankurve oft ein merkwürdiges Beieinander. Ältere Herrschaften mit müden, von Nachwende und Hartz gezeichneten Gesichtern erzählen Geschichten und schwärmen mit leuchtenden Augen, neben ihnen sitzen Söhne und Enkel. Und etliche Ehefrauen schauen staunend zu, weil sie diese Augen schon fast vergessen hatten.


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