Es hat geregnet bis in die Morgenstunden hinein, die so still sind, das man die Stille zu hören glaubt. Die Erde riecht feucht, und Gota ist aufgestanden. Unter einem abgestellten Truck liegt noch die Decke, mit der er sich die Nacht über zugedeckt hat. Zehn Tage schon übernachtet er im Freien. Draußen zu schlafen, das ist besser, als im Heim Purísima sein zu müssen, besser als von den Erziehern geschlagen zu werden.
Die Guten bleiben nicht lange in Purísima, sagt Gota. Im Winter habe man vier Monate lang die sanitären Anlagen nicht benutzen können. Mittlerweile gebe es wenigstens Decken zum Schlafen.
Sechs Meter hoch
Purísima ist das Jugendauffanglager von Melilla, früher gehörten die Gebäude zu einem Militärfort. Bis zu 120 Jugendliche sind in spartanisch möblierten Vierbettzimmern untergebracht, auf einem der Türme am Rand des Geländes weht das Gelb-Rot Spaniens. Todo por la patria, steht auf dem Tuch. Alles für das Vaterland!
Melilla, das sind 20 Quadratkilometer Spanien im Norden Marokkos, eine europäische Enklave in Afrika - ein Außen- und Vorposten der Europäischen Union, den ein zwölf Kilometer langer Stacheldrahtzaun schützt und einkesselt. Wer auf seiner Flucht aus Marokko, Mauretanien, Mali, der Westsahara oder woher auch immer diesen Transitraum betreten will, vor dem türmen sich Grenz-, besser: Befestigungsanlagen, die inzwischen bis zu sechs Meter hoch sein können. Tausende versuchen es trotzdem, diesen europäischen Hochsicherheitstrakt zu betreten, viele Minderjährige darunter.
Gota ist heute 16, irgendwann im Jahr 2000 kommt er nach Melilla. Was folgt, sind quälende Jahre in Purísima, gelegentliche Fluchten und die regelmäßige Rückkehr dorthin. Aus eigener Kraft gewollt. Von fremder Hand erzwungen.
Als ich ihn am nächsten Tag besuchen will, ist er nicht unter seinem LKW, der etwa einen Kilometer von Purísima entfernt ein abgewracktes Dasein fristet. Ich rufe nach ihm. Keine Antwort. Ich laufe zum Heim und um das Lager herum. Ein Wächter weist mich zurück. Eine offizielle Erlaubnis, Purísima zu besuchen, gibt es nicht. Dieses Gelände sei ein gefährlicher Ort, wird mir gesagt, ich solle lieber gehen. Den Menschen hier sollte man nicht trauen.
Aber ich lasse mich nicht vertreiben und spreche über den Zaun hinweg mit einigen der Insassen, frage nach Gota. Alle zucken mit den Schultern. Im Heim sei er nicht. Weit könne er auch nicht sein.
Schließlich finde ich ihn - etwa 15 Minuten Fußmarsch vom Gelände des einstigen Forts entfernt auf einem von Unkraut bewachsenen Hügel aus Bauschutt und Müll. Seine Freunde Faisal und Said sind bei ihm. Zehn Euro, die ich Gota schenke, wechseln in Sekunden den Besitzer. Es wird diskutiert und geteilt. Wir sind viele, entschuldigt sich Said. Es gibt wenig Gelegenheiten, Geld zu verdienen. Sobald sich eine bietet, wird sie genutzt.
Gota und Said führen mich durch das Niemandsland am Rande von Melilla. Brachen, Abfall, Lumpen, ausgeschlachtete Autos und freie Sicht bis nach Marokko, der Grenzzaun lässt sich gut erkennen. Sie zeigen mir eine verlassene Villa, mehr eine Ruine, vor Jahren noch seien dort viele Straßenkinder untergekommen.
Ja, auch viele Kinder lockt Melilla. Sie schwimmen nachts im Schutz der Dunkelheit übers Meer, um die Patrouillen zu umgehen oder schmuggeln sich auf anderen Wegen über die Grenze. Werden sie in der Enklave aufgegriffen, bringt sie die Polizei auf direktem Wege in das Auffanglager außerhalb der Stadt. Es sei denn, sie haben es zuvor in die verwilderte Villa geschafft.
Ein ewiges Nichts
Gota war neun Jahre alt, als er sich unter einem Truck versteckte, um von Beni Anzar in Marokko nach Melilla zu kommen. Es war eine Entscheidung von Sekunden, sagt er. Ich habe mich auf die Achse zwischen den Hinterrädern des Trucks geklemmt. Damit mir nicht schwindelig wurde, durfte ich nicht auf die Straße schauen. Sie flog unter mir hindurch. Ich hatte ständig Angst, herunterzufallen.
Er fährt 300 Kilometer in diesem Versteck. Andere Kinder gelangen auf diese Weise von Marokko bis nach Nordspanien.
In seiner Heimatstadt Ouijda hat Gota auf der Straße Tabak verkauft, um seine Familie finanziell zu unterstützen. Er musste, erinnert er sich, gleichzeitig arbeiten und zur Schule gehen und habe schon mehr auf der Straße gelebt als bei seinen Eltern. Zu verlieren hatte er nichts. Es sei nur wichtig gewesen, Geld für die Familie heranzuschaffen. Also konnte man seine Karten genauso gut auf Europa setzen, auch wenn es das reine Glücksspiel war.
Wird ein Minderjähriger in Melilla aufgegriffen, hat die spanische Administration laut Gesetz neun Monate Zeit, um die Familie in Marokko oder einem anderen Herkunftsland ausfindig zu machen und einen Flüchtling um der Familienzusammenführung willen zurückzuschicken. Gelingt dies nicht, folgt die Einweisung ins Heim. Das bedeutet, Purísima bis Vollendung des 18. Lebensjahrs. Wer danach eine Arbeitsstelle vorweisen kann, erhält eine Aufenthaltserlaubnis und reguläre Papiere. Die einzige Hoffnung für Gota und seine Freunde, ihr einziger Lebensinhalt.
Der ganze Tag besteht aus einem ewigen Nichts, sagt Gota, das Leben besteht aus Warten - Warten bis du endlich 18 bist.
Danach entscheidet sich, ob sie es geschafft haben oder nach Marokko zurückgebracht werden. Manche warten nicht, bis es soweit ist, sondern tauchen vorher im Stadtviertel La Cañada unter, wo viele ohne Ausweis und Papiere leben, wo Drogenhandel, Diebstahl und Prostitution den Alltag bestimmen und die Polizei in sicherer Entfernung bleibt.
Gota trägt trotz der Hitze einen Pullover mit langen Ärmeln. Er will nicht, dass man die Narben an seinen Armen sieht. Früher hat er sich manchmal mit Glasscherben die Haut aufgeritzt. Der Schmerz habe für einen Augenblick alles vergessen lassen. Die Aufseher im Heim, die Verachtung, das Warten, die Mutlosigkeit.
Faisal baut einen Joint
Die spanischen Bewohner Melillas, die Steuervergünstigungen und gute Gehälter für ihr Inseldasein entschädigen, mögen die jungen Marokkaner nicht. Wenn es den Marokkanern zu gut geht, das spricht sich rum. Später bringen sie ihre ganze Familie hierher, heißt es. Gota und Said meiden das Zentrum der Stadt mit seinen sandfarbenen Bürgerhäusern und Kolonialbauten und halten es lieber mit den Ruinen und Brachen rings um Purísima.
Wir wandern zu einer langen, verlassenen Betonröhre, angenehm kühl schützt sie vor Sonne und riecht nach Fäkalien. Drinnen stehen Campingstühle und ein Ghettoblaster. Treff im Tunnel. Wir trinken Pfefferminztee, hören amerikanischen Rap und marokkanischen Pop und reden viel. Faisal baut inzwischen einen Joint, die Hauptbeschäftigung der Jungen. Sie kiffen oder verkaufen fertig gedrehte Joints für einen Euro. Um den Stoff zu finanzieren, handeln sie mit allem, was man aus Purísima mitgehen lassen kann: Shampoo, Seife, Handtücher ...
Ayoub kommt dazu, gibt die Hand und lässt sich in einen Stuhl fallen. Bald hat er seinen 18. Geburtstag hinter sich und hofft bis dahin auf die einzige Nachricht, die zählt. Er hofft, in einem Café von Melilla als Kellner anfangen zu können. Das brächte die begehrte "Residencia" und die Erlaubnis, direkt nach Spanien zu gehen und für ein Café an irgendeiner Strandpromenade zu arbeiten, redet sich Ayoub in Stimmung. Auch Faisal träumt von Arbeit, möglichst in Madrid, vielleicht in einem Hotel. Er wäre gern Elektriker. Wenigstens hat er im Hilfsprojekt des Lehrers José Palazon den Platz für eine sechsmonatige Lehre ergattert.
Gota will nicht nach Spanien, er schwärmt von Dänemark. Dort soll es Arbeit geben, und die Leute seien freundlich. Er will ein Auto, eine Uhr und eine Sonnenbrille. Vorerst wird er noch einen Joint rauchen, um später unter seinen Truck zu kriechen und dort zu schlafen. Er hat Angst. Die Polizei könnte ihn aufgreifen und in einem Auto direkt nach Marokko abschieben, ohne viele Worte zu machen, kurzer Prozess. Marokkanischen Jugendlichen, die draußen schlafen, passiert das gelegentlich. Dann würde die Reise von vorn beginnen, sagt Gota. Der Hafen von Tanger ist voll von Kindern, die auf ihre nächste Chance warten.
Als ich ein paar Tage später wieder nach ihm suche, finde ich Gota nicht mehr. Wo ich auch frage, niemand weiß, wo er ist. Keiner hat ihn gesehen.
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