Seit zum 1. Januar 2005 die sogenannten Hartz-IV-Gesetze eingeführt wurden, hat sich die Zahl der Kinder, die in Deutschland von Armut betroffen sind, fast verdoppelt. Laut Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (Unicef) gilt ein Kind als arm, wenn es in einem Haushalt lebt, der über weniger als die Hälfte des nationalen Durchschnittseinkommens verfügen kann, oder auf mehr als zwei von 14 wichtigen Ressourcen verzichten muss, auf regelmäßige gesunde Mahlzeiten etwa, auf Zeit und Raum für Hausaufgaben, einen Internetanschluss, altersgerechte Bücher und Spielsachen oder auf Geld für Schulausflüge. Der deutsche Kinderschutzbund gibt eine Zahl um die 2,5 Millionen an – so viele Kinder leben in unserem Land auf Sozialhilfeniveau.
In ihrem Buch Wir Kinder von Hartz IV porträtiert Nicole Glocke drei Familien, die nur über geringe Einkommen verfügen. Die freie Autorin lebt in Berlin, einer Stadt mit besonders hoher Kinderarmutsrate von mehr als 30 Prozent. In der Einleitung zu den drei Reportagen verschweigt Glocke nicht, mit welchen Schwierigkeiten sie sich jedoch konfrontiert sah, nicht nur diese drei exemplarischen Familien zu finden, sondern auch die Zusammenarbeit mit ihnen zu einem positiven Abschluss zu führen. Ihre ursprüngliche Überzeugung, „dass viele dieser Menschen schuldlos in ihre unsichere Lage geraten sind und der schwierige Zugang zum ersten Arbeitsmarkt die Hauptursache für deren Erwerbslosigkeit“ sei, musste sie beim Schreiben des Buchs früh revidieren.
Auch wenn „schuldlos“ vielleicht kein ganz glücklich gewählter Ausdruck ist, so zeigen die drei Fällen doch, dass die materielle Situation nur zum Teil richtungsweisend ist für die Entwicklung der Kinder, für ihr Selbstbewusstsein und ihre schulischen Erfolge. Grundlegend ist dagegen die Vorbildfunktion und der Aufstiegswille der Eltern sowie deren Fähigkeit, Verantwortung für das eigene Leben und das der Kinder zu übernehmen.
Trotz Erbschaft arm
Die alleinerziehende, langzeitarbeitslose Mutter im ersten Fall hat auch eine große Erbschaft nicht vor Armut bewahrt; die 250.000 Euro waren bald durchgebracht, die angestrebte Ausbildung dagegen blieb unabgeschlossen. Im zweiten Fall, der von einer kinderreichen Familie mit geringverdienendem Vater und nicht erwerbstätiger Mutter berichtet, scheitert der soziale Aufstieg am Widerstand der Mutter; eine der Töchter, die dank einer Stiftung und Unterstützung seitens der Schule und einer sozialen Einrichtung ein renommiertes Internat besuchen könnte, darf das nicht.
Die dritte Reportage über eine gleichfalls kinderreiche türkische Familie dagegen zeigt, dass ein Elternhaus trotz ungünstiger materieller Ausgangslage durchaus in der Lage ist, den Kindern Zugang zu Förder- und Bildungsangeboten zu verschaffen – wenn es an der Entfaltung ihrer Fähigkeiten interessiert ist. Da Nicole Glocke nicht nur die gegenwärtige Lage der Familien, insbesondere der Kinder, schildert, sondern auch die Biografien der Eltern, zum Teil sogar der Großeltern und Geschwister mit erzählt, wirft sie implizit die alte, ebenso drängende wie vermutlich nicht eindeutig beantwortbare Frage auf: Sind die Menschen an ihrem Elend selbst schuld oder Opfer der Verhältnisse?
Sowohl als auch, muss es jedenfalls nach Lektüre der drei exemplarischen Fälle heißen. Natürlich haben die Vorgeschichten, haben Erziehung, Charakter, Erfahrungen Einfluss auf die Situation. Aber dass weitere staatliche Transferleistungen, die direkt an die Eltern gehen, nicht dazu führen, die Situation nachhaltig zu verbessern, wird ebenso deutlich. Dass die Autorin ihr ursprüngliches Konzept verwerfen musste, weil sie keine kooperationswilligen Gesprächspartner fand, verdeutlicht, wie prekäre Verhältnisse sich nur zum Teil auf materielle Not zurückführen lassen. Die Zusammenarbeit scheiterte an Unzuverlässigkeit, Überforderung, Desinteresse, am Einhalten sozialer Normen und der Haltung gegenüber Anforderungen.
Mehr Frühförderung anbieten
Nicole Glockes Reportagen zeigen anhand dreier Familienbiografien, dass der soziale Hintergrund entscheidender ist als die materielle Ausstattung. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt eine im September vorgestellte Studie der Arbeiterwohlfahrt, die nachweist, dass Kinder aus Hartz-IV-Familien materiell schlechter ausgestattet sind, häufiger vernachlässigt und weniger gefördert werden als Kinder aus armen Familien, in denen die Eltern arbeiten; dabei verfügen Hartz-IV-Familien zumeist sogar über mehr Geld als die Vergleichsgruppe.
Daher sollte eine ernsthafte Diskussion darüber beginnen, ob es nicht im Interesse der Kinder wie der Gesellschaft im Ganzen ist, die direkten staatlichen Transferleistungen nicht nur einzufrieren, sondern sogar zurückzufahren und stattdessen Kinderbetreuung, (Früh-)Förderung, Freizeit- und Bildungsangebote auszubauen, Sach- und Personalausstattung zu erhöhen und immer wieder das Gespräch mit den Eltern zu suchen, um diese über die Vielzahl der Angebote und das Entwicklungspotenzial ihrer Kinder zu informieren.
Selbstverständlich kann der Staat eine intakte Familienstruktur nicht ersetzen. Und selbstverständlich kann er auch nicht den erklärten Willen der Eltern ignorieren. Aber er kann ausgleichend wirken, indem er einen Raum bietet, in dem ein Kind sich angenommen fühlt und in dem Bewusstsein heranwächst, dass es, für seine Mitmenschen, die Gesellschaft, wichtig und schön ist, dass es existiert. Nur aus dem Vertrauen der anderen entsteht Selbstvertrauen.
Wir Kinder von Hartz IV. Drei Reportagen über Familien aus prekären Verhältnissen Nicole Glocke Mitteldeutscher Verlag, 206 S., 14,95 €
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