Peinliche Rasterfahndung

SCHEINSELBSTÄNDIGKEIT Auch in dieser Frage zeigt sich Rot-grün überfordert

Angst essen Seele auf. In der rot-grünen Regierungsmannschaft gibt man sich mit den Peinlichkeiten rund um die 630-DM-Jobs nicht zufrieden. Nun verspricht auch das rückwirkend zum Januar verabschiedete Gesetz zur Bekämpfung der Scheinselbständigkeit zu einem Mehrakter zu werden. Nicht nur von der Opposition, sondern auch aus den eigenen Reihen kam massive Kritik. Aber selbst die Versuche des Wirtschaftsministers und des Kanzlers, Arbeitsminister Riester für Veränderungen des Gesetzes zu gewinnen, blieben im Angesicht drohender Rücktrittsgerüchte bisher erfolglos. Den Arbeitsminister packt offenbar die Angst, auch bei diesem Gesetz durch immer neue Kurskorrekturen öffentlich vorgeführt zu werden. Gegenwärtiger Kompromiß: Korrekturen gibt es keine, dafür soll eine kurzfristig einzuberufende Expertenkommission die in der Praxis tatsächlich auftretenden Mängel bewerten und erst dann begründete Änderungsvorschläge unterbreiten.

Angesichts dieses Theaterdonners vergißt man leicht, worum es eigentlich geht. Seit Beginn der achtziger Jahre haben neue Produktionskonzepte, sich in der Praxis auflösende Berufsbilder und ein spürbar gestiegener Flexibilitätsbedarf das klassische Normalarbeitsverhältnis immer stärker zurückgedrängt. Im Gegenzug ist eine neue Kategorie von Erwerbstätigen entstanden, die formell selbständig sind, in ihrer unmittelbaren Tätigkeit aber sehr viel mehr abhängige als selbständige Momente auf sich vereinen - Scheinselbständige eben. Wie viele es sind, weiß niemand genau. Von der amtlichen Statistik werden sie nicht erfaßt.

Allerdings brachten die vor Arbeitsgerichten anhängigen Verfahren in den vergangenen Jahren immer neue Absurditäten ans Tageslicht. Kellnerinnen, die das frisch gezapfte Bier an der Theke käuflich erwerben, um es dem Gast ein paar Meter weiter zu verkaufen. Kraftfahrer, die von ihrer früheren Firma zum Erwerb oder Leasing teurer LKWs gedrängt werden und die gewohnte Arbeit fortan auf eigenes Risiko verrichten. Ehemals fest angestellte Verkäuferinnen in Warenhäusern, die jetzt als »shop-in-shop« zu überhöhten Preisen bei festgelegten Lieferanten einkaufen und wöchentliche Nutzungsgebühren für ihre Verkaufsfläche zu zahlen haben. Freiberuflich arbeitende Schlachter, die im Akkordtempo, aber auf eigene Rechnung Fleisch zerlegen und im Arbeitsalltag nicht von ihren »normal beschäftigten« Kollegen zu unterscheiden sind. Nicht selten ergeben vertraglich geschickt vorgeschriebene Umsatz- und Kostenbeteiligungen per Saldo ein Einkommen, das unterhalb des üblichen Lohns für derartige Tätigkeiten liegt. In Berlin zeigt sich zudem die europäische Dimension des Problems: circa 10.000 rechtlich selbständige Bauarbeiter, vor allem aus Irland, Portugal und Großbritannien.

Die mit dem neuen Gesetz weiterhin bestehende Möglichkeit, den Arbeitnehmerstatus gegenüber dem Unternehmen einzuklagen, wurden in der Vergangenheit selten genutzt, wenngleich die große Mehrheit der Versuche vor Gericht Erfolg hatte. Zu groß war die Angst, einen eventuellen Prozeßmarathon nicht durchstehen zu können und das Familieneinkommen durch Vertragskündigung aufs Spiel zu setzen. Zu verlockend andererseits auch die Perspektive, die unbefriedigende Situation durch harte Arbeit zu überwinden.

Die neuen Regelungen versuchen nun, mit Hilfe von vier Kriterien Scheinselbständigkeiten aus der bunten Vielfalt selbständiger Existenzen herauszufiltern. Wer keine Mitarbeiter sozialversicherungspflichtig beschäftigt, im wesentlichen nur für einen Arbeitgeber arbeitet, weisungsgebunden in die Arbeitsorganisation eines Arbeitgebers eingeordnet ist und, viertens, nicht selbst am Markt unternehmerisch (etwa durch Werbung) auftritt, hätte alle Kriterien erfüllt. Laut Gesetz reichen allerdings bereits zwei, um den Tatbestand der Scheinselbständigkeit zu begründen. Rückwirkend würden Ansprüche an die Sozialversicherung entstehen, für die jedoch ebenso nachträglich eingezahlt werden müßte - im Extremfall bis zu vier Jahre rückwirkend.

Bei voller Anwendung des neuen Gesetzes werden viele abhängige Selbständige ihren derzeitigen Status nicht halten können. Da aber derartige Tätigkeiten von den Firmen offenbar gebraucht werden, spricht einiges dafür, daß - nach einer Übergangsphase - die Mehrzahl dieser Arbeiten tatsächlich in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen rückverwandelt werden. Insofern wäre der Sinn des Gesetzes erfüllt.

Dennoch ist die Kritik an den Neuregelungen nicht aus der Luft gegriffen. Zunächst ist unklar, warum derart neue, mit gravierenden Umstellungen für die Betroffenen verbundene und in der Sache verdienstvolle Regelungen auch hier wieder rückwirkend zum Jahresanfang in Kraft gesetzt wurden. Die jetzt entstehende Hektik und Orientierungslosigkeit wären vermeidbar gewesen. Zweitens bleibt die Notwendigkeit europäischer Regelungen, besonders im Baubereich, eine bis auf weiteres nicht zu schließende Flanke. Vor allem aber ist das »zwei aus vier«-Prinzip viel zu schematisch, um einer sich täglich verändernden Arbeitswelt gerecht werden zu können. Entsprechend leichtes Spiel haben die Unternehmerverbände: Rot-grün kriminalisiere 350.000 Selbständige. Eine in der Größenordnung überzogene, aber wirksame Polemik.

Wenn die Berechnungen des politisch unverdächtigen Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung stimmen, finden sich bei strenger Gesetzesauslegung nun 180.000 Selbständige in der Illegalität wieder, deren Status bisher niemand ernstlich anzweifelte: Handelsvertreter, viele Architekten, Berater von Anwaltskanzleien, Jounalisten und andere Medienarbeiter, EDV-Berater, Übersetzer. Ebenso wären viele Existenzgründer betroffen, die gerade in der schwierigen Startzeit weder weitere Personen beschäftigen noch eine Vielzahl von Auftraggebern vorweisen können.

Nun wird niemand dem Gesetz ernstlich unterstellen wollen, fortan auch diese Tätigkeiten als scheinselbständig zu deklarieren. Dennoch hat die Kritik einen sehr realen Kern. Die an einen Supermarkt erinnernde Vorstellung, bereits heute buntschillernde Arbeitsverhältnisse zunächst grobzurastern und sie dann nur noch über den Scanner des Arbeitsrichtertischs ziehen zu müssen, um so ein zutreffendes Urteil zu erhalten, ist schematisch und realitätsfern. Aber auch das andere Extrem hilft wenig. Gerade das Schicksal der 630-DM-Jobs zeigt, daß auch mit dem traditionell sozialdemokratischen Mut zum Detail nicht alle denkbaren Varianten präzise einzufangen und schon gar nicht zu vermitteln sind. Mögen also nun die Experten sprechen - eine weise Entscheidung einer überforderten Regierung.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden