Kamerateams auf dem Bahnsteig. Der Zug fährt ein, Blitzlichtgewitter, die Kapelle spielt, surrende Kameras, Applaus beim Aussteigen junger, williger Arbeitskräfte." Nein, das ist keine aktuelle Meldung - die Reportage vom Kölner Hauptbahnhof am 10. September 1964 schildert, wie ein Zug mit "eingeladenen Arbeitskräften" einrollt. "Obwohl bereits jetzt viele Menschen keine Arbeit haben, mehr als eine halbe Million Stellen offen sind und die geburtenschwachen Jahrgänge gerade kommen, behaupteten die Arbeitgeberverbände, dass die ausländischen Arbeiter nötig seien, damit die Wirtschaft weiter wachse", heißt es weiter.
Wenn sich Geschichte nicht nur als Tragödie, sondern auch als Farce wiederholt, sind die Arbeitgeberverbände im Sommer 2007 auf gutem Wege, eine solche aufzuführen. Laut Bundesregierung soll die Wirtschaft in diesem Jahr um 2,3 Prozent wachsen und es bald nur noch 3,5 Millionen Arbeitslose geben. Es könnte noch viel besser laufen, klagt BDA-Präsident Dieter Hundt seit Wochen in die Kameras - Fachkräftemangel bremse den Aufschwung. Prompt überschlagen sich die Zahlen: Die Wirtschaftsverbände sprechen von mindestens 40.000 deshalb "nicht besetzten Stellen". Nach Angaben von Bitkom, des Branchenverbandes der Technologieunternehmen, gibt es augenblicklich 20.000 "schwer besetzbare Stellen". Das Bonner Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) glaubt, in zehn Jahren würden in Deutschland etwa 200.000 Ingenieure fehlen. Nach einer Studie der Brandenburger Landesregierung von 2006 wird eine schrumpfende Mark bis 2010 gut 100.000 Fachkräfte brauchen, aber nicht haben - und noch fünf Jahre weiter sollen es gar 200.000 sein. Wer bietet mehr?
Green Card für alle
Wenn der Aufschwung derart bedroht sei, müsse man Tabus brechen und einfach mehr billige "Fachkräfte" ins Land lassen, insistieren die Arbeitgeberverbände, denen bekannt sein dürfte, dass sich im Herbst das Bundeskabinett mit den Themen Spezialistentransfer und Arbeitsmigration beschäftigt. Wirtschaftsminister Glos (CSU) spricht offen aus, dass die "gesteuerte Zuwanderung von Fachkräften aus anderen Ländern auf die Tagesordnung" gehört. Bildungsministerin Schavan (CDU) macht sich die Arbeitgeberforderung zu eigen, die gesetzlich geregelte Untergrenze für das Jahreseinkommen qualifizierter Zuwanderer aus Nicht-EU-Staaten von jetzt 83.000 auf 40.000 Euro zu drücken.
Völlig geräuschlos vollzieht die Union einen Richtungswechsel. Fielen noch 2005 die Vorschläge der Süssmuth-Kommission für eine halbwegs bedarfsorientierte und steuerungsfähige Arbeitsmigration unter den Tisch, verlangt man heute mit der Halbierung der Einkommensgrenze nichts anderes als die Green Card für alle, die mit etwa 3.300 Euro brutto im Monat bezahlt werden sollen. Damit landet man in Westdeutschland bei den mittleren Gehältern für Facharbeiter.
Wie will man es plausibel begründen, mit einer solchen Migrationspolitik genau jene Arbeitskräfte nach Deutschland zu holen, die mit einer von der Entwicklungspolitik forcierten Umkehr des Brain Drain zum Verbleib in ihren verarmten Heimatländern ermuntert werden sollen? Warum hört man von den Protagonisten dieser "Gastarbeiterinitiative" nichts zum Thema Reintegration ausländischer Arbeitskräfte? Wie steht es überhaupt um den Mangel an Fachkräften?
Selbst wenn die eingangs zitierten Zahlen ungeniert aufgebauscht sind - es fällt den Unternehmen im Moment schwerer als in den Jahren zuvor, schnell und billig qualifizierte Arbeitsnehmer aus einem Überangebot zu rekrutieren. Zwar dokumentiert die Arbeitslosenstatistik eine relativ hohe Zahl potenzieller Bewerber, doch hat eine im EU-Vergleich äußerst hohe Langzeitarbeitslosigkeit dafür gesorgt, dass bei vielen der Qualifikationsstatus nur noch auf dem Papier steht. Im Osten sehen sich zudem viele Firmen damit konfrontiert, ihre demnächst in Rente gehenden Belegschaftsteile nicht adäquat ersetzen zu können, weil die meisten "Nachwuchskandidaten" abgewandert sind und die Zahl der Schulabgänger rapide sinkt.
Ist das schon eine Wachstumsbremse? Das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) brachte mit seinem regelmäßig ausgewiesenen "Betriebspanel" jüngst etwas mehr Klarheit in die Debatte: Zwar spielte 2006 der Standortfaktor "Qualität des Fachkräfteangebots" für 90 Prozent aller Unternehmen eine mehr oder weniger wichtige Rolle, aber nur acht Prozent gaben an, durch fehlende Arbeitskräfte tatsächlich eingeschränkt zu sein - weit gravierender mache sich ein zu geringes Auftragsvolumen bemerkbar.
Andererseits bildet derzeit nur jeder dritte Betrieb aus, obwohl fast 60 Prozent dazu die formalen Voraussetzungen besitzen, das heißt: Faktisch die Hälfte aller Firmen, die sofort etwas gegen das Defizit an Fachkräften tun könnten, tun es nicht - und das schon seit Jahren.
Wer also trägt die Verantwortung für den Ausbildungsnotstand? Wer hat all das qualifizierte Personal aus Gründen des shareholder value entlassen, das nun wieder gebraucht wird - möglichst mit einem geringeren Einkommen als früher? Warum schrauben viele Betriebe seit Jahren die Weiterbildungsetats zurück? Wo sind bis auf wenige rühmliche Ausnahmen all die Firmen, die Bewerbern über 50 eine Chance geben und nicht dem Jugendwahn verfallen sind? Wer trägt durch jahrelanges Vernachlässigen der Bafög-Förderung, durch Studiengebühren und schlecht ausgestattete Universitäten die Verantwortung für eine in der Breite ungenügende Hochschulausbildung? Gleiches ließe sich zu den Schulen sagen.
Und wer, wenn nicht die Arbeitgeberverbände in den Entscheidungsgremien der Bundesagentur für Arbeit haben - in trauter Eintracht mit einschlägigen Forschungsinstituten - dafür gesorgt, dass Fortbildung und Umschulung in den Arbeitsagenturen praktisch mehr und mehr als exotischer Luxus verschrieen sind, auf dass die Überschüsse auch 2007 auf Milliardenhöhe steigen?
Eine Zündapp-Mokick Sport Combinette
Seit mehr als 15 Jahren propagieren Wirtschaftsfunktionäre, Unternehmer und ihre Lobbyisten, all die Umstrukturierungen und Kostenreduzierungen seien gewiss schmerzhaft, machten aber "fit für die Zukunft". Nun ist die Zukunft da, und viele Unternehmen stellen überzeugend unter Beweis, wie wenig sie darauf eingestellt sind: hektisches Flügelschlagen und großes Kino. Anstatt durchgreifende Korrekturen zu veranlassen, wird nach mehr Personal aus dem Ausland gerufen. Das ist zu billig und zu einfach, um ernsthaft als politische Strategie begriffen zu werden. Sollte sich trotz ernster Vorbehalte in der SPD die Union im Schulterschluss mit den Wirtschaftsverbänden im Herbst durchsetzen, lohnt der Blick zurück. Auch wegen kostengünstiger Prämien, die einmal üblich waren.
Das mediale Spektakel auf dem Kölner Bahnhof im September 1964 galt dem Portugiesen Armando Rodrigues de Sá, der als Millionster "Gastarbeiter" gefeiert wurde. Als Willkommensgeschenk gab es eine Zündapp-Mokick Sport Combinette und einen Blumenstrauß. Damit reiste er noch am selben Tag weiter zu seinem Arbeitgeber, der Baufirma Epple in Stuttgart. Kein Mensch hat danach noch etwas von ihm gehört.
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