Hamburg, im Oktober 2015. Erstmals steht ein Gewerkschaftstag der IG Metall ganz im Zeichen des demographischen Faktors. Die Tagungsregie bietet eine Mischung aus katholischer Kirche und Beate Uhse. Einmütig und mit dem Segen des Papstes beschließen die Delegierten den Ausbau der gewerkschaftlichen Schwangerenberatung: "Leben fördern - Basis stärken". Um die antriebsarme Mitgliedschaft in Bewegung zu bringen, werden die neuesten Animationsprodukte kostenlos verteilt. Und zwischendurch immer wieder Liveschaltungen auf RTL 2.
Dass dieses Szenario nicht ganz so absurd ist wie es erscheint, dafür sorgt im Moment der IGM-Chef Klaus Zwickel. Setzt sich der Vorsitzende der größten Industriegewerk schaft der Welt mit den Plänen einer Frühverrentung ab 60 Jahren durch und bleiben alle üb rigen Barrieren auf dem deutschen Arbeitsmarkt bestehen, kann in etwa 20 Jahren nichts mehr ausgeschlossen werden. Denn etwa zu diesem Zeitpunkt entfaltet der demo graphische Knick, der die deutschen Schulen schon längst erreicht hat, seine ganze Proble matik auf dem Arbeitsmarkt. Eine radikale Kehrtwende wäre Pflicht der Stunde.
Der neuerliche Vorstoß Zwickels, mit dem nach seinen Berechnungen in fünf Jahren mehr als eine Million Arbeitsplätze neu besetzt werden könnten, setzt die bundesdeutsche Tradition fort, Beschäftigungsprobleme mit Stillegungsprämien lösen zu wollen. Das simple Schema "Alt raus - jung rein" kann aber bestenfalls die Mechaniker in den eigenen Reihen überzeugen. Tarifliche Beschäftigungspolitik greift ideenlos nun schon seit Jahr zehnten pauschal am Ende des Arbeitslebens an. Goldene Handschläge erfreuen sich durch ihre unkomplizierte Abwicklung allseits großer Beliebtheit. Mit dem Bergbau sowie der Metall- und Elektroindustrie an der Spitze können ganze Generationen davon ausgehen, ihr Arbeits leben weit vor dem normalen Rentenalter zu beenden. Der vorzeitige Renteneintritt und der Ausfall von Lohn steuern und Sozialabgaben machten die immer neuen Frühverrentungsrunden zum teuersten Instrument am deutschen Arbeitsmarkt. Am Ende droht die Balance vollständig zu kippen: Eine schrumpfende Zahl von Erwerbstätigen trägt ein ständig steigendes Volumen fälliger Lohnersatzleistungen.
Vor haben in der von Zwickel angestrebten Dimension sind damit nicht nur aus finanziellen Gründen wenig sinnvoll. Sie sind vor allem unter dem Gesichtspunkt mittelfristig angelegter Beschäftigungspolitik kontraproduktiv. Gerade die am Arbeitsmarkt erfolgreicheren EU-Mit glieder zeigen, dass ein breites und jederzeit aktivierbares Erwerbspersonenpotential den be sten Rahmen für wirtschaftliche Entwicklung bietet. Ein Arbeitsmarkt muss atmen können. In Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs muss er die Arbeitsplätze ohne große Reibungsverluste besetzen, in Krisen die Einsatzfähigkeit und Qualifikation des Arbeitskräftepotentials bewah ren. Ausschlaggebend für den Erfolg einer solchen Gesamtstrategie ist die Pflege von "Übergangsarbeitsmärkten", die immer wieder gezielte Transfers zwischen dem Kernbereich der Erwerbsarbeit und beschäftigungspolitischen Zwischenlösungen unterstützen.
An diesem Maßstab gemessen, offenbart die bundesdeutsche Beschäftigungsförderung ihre ganze Ärmlichkeit. Übergangsarbeitsmärkte? Fehlanzeige! Man braucht hier gar nicht das vor wenigen Wochen veröffentlichte Gutachten der EU-Kommission zu bemühen, das den ehe maligen Musterschüler aufgrund des Festhaltens an Frühverrentungsmodellen nur noch ein Ranking im unteren Drittel der EU zustand. Viel anschaulicher wirkt der Selbstversuch, wo bei man im europäischen Kollegenkreis zunächst die Grundsätze deutscher Beschäftigungs förderung erklärt und anschließend stets auf ein höflich irritiertes Lächeln stößt. Nach kurzer Pause trifft fast jede Nachfrage mitten ins Schwarze.
Kein Zweifel, die deutsche Beschäftigungspolitik, die vor allem auf die Reduktion des Arbeitsangebots setzt, ist absurd. Strukturelle Probleme wie Segmentation und Undurchlässigkeit geraten so erst gar nicht in den Blick. Schon wer als Jugendlicher nicht schnell in Erwerbsarbeit hineinrutscht, bleibt immer öfter draußen. Und wer sie irgendwann verlässt, hat wenig Rückkehrchancen. Wohl nirgends sonst in Industrieländern ist das Prinzip des "they never come back" so deutlich zu besichtigen. Staatliche Beschäftigungspolitik greift meist erst dann, wenn Langzeitarbeitslose kaum mehr integrierbar sind. Projekte werden um so problemloser genehmigt, je weniger sie ein Rückfahrticket in die Wirtschaft bieten könnten. So verkommt Beschäftigungspolitik zur wirkungslosen Sozialarbeit.
Dieses Missverständnis prägt auch die Diskussionslinien linker Politik. Unter der Oberfläche der Gerechtigkeitsdebatte herrscht im Grunde Fatalismus pur. Niemand, so scheint es, traut sich öffentlich, das noch vorhandene System sozialer Absicherung in ein schlüssiges, für die Betroffenen faires, sie aber auch forderndes Trampolin zu verwandeln. Die instinktive Gleichsetzung von Modernisierung und neoliberalem Denkansatz ist falsch und peinlich. Warum nicht an einem Höchstmaß an sozialer Gerechtigkeit festhalten und trotzdem - oder besser: gerade deshalb - die Übergänge von und aus Beschäftigung weit wirksamer und fairer gestalten. Wo bleiben die Anreizsysteme, um Überstundenabbau mit Beschäftigungsaufbau zu verbinden? Warum unterbleibt die flächendeckende Förderung von Jobrotations-Modellen, die Reintegration von Arbeitslosen mit der Arbeit an Qualifikationsengpässen der Belegschaften verbinden? Wo sind die auf die Bundesrepublik zugeschnittenen Varianten der angelsächsischen "welfare-towork"-Ansätze, die keineswegs nur Druck erhöhen, sondern mit oft immensem Aufwand die Reintegrationschancen derjenigen verbessern, die sonst überhaupt nicht mehr erreicht werden können? Wo bleibt die Bereitschaft, das kaum angeris sene und schon wieder vom Tisch gefegte Modell einer Subventionierung niedrig-qualifizierter Tätigkeiten für den privaten Sektor fair zu prüfen?
Eines ist sicher: Die am Bündnistisch ver sammelte Altersweisheit - an Jahren oft schon jenseits des von Zwickel vorgeschlagenen Alterslimits - ist kaum in der Lage, Notwendigkeit und Chancen solcher Maßnahmen überhaupt zu erfassen. Für diesen Personenkreis hätte die Zwickelsche Stillegungsprämie durchaus ihren Sinn. Für den Rest der Gesellschaft taugt sie nicht. n
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.