Kleine Familienunternehmen sind die schwierigste Kundengruppe. Wenig Geld auf dem Konto, Buchhaltung und Lohnabrechnung macht abends die Ehefrau. Auch die wenigen großen Unternehmen in Ostthüringen machen so was natürlich selbst." Was bleibt rings um Gera an potenziellen Kunden noch übrig? Wenn Iris Wiegand (38), eine von bundesweit 164.000 Ich-AG´s, alle zwei Wochen versucht, 20 bis 30 neue Firmen per Werbebrief von ihren Leistungen zu überzeugen, fragt sie sich das oft selbst. Geschieden und alleinstehend mit zwei schulpflichtigen Kindern in der 64 Quadratmeter großen Wohnung, ist das Leben nicht leicht.
Die Ich-AG ist für Iris Wiegand schon der zweite Versuch, sich mit Unterstützung der Agentur für Arbeit selbstständig zu machen. Beim ersten Mal wurde das sogenannte Überbrückungsgeld bewilligt. Aber schon nach kurzer Zeit scheiterte die Kooperationsgemeinschaft mit einer früheren Kollegin. Die Arbeitsteilung funktionierte nicht. Wer trotz eines solchen Fehlschlags und anschließender Arbeitslosenhilfe die Kraft zu einem Neustart findet, entspricht so gar nicht dem allseits gepflegten Image des Jammerossis, der endlich mal die Ärmel hochkrempeln müsste. Iris Wiegand hat ohnehin weder Zeit noch Nerven, sich darüber aufzuregen. Niederlagen schnell abhaken, nicht lange nachgrübeln - diese Woche lief das "Geschäft" ja einigermaßen. Zwei volle Tagwerke in einem Autohaus in Gera: der Absatz koreanischer Billigautos läuft gut, und für die anfallenden Abrechnungen kann man schon einmal einen externen Dienstleister gebrauchen. Dann ist da noch die Karosserieinstandsetzung, alles weitere freilich nur Kleckerkram oder Glückssache.
An den Nerven zerrt auch die Zahlungsmoral der Kunden. Einige wechseln ihre Auftragnehmer ganz einfach, wenn die Rechnung gestellt wird. Sie wissen, dass sie am längeren Hebel sitzen. Lohnt es sich dann, hat man die Kraft, auch kleineren Beträgen juristisch, womöglich gerichtlich hinterher zu laufen? Oft genug bleibt für Iris Wiegand als finanzieller Anker nur ein gemeinnütziger Jugend- und Arbeitsförderverein, dessen Verwaltungsarbeit sie unterstützt. Bringt finanziell nicht viel, aber vielleicht, so sagt sie sich, ist gerade dieser Kundenkontakt später Gold wert. Denn Iris Wiegand, im Mai 2003 der bundesweit erste Förderfall des damals neuen Instruments Ich-AG, muss an ihre Zukunft denken. Und die beginnt spätestens im Juni 2006, wenn die drei Jahre finanzieller Förderung vorbei sind.
Monatlich 600 Euro im ersten, 360 Euro im zweiten und 240 Euro im dritten Jahr - mit dieser Anschubfinanzierung wollte Wolfgang Clement 300.000 neue Jobs schaffen und den "verkrusteten und mittelstandsfeindlichen Standort" von unten in Bewegung bringen. Die vollmundig verkündete Joblawine hatte im September schon zur Hälfte ihre Ziel erreicht, und doch reagierte der Wirtschaftsminister nach kurzer Euphorie über die dynamische Entwicklung der Fallzahlen verschnupft. Das Imperium der mutmaßlichen ALG II-Verlierer war ihm in die Quere gekommen und leistete kreativen Widerstand. Denn nicht nur Büroserviceanbieter wie Iris Wiegand, Kleinhändler aller Couleur, Kurierdienste, Reinigungs- und Hilfsdienste sind entstanden. Nein, seit Bekanntgabe der entwürdigenden Konditionen für die fusionierte Arbeitslosen- und Sozialhilfe gibt es auch einen merkwürdigen Zuwachs selbstständiger Philosophen, freischaffender Dichter, von Einkaufsberatern, Lebenshelfern und von Auslaufassistenten für Hunde und Katzen - keine Idee war zu dumm, um nicht von Clements Agenturen als Ich-AG mit wirtschaftlicher Perspektive gefördert zu werden.
Unbürokratische, pauschale, schnelle Förderzusagen - damit hatte man geworben, aber im Stillen wohl gehofft, die Sache würde nicht allzu sehr ausufern. Dennoch kam es wie es kommen musste: Nach Expertenschätzungen dürften etwa 25 Prozent aller gegenwärtig geförderten Ich-AG´s einzig und allein dem Zweck dienen, den Bedarfsprüfungen und Leistungsstreichungen des ALG II zu entgehen und die ab 2005 beginnenden Hausbesuche zu vermeiden. Scheinbar ohne großes Risiko - wenn es nicht klappt mit der Ich-AG, muss man die Fördergelder nicht zurückzahlen, und man kann anschließend noch die Reste zuvor erworbener Ansprüche auf Arbeitslosengeld geltend machen.
Als im September die Nürnberger Bundesagentur für Arbeit flächendeckende Ausweichmanöver einräumte, reagierte Clement missmutig wie ein ertappter, entzauberter und ausgetrickster Scharlatan. Ganz nebenbei entblößte sich die ganze Scheinheiligkeit des Wundermittels Ich-AG. Im Oktober reagierten die Arbeitsagenturen erstmals auf den neuen deutschen Gründergeist: Nur mit fachkundiger Stellungnahme einer dritten Seite sei ein Antrag förderfähig. Seit November werden zusätzlich sowohl ein "Businessplan" als auch eine Rentabilitätsvorschau verlangt. Und ab Januar 2005 sind ALG II-Empfänger bis auf wenige Ausnahmen von dem Förderinstrument Ich-AG gänzlich ausgeschlossen.
Die "Erfolgsstory Ich-AG" offenbart das Spiel mit individuellen Existenzen, das von der rot-grünen Arbeitsmarktpolitik so zynisch wie dilettantisch inszeniert wird. Bei einer dreijährigen Gesamtförderung von 14.400 Euro pro Ich-AG sind momentan 2,4 Milliarden Euro gebunden. Gäbe es tatsächlich Beratung, fachkundigen Beistand und Qualifizierung, hätte eine nennenswerte Zahl von Gründern wohl eine Chance. Wenn aber elementare Grundregeln für den Start einer selbstständigen Existenz verletzt werden, sind nicht nur öffentliche Subventionen schlecht angelegt. Viel schlimmer sind die absehbaren Lebenskrisen, die im Interesse einer bereinigten Arbeitsmarktstatistik billigend in Kauf genommen werden.
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