Eine Entgegnung auf "Was aus Zappelphillip wurde"

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Der Teil 9 der "Berichte aus dem Dunklen" von Götz Eisenberg zeigt schonungslos und offen, was unserer Gesellschaft Kinder wie Kevin wert sind.

Von Anfang an abgelehnt

Kevin ist kein Wunschkind gewesen, es passierte einfach. Dieses Schicksal teilt er mit vielen anderen Altersgenossen. Kevin aber bekam von seiner Geburt an keine menschliche Wärme, seine Mutter lehnte ihn emotional ab, er sollte spüren, dass er ungewollt war. Damit, von Begin seines Lebens an, begannen seine Probleme. Nicht Kevin war es, der diesen "leeren Blick" und eine emotionale Unerreichbarkeit wollte, nein, es waren seine Eltern, denen er dies zu "verdanken" hat. Wer sein Kind " unseren Blödmann" nennt, demonstriert eigene emotionale Unerreichbarkeit, die er auf das wehrlose Kind überträgt. Wie aber soll sich ein Kind, das sich nie als Persönlichkeit angenommen fühlt, gegen übermächtige Erwachsene, von denen es abhängig ist, wehren? Kevin tat das, was er konnte, er reagiert mit übertriebener Lebhaftigkeit.

Gesellschaftliches Versagen

Hier setzt nun ein Kreislauf ein, aus dem es für Kevin kein Entkommen mehr gab. Die Diagnose "Hyperaktivität" stigmatisiert ihn, drängt ihn weiter in ein Abseits. Aus einer zu diesem Zeitpunkt noch relativ leicht behandelbaren "Aktivitäts - und Aufmerksamkeitsstörung " entwickelt sich, durch das Nichteingreifen jetzt geforderter Erwachsener, eine " Störung des Sozialverhaltens mit emotionaler Symptomatik". Die Reaktion darauf ist so stereotyp wie falsch, es wird Ritalin verordnet. Dieses Medikament ist ein Standardmedikament bei fachärztlich diagnostiziertem Aufmerksamkeits Defizit Syndrom (ADS) oder Aufmerksamkeit Defizit Syndrom mit Hyperaktivität (ADHS). Im Verbund mit Ergotherapie, Verhaltenstherapie, einer langen fachärztlichen Begleitung durch ausgebildetete Kinderneuropsychiater und einer helfenden Unterstützung durch dem Kind emotional nahestehende Menschen ist Ritalin durchaus in der Lage, diese Kinder zu befähigen, ihr Leben trotz der Erkrankung so zu gestalten, dass sie ihre Fähigkeiten und Talente entfalten können. Bei Kevin wurde Ritalin aber nur eingesetzt, um ihn ruhig zu stellen. Dies hat nicht eines seiner Probleme gelöst, es hat diese im Gegenteil nur verstärkt.

Vergebene Alternativen

Wa wäre eine Alternative gewesen? Was brauchte Kevin zuallererst uund was forderte er mit seinen begrenzeten Möglichkeiten ein? Eine Pflegefamilie, die ihm ein intaktes soziales Umfeld bietet, wo er lernt, sich an Regeln zu halten, aber gleichzeitig als Persönlichkeit ernst genommen wird, wäre eine Alternative gewesen. Dies ist in Deutschland auch möglich, ohne dass die leiblichen Eltern das Erziehungsrecht verlieren. In einer vertrauensvollen Kooperation zwischen Jugendamt, behandelnden Ärzten, betreuenden Therapeuten, der überforderten Mutter und den Pflegeeltern hätte Kevin damals ein Nest gebaut werden können, ein Nest der emotionalen Wärme, nach der er sich immer gesehnt und die er nie erhalten hat. Das wäre auch für den Staat immer noch preiswerter gewesen als die folgenden Heimaufenthalte. Was aber noch wichtiger ist, die Sozialprognose wäre deutlich besser gewesen, Kevin hätte eine Perspektive aufgezeigt werden können.

Die Perspektiven

Statt dessen drehte sich der Kreislauf weiter. Kevin verstrickt sich immer mehr in seinen Problemen, er findet keinen Ausweg, sucht Hilfe in Drogen und Alkohol und gerät auf die schiefe Bahn. Auch hier ist die Antwort so stereotyp wie falsch. Kinder -und Jugendpsychiatrie helfen ihm nicht weiter, der Aufenthalt in Schweden genau so wenig. Was ihm immer noch fehlt, ist Anerkennung , die er sich mit Aktionen wie dem Karton mit dem fingierten Milzbrand oder später mit dem Legen dreier Brände verschaffen möchte. Es ist ein Schrei nach Hilfe, hier bin ich, bitte, helft mir, ich kann nicht mehr so leben. Doch statt Hilfe erlebt er Repression des Staates, die ihn schließlich in die Wahnvorstellungen eines Söldners in Afghanistan oder eines Komapatienten treiben. Der Kreislauf bleibt geschlossen, eine Perspektive wird ihm nie aufgezeigt, obwohl es mehr als einmal die Möglichkeit dazu gegeben hätte. Dass Kevin selber erkennt, dass er krank ist, zeigt doch, dass er seine Situation realistisch einschätzt. Anstatt hier anzusetzen, seine Bereitschaft zu nutzen und ihm Perspektiven anzubieten, erlebt der Junge Stereotypen, wie sie der Staat seit Jahrzehnten einsetzt.

Die Schlussfolgerungen

Das Beispiel Kevin zeigt ein dramatisches Versagen. Es zeigt, wie notwendig es ist, neue, unkonventionelle Wege einzuschlagen. Eine Aufwertung der gesellschaftlichen Stellung von Pflegeeltern, die neben ihren eigenen Kindern auch Kinder aufnehmen, die aus gemeinhin problematisch genannten Elternhäusern stammen, ist dringend geboten. Eine fachliche Weiterbildung von Mitarbeitern der Jugendämter ist genau so notwendig wie eine Abkehr davon, " hyperaktive " Kinder mit Medikamenten lediglich ruhigzustellen. Sicherlich bedeutet dies ein Aufbrechen verkrusteter Denk und Verhaltensmuster , Muster, die sich jahrzehntelang eingeschliffen und in dieser Zeit nur marginal verändert haben. Kinder wie Kevin haben aber auch ein Recht auf eine schöne, erfüllte Kindheit. Nur weil sie keine Wunschkinder sind und ihre Eltern sie emotional ablehnen, darf ihnen dieses Recht nicht genommen werden. Eine Gesellschaft, die Kinder wie Kevin stigmatisiert und ausgrenzt, verdient das Prädikat " kinderfreundlich" nicht.

Ein Fazit

Dieser Artikel war für mich der bisher intensivste aus der Reihe "Berichte aus dem Dunklen". Wenn er bewirken würde, dass unsere Gesellschaft, wir alle , darüber nachdenken, wie wir Kindern wie Kevin das ermöglichen, worauf jedes Kind Anspruch hat, eine glückliche Kindheit, wäre schon viel gewonnen. Wer mit Erwachsenen spricht, die in Kinderheimen aufgewachsen sind, wofür es viele Gründe gibt, bis hin zum Tod der Eltern durch Unfälle, wird immer wieder eines hören. "Es gab eine materielle Sicherheit, aber die emotionale Wärme hat gefehlt". Gelänge es uns, mehr Kinder beispielsweise in Pflegefamilien aufwachsen zu lassen, würde so mancher Erwachsene von seiner Kindheit anders sprechen. Wäre das nicht etwas, wofür es sich zu streiten lohnt?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

rolf netzmann

life is illusion, adventure, challenge...but not a dream

rolf netzmann

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden