Hier ist alles Energie

Gehen Der Mensch ist für 30 Kilometer Gehen am Tag konstruiert. Pilgern nach Santiago de Compostela setzt eine Bewegung frei, die nie wieder aufhört

Sonntags morgens um 7.00 Uhr. Ein nebliger, regnerischer Tag. Ab heute gehöre ich zu der imaginären Gruppe, genannt Pilger. So unterschiedlich die Gründe dieser Reise für jeden Einzelnen sein können, ähnliche Motive sind doch die Grenzüberschreitung, Selbstfindung, Neuanfang, Nachdenken. Zum Nachdenken ist in den ersten Tagen keine Zeit. Als gäbe es einen Wettbewerb zu gewinnen, beschäftigen sich alle mit ihrem eigenen Schrittempo. Wer ist zuerst am Ziel? Wird mein Körper mich 800 Kilometer tragen? Werde ich durchhalten? An Santiago denkt noch keiner. Ich treffe Deutsche, Österreicher, Amerikaner, Spanier, Italiener, Franzosen. Ein Belgier erzählt mir seine Geschichte und verschwindet im Nebel. Er ist schon seit einem Monat unterwegs. In der ersten Woche wollte er umkehren und jetzt kann er gar nicht mehr aufhören zu laufen. Die Pyrenäen sollen besonders bekannt für ihre Energielinien sein. Einmal überquert, und der Geist kann die Vergangenheit hinter sich lassen. Der dichte Nebelwald, die weiße Wand, hinter der sich die grünen Täler Frankreichs und Spaniens verstecken, verstärken das Gefühl, in etwas Neues, Unbekanntes hineinzugehen. Seit 1.000 Jahren pilgern die Menschen auf diesen Pfaden und hinterlassen ihre Geschichten. Die Pilgerfahrten im 10. Jahrhundert bedeuteten den Beginn einer neuen kulturellen Atmosphäre, die bei der Festigung der christlichen Reiche von höchster Bedeutung sein sollte. Die Grenze zwischen dem christlichen Norden und dem islamischen Kalifat Al-Andalus verlief am Jakobsweg. Die Nachricht von der Entdeckung des Grabes des Heiligen Jakob (Santiago) gab den Anlass für das christliche Abendland, sich ins ferne Galizien zu wagen, um dieses Gebiet zu sichern und den Pilgerzug nach Compostela zu schützen. Es regnet. Die Schuhe sind nass. Die Strümpfe auch. Das Gehen wärmt den Körper. Ein Kreuz wird am Horizont zwischen den Nebelwolken sichtbar. Seit Oktober 1993 liegt hier ein brasilianischer Pilger begraben. Erfroren. Vergangenes Jahr starben 34 Menschen aus den unterschiedlichsten Gründen auf dem Weg nach Santiago. Bald geht es nur noch bergab. Gedanken steigen empor und verflüchtigen sich wieder. Nach 28 Kilometern ist die erste Etappe erreicht. Roncevalles. Eine Kirche mit Basilika mitten im Wald. Auf Pilgertourismus eingestellt. Eine Holländerin knipst die Kronleuchter in der Basilika aus dem Mittelalter an. 90 Etagenbetten haben hier Platz. Ich freue mich auf meinen warmen Schlafsack. Es riecht nach Rosmarinöl. Während viele zur Pilgermesse gehen, föne ich meine Schuhe unter dem Händetrockner. Beim Pilgermenü im Restaurant des Hotels treffe ich Leute, denen ich immer wieder begegnen werde, andere sehe ich nie wieder. Ich spüre, wie das Essen sich in meinem Körper langsam wieder in Energie umwandelt. Hier ist irgendwie alles Energie. Oder besser gesagt, hier wird sie wahrgenommen. Der nächste Morgen beginnt mit dunkelgrünen Farben, vermischt mit einem blauen Grau. Dazu passend die bunten Regencapes, die jetzt nochmal zum Einsatz kommen. Ich lande mit dem Rentner Sigmar im Matsch. Danach erzählt er mir seine Geschichte. Endlich mal seinen eigenen Rhythmus gehen, einmal im Leben keine Vorgaben von außen erfüllen. Er war erfolgreich in seinem Beruf. Jetzt wird sein Wissen nicht mehr gebraucht. Der Wind in den Bäumen, Wasserrauschen, ein Milan in der Luft, der Körper ist mit sich selbst beschäftigt. Muskelkater in den Beinen, ein Stechen im linken Knie, manchmal ist es auch das rechte, dann meldet sich kurz die Schulter. Ein Schmerz, der durch den Körper wandert und wieder verschwindet. Abends schlafe ich mit Marlene und Barbara aus Paderborn, Christiane, der Österreicherin, und einer Italienerin auf nebeneinandergelegten Matratzen im Gemeindehaus Larrasoaña. Der Weg ist ein Treffen und Gehen. Sigmar läuft an mir vorbei. Der große Blonde mit den langen Haaren, ein Zahnarzt am Chiemsee, spricht von Menschen auf der Flucht vor sich selbst. Wer auf dem Weg bestimmte Leute immer wieder trifft, wird das Geheimnis jedes Einzelnen bis Santiago entdecken. Oder auch nicht. Bei jedem Treffen höre ich neue Geschichten. Barbaras Tochter studiert an der UdK Berlin Architektur, Marlene will ihren Job wechseln, Christiane möchte eine Familie gründen. Ich staune bei dem Gedanken, dass meine Füße mich schon 100 Kilometer durch wogende Mohnfelder, vermischt mit gelbem Weizen, über Schotterstraßen, Staubwege, hoch und runter, duftende Blumen am Wegesrand, ausgestorbene Dörfer in der Mittagshitze getragen haben. Weitergehen. Nach einer Woche hat sich der Körper an das tägliche Wandern gewöhnt. 20-30 Kilometer sind der Durchschnitt. Der Mensch ist für 30 Kilometer Gehen am Tag konstruiert. Aber die Menschen wollen Grenzerfahrungen. Deshalb begegne ich immer wieder Pilgern, die 50 Kilometer oder mehr laufen möchten. Das macht man nur einmal. Danach brauchen die Füße Ruhe. Viel Konzentration liegt in den Füßen. Von dort wird die Erde in den Körper aufgenommen, durch die einzelnen Organe geschleust, Vergangenes wachgerüttelt. Wer noch keine Blasen hat, wird sie in der nächsten Zeit bekommen. Ein älterer Mann aus Dresden zieht seinen Rucksack mit einem Einkaufswagen hinter sich her. Wie viel braucht der Mensch, um sich nicht selbst unnötig zu belasten? Die Rucksäcke der meisten Pilger erscheinen mir als zu schwer und zu groß. Ein bis zwei Kilogramm zuviel können da schon entscheidend sein. Sich von Dingen, Geschichten und Menschen trennen, immer wieder auf den eigenen Rhythmus achten, Distanz und Nähe zur Umwelt, damit beschäftige ich mich Kilometer für Kilometer. Sobald eine Stadt wie Burgos oder León herannaht, funktioniert der Kapitalismus wieder. Kaufen, schöne Sachen tragen, besitzen. Das alles ist momentan nicht möglich. Denn wer will das alles schleppen? Ein Spanier erzählt mir: so wie du den Camino gehst, so ist dein Alltagsleben. Mit jedem Tag häufen sich Zufälle, ich sehe Zeichen mit jedem Schritt. Landschaften erzählen neue Geschichten, neue Stimmungen. Der Lebensfluss ist perfekt. Eigentlich immer. Wenn man das erkennen kann. Meseta. Die 200 Kilometer lange kastilische Hochebene, scheint die Jugend zu repräsentieren. Sagt man. Weite Aussichten, alles ist offen, nichts durch Berge verstellt, der Blick und die Gedanken können weit umherschweifen. Jetzt ist der Zeitpunkt zum draußen schlafen gekommen. Der nächtliche Sternenhimmel regnet auf mich herab, vor mir das Tal von Castrojeriz, hinter mir die endlose Ebene der Meseta. Mir gehört die Welt, ich fühle mich Zuhause. Der Morgen beginnt mit Laufen für meine Freunde durch den Nebel. Für die Gesundheit, den Erfolg, die Liebe, den Wohlstand. Alles was anderen gewünscht wird, kommt im Leben zu einem selbst zurück. Ein lukratives Gehen für mich. Gehen öffnet den Gedankenfluss, klärt Ideen, bewegt den Geist. Der körperliche Rhythmus passt sich dem Rhythmus des Denkens an. Oder ist es umgekehrt? Solange wir in Bewegung sind, entgleitet uns das Leben nicht, sind wir ruhig, wie Kinder, die auf dem Rücken der Mutter friedlich schlafen. Gehen, Schlafen, Schauen, der Rhythmus wird immer gleichmäßiger, die Gedanken ruhiger. Die Zeit ist nicht mehr wichtig. Abends zur Herberge, schlafen. Wenn das Schnarchen beendet ist, beginnt das Rascheln der Plastiktüten. Manche packen ihre Sachen schon in der Dunkelheit, morgens um 5.00 Uhr, um der heißen Mittagssonne zu entgehen, oder aus Angst, keinen Herbergsplatz für die nächste Nacht zu bekommen. Die Pilgermesse in Santiago wird täglich um 12 Uhr mittags gehalten. Wir sind gut in der Zeit, noch einige Kilometer durch den Eukalyptuswald, dann haben wir es geschafft. Aber daraus wird nichts. Das Leben mag eben keine Pläne. Kurz vor den Toren Santiagos, nach 27 Tagen und 800 Kilometern, legt sich eine meiner Mitpilgerinnen am Kilometerstein 13 im Eukalyptuswald nieder und steht nicht mehr auf. Übelkeit ist der Grund. Oder gibt es andere Gründe? Mittlerweile sind wir alle geschult in höherer Magie und Zeichen am Wegesrand. Ich laufe nicht zur Kathedrale, sondern fahre in einer Ambulancia zum Hospital. Der Weg ist das Ziel, wie es so schön heißt. Der heilige Apostel Jakobus ist sehr wahrscheinlich auch nie in Santiago begraben worden. Aber das ist uns allen egal. Santiago ist eine große Etappe einer sehr langen Reise in die Mitte zum Selbst. In Santiago kenne ich die halbe Stadt. Alle Mitpilger sind glücklich und gelöst, die Reise geschafft, nachgedacht oder Entscheidungen getroffen zu haben. Aber die Reise ist erst am Cap Finisterre beendet. Dort wo Europa aufhört, die Erde in den unendlichen Ozean fließt und schon die Kelten ihre magischen Rituale zelebriert haben. Der Weg ist wenig frequentiert, und ich habe Zeit, die letzten vier Wochen neu einzuordnen. Nach drei Tagen Laufen eröffnet sich am Ende einer grünen Hochebene mit tiefliegenden dunkelgrauen Wolken der Blick auf das blaue Meer. Am Horizont Cap Finisterre. Auch heute wird der Ort zu rituellen Zwecken genutzt. Viele Pilger verbrennen Socken, Schuhe oder persönliche Gedanken, um sich der unterschiedlichsten Altlasten zu entledigen. Ein Prozess, der sich lohnt und der nie wieder aufhört.

Bettina Bartzen ist Fotografin. Bilder vom Jakobsweg unter www.bettina-bartzen.de

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