Mit zwei argumentativen Geschützen haben die Standortfetischisten früherer Tage jahrelang die Öffentlichkeit bearbeitet: Zu hoch sind die Steuern, zu unflexibel ist der Arbeitsmarkt. Seit einigen Monaten herrscht Funkstille. Mit Recht. Denn Rot-Grün ist dabei, das vorgegebene Programm abzuarbeiten. Beim Thema Steuern äußert die Kapitalseite inzwischen nur noch Kritik im Detail. Aber auch der Arbeitsmarkt wird von der Bundesregierung zunehmend in die gewünschte Richtung gelenkt. Zum einen mit der Green Card: Die Zufuhr von Arbeitsplatz-Konkurrenten wird die Gehaltsentwicklung der gesamten IT-Branche dämpfen. So hält man die Hochqualifizierten unter Druck. Aber auch am anderen Ende des Arbeitsmarktes werden Fakten geschaffen: Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit entstehen die Fundamente eines politisch organisierten Niedriglohn-Sektors.
Vor knapp einem Jahr begann die Geschichte mit einer herben Niederlage. Die Wissenschaftler Rolf Heinze und Wolfgang Streeck, Mitglieder der im Rahmen des Bündnisses für Arbeit agierenden Benchmarking-Gruppe, hatten in einem Gutachten vorgeschlagen, der Staat solle die Sozialversicherungsbeiträge von Geringverdienern zahlen, und zwar bis zu einer Einkommensgrenze von 1.500 Mark vollständig und bis zu einer Grenze von 2.800 Mark mit einem stetig fallenden Anteil. Senkung der von den Unternehmen zu zahlenden Lohnkosten und entsprechend stärkere Nachfrage nach Arbeitskräften, ohne die Nettoeinkommen der Beschäftigten zu reduzieren - das war die Idee. Doch dieser Denkansatz hatte gegen die Doppelkritik von konservativer und gewerkschaftlicher Seite keine Chance. Viel zu teuer für den Bundeshaushalt, sagten die einen. Ein trojanisches Pferd für das deutsche Tarifgefüge, sagten die anderen.
Während die beiden Wissenschaftler noch heute ihre Wunden lecken, hat die Praxis den Stand der Debatte allerdings schon längst überholt. Schröders Trick: Was in eigener Regie nicht durchzusetzen ist, sollen die Länder ausprobieren. So schlägt die Bundesregierung drei Fliegen mit einer Klappe: Keine eigene Verantwortung, Praxistest für verschiedene Varianten und die normative Kraft des Faktischen, die dafür sorgt, dass der Prozess nicht mehr aufzuhalten ist, sofern die Experimente nur lange genug andauern. So wird demnächst Arbeitsminister Riester 100 Millionen Mark für neue Pilotprojekte in fünf Bundesländern zur Verfügung stellen. Am Beispiel der bereits existierenden Modellvorhaben von Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Schleswig-Holstein wird der Spannungsbogen deutlich, in dem sich die Niedriglohn-Experimente bisher bewegen.
ÖBS in Meck-Pomm
Der in Schwerin mitregierende PDS-Arbeitsminister Holter gibt den bespöttelten Part des ewiggestrigen Etatisten. In der Tat ist Mecklenburg-Vorpommerns Modell des "Öffentlich finanzierten Beschäftigungssektors (ÖBS)" gewöhnungsbedürftig. Mit "gemeinwohlorientierten Arbeitsförderprojekten" versucht Holter umzusetzen, was akribische Parteiwissenschaftler 1997 als bundespolitisches Konzept der PDS erdachten. "Uns geht die Arbeit aus und wird doch immer mehr" - der bereits im Titel anklingende Fatalismus ist auch in der Praxis spürbar, wenn mit dem ÖBS, neben dem ersten und zweiten, nun auch noch ein dritter Arbeitsmarkt aufgemacht wird. Der Wiedereinstieg in "reguläre" Erwerbstätigkeit wird von vornherein als Illusion verworfen. Langzeitarbeitslose sollen sich stattdessen mit längerfristigen Projekten den Problemen ihres jeweiligen Gemeinwesens, dem Umweltschutz und ähnlichen Diensten widmen.
Auch wenn die fast 300 Beschäftigten, die der ÖBS derzeit umfasst, kaum das Beschäftigungsproblem mildern und die eigenen Ziele deutlich verfehlt wurden, gibt es dennoch positive Impulse. Im Unterschied zum überregulierten zweiten Arbeitsmarkt (ABM) sollen tatsächliche "gesellschaftliche Bedarfe" als Grundlage der Förderung dienen. Bürokratische Regelungen der Arbeitsämter finden keinen Platz. Projekte werden lehrbuchhaft von unten nach oben abgestimmt. Der entscheidende Haken des ÖBS aber bleibt: Da jeglicher Anspruch, solche Projekte mit privatwirtschaftlicher Beschäftigung zu verzahnen, fallengelassen wird, gerät der ÖBS unweigerlich wieder in die Nähe des von seinen Protagonisten als untauglich bezeichneten zweiten Arbeitsmarktes. So mutieren die ÖBS-Ideale allmählich wieder zur gewöhnlichen ABM-Praxis. Das ist um so bedauerlicher, als es in vielen EU-Ländern erfolgreiche und nachahmenswerte Ansätze gibt, Langzeitarbeitslose nicht nur mit Lohndumping in reguläre Arbeit zu bringen.
TAURIS in Sachsen
Sachsen versteht es besser, den eigenen Beschäftigungsfatalismus mit einer Aura der Modernität zu umgeben. Die mittlerweile in fünf Modellregionen laufende Landesinitiative TAURIS stützt sich auf das 1997 veröffentlichte Gutachten der bayerisch-sächsischen Zukunftskommission. An die Überlegungen der Kommission zum umstrittenen Thema Bürgerarbeit anknüpfend, hält TAURIS drei Varianten bereit - für Langzeitarbeitslose, die älter als 50 Jahre sind. Variante A ("Trans-Fair") versucht die Zielgruppe zur Aufnahme ehrenamtlicher Tätigkeit zu motivieren, und zwar bis maximal 14 Stunden in der Woche und kostenneutral, denn neben der Arbeitslosen- oder Sozialhilfe zahlt das Land keinen Pfennig dazu.
Variante B ("Trans-Fair Plus") bleibt in diesem Stundenrahmen, aber hier zahlen regionale Koordinierungsstellen aus Landesmitteln monatlich 150 DM, die mit dem Sozialeinkommen nicht verrechnet werden. Mittlerweile verdienen 500 Personen ihr Zubrot mit dieser Variante. Die sächsischen Arbeitsämter haben darauf sofort reagiert: Sie unterstellen, dass die nach Variante B beschäftigten Personen nicht mehr für eine Vermittlung auf dem regulären Arbeitsmarkt zur Verfügung stünden. Die passiert sowieso nicht mehr, kontert Sachsens Wirtschaftsminister Schommer, der den Arbeitsämtern auf diese Weise gleich noch vormacht, wie man die individuellen Kosten der Arbeitsförderung verringert, denn auch hier unterscheiden sich die billigen TAURIS-Projekte kaum von vielen ABM-Inhalten.
Den eigentlichen Sturm der Entrüstung erlebte Sachsen jedoch, als Variante C ("Trans-Fair-Einkommen") umgesetzt werden sollte. Angeführt vom DGB protestierte die Sächsische Armutskonferenz gegen den Versuch, zwischen Unternehmen und Teilnehmern der Variante C Teilzeitarbeitsverträge abzuschließen - mit einer Vergütung, die sich an den Unterstützungsleistungen orientiert und damit weit unterhalb üblicher Löhne bleibt. Vor allem die Gewerkschaften sehen dies als Schritt hinein ins Billiglohnwunderland und als Beleg dafür, dass TAURIS, entgegen öffentlicher Bekundung, eben doch in die Erwerbsarbeit hineinreichen soll. Auch wenn der Protest groß genug war, um die Umsetzung der Variante C einstweilen zu blockieren, sind bereits in Kürze neue Probleme mit Variante B absehbar. Wenn im Sommer, wie vorgesehen, die Kommunen den 150 DM-Zuschlag teilweise aus eigener Tasche zahlen müssen, werden sie vielleicht der Versuchung erliegen, bisher "normal" bezahlte Pflichtaufgaben der Kommune ganz nach Variante B neu zu organisieren, so billig wie noch nie und unter dem kleidsamen Mantel von Ehrenamt und freiwilligem Engagement.
Elmshorn in Schleswig-Holstein
Vergleichsweise akzeptabel gerät das von der Schleswig-Holsteinischen Landesregierung protegierte "Elmshorner Modell" im gleichnamigen Arbeitsamtsbezirk. Zwar hat man bis Ende 1999, zur Hälfte der Projektlaufzeit, nur 50 Langzeitarbeitslose in Arbeit gebracht, liegt damit aber nach wenigen Monaten schon voll im Plan. Im Unterschied zu Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern setzt Schleswig-Holstein nicht auf die These vom Ende der Erwerbsarbeit.
Die 50 Personen haben überwiegend unbefristete Arbeitsplätze in kleinen und mittleren Unternehmen erhalten, die freie Arbeitsstellen oft gar nicht melden. Ein Drehtüreffekt - reguläre Arbeitskräfte raus, subventionierte rein - wird dadurch vermieden, dass regionale Unternehmen vorab beim Aufbau von kunden- oder betriebsnahen Dienstleistungen und bei der Personalauswahl beraten werden, wobei das Land die Beratungskosten trägt. Die Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitgeberseite zahlt, wie im Gutachten der Benchmarking-Gruppe vorgeschlagen, zwölf Monate lang das Arbeits- oder das Sozialamt. Nach erfolgreichem Testlauf in Elmshorn soll das Modell in den nächsten drei Jahren mit jeweils 100 Millionen Mark Landesgeld auch auf andere Regionen ausgedehnt werden.
Auch wenn die Entwicklung dieser und anderer Modelle zur Schaffung eines Niedriglohnsektors bei weitem nicht abgeschlossen ist, lassen sich schon jetzt zwei Schlüsse ziehen. Zum einen zeigt die Spannweite der betrachteten Modelle, wie groß der praktische politische Spielraum im Umgang mit demselben Problem sein kann. Andererseits zeigen die genannten Beispiele, dass die Auswahl und Verbreitung positiver Erfahrungen einer stärkeren Gesamtregie bedarf. Hier sollte es nicht Sache der Länder sein, die bislang fehlenden bundespolitischen Vorgaben durch eigene Bemühungen zu kompensieren. Genau das aber scheint das rot-grüne Kalkül zu sein: Was wir nicht auf direktem Wege schaffen, wächst chaotisch, aber doch wirksam von unten heran.
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