Blind lief sie durch die Straßen, ohne zu überlegen, wohin. Einfach nur weiter, als ginge sie immer tiefer in einen Wald. In einer Gegend, die sie nicht kannte, kam sie allmählich zu sich, weil sie Hunger verspürte. Deshalb sah sie sich nach Geschäften um, doch gab es nirgends Essbares. Schließlich blieb ihr Blick an dem Schaufenster eines Foto-Ateliers hängen.
Die im Fenster ausgestellten Porträts zogen sie unwiderstehlich an. Etwas war an ihnen so besonders, dass es unheimlich war. Die Fotos waren einerseits sehr sachlich, selbst bei emotionalen Anlässen, andererseits wirkten sie so geheimnisvoll, als hätte hier noch eine andere Kunst ihre Hand im Spiel.
Dieses Hochzeitspaar schien gar nicht mehr aneinander zu denken, sondern nur noch ein "Zu spät!" auszusenden. Das Gesicht einer erwartungsvollen jungen Frau zeigte sich ganz im Licht ihres ungestillten Wunsches. Was das für einer war, konnte man nicht sehen. Nur, dass er sich niemals in ihrem Leben erfüllen würde, das sah man. Wie konnte das sein?
Sie suchte atemlos alle Fotos ab. Da waren auch solche, die einem Lehrbuch als Illustrationen hätten dienen können. Für "Neid" oder "Dankbarkeit" etwa, falls man noch nie etwas von diesen menschlichen Regungen gehört haben mochte, von außerhalb der Erde kommend. Oder es hätten Hilfen sein können, wenn ein Mensch alles Menschliche nach einer Operation wieder neu lernen musste.
Sie wollte es jetzt selbst wissen, und da ein Schild verkündete, dass Passfotos gleich zu haben seien, betrat sie den Laden.
Als sie in den etwas muffigen Raum kam, hatte sie das Gefühl, als habe der Fotograf gerade mit sich selbst gesprochen. Er war ein schmaler, altersloser Mann, der aber sehr leidend aussah. Gleichzeitig bemühte sich seine Höflichkeit, gegen diesen Eindruck anzuarbeiten und ihn zurückzunehmen. Er sah seine Kundin erst in dem Moment an, als sie "Passfoto" gesagt hatte, und auch nur kurz. Sie fühlte sich unbehaglich und wie durchsucht.
Der alte, abgeschabte Drehstuhl aus Holz, auf dem sie Platz nehmen musste, war ihr nicht ganz geheuer. Während sie noch darauf wartete, dass jetzt die übliche Prozedur des Zurechtsetzens, Kopfverstellens und Ohrfreilegens käme, blitzte es schon.
Hatte der Fotograf sie durchschaut? Was für eine Frage. Wenn er das konnte, wovon die Fotos draußen im Fenster Zeugnis ablegten, dann wusste er auch, warum sie gekommen war. Es fühlte sich an, als würde sie auf dem Stuhl herumgewirbelt. Aber das war wohl die Schwäche. Ich lasse mich nie wieder hungrig fotografieren, dachte sie. Als sie wieder zu sich kam und nicht sofort aufstand, sah der Fotograf sie voller Mitgefühl an.
Die fertigen Aufnahmen hielt er ihr mit freundlichen Worten entgegen, die sie gar nicht hörte, sie sah auch nicht auf die Fotos.
Draußen entdeckte sie ein Café, gerade gegenüber, das ihr vorhin gar nicht aufgefallen war, und sie eilte auf die andere Straßenseite, um ein verspätetes Frühstück einzunehmen. Erst dann wollte sie die Fotos ansehen.
Die vier Aufnahmen waren schon auf den ersten Blick für einen Ausweis völlig ungeeignet. Was sich darauf zeigte, war aber nicht so "schriftlich", wie sie es insgeheim erhofft hatte. Sie sah eine schleierartige Substanz, die ihr Gesicht an einigen Stellen undeutlich machte und in den Hintergrund brachte. Die Bänder und Schlieren waren wie Mullbinden, die sich um sie legten, mal wie ein Knebel, dann als Halsschlinge, als Augenbinde und beim letzten Foto als dramatischer Kopfverband. Aber nicht undurchsichtig, sondern changierend. Wie eine Doppelbelichtung.
Ich wusste nicht, dass ich noch so verletzt bin, dachte sie.
Sie legte die Fotos weg und wartete - sie wusste nicht worauf.
Dann wollte sie sich noch einmal ansehen, was ihr verborgen geblieben war. Aber das Bild hatte sich inzwischen verändert. Jetzt war ihr Gesicht wie vollkommen verschleiert, verpuppt, sie konnte überhaupt nicht mehr sehen, was dieser Person geschehen war. Aber sie fühlte ein tiefes Mitgefühl mit der Verletzten, so als käme dieses aus ihrer eigenen Zukunft und erreiche sie hier.
Etwas war in Bewegung geraten, seitdem sie die Bilder hatte machen lassen. Es war ihr, als würde sie in Auszügen einen wohlwollenden Bericht über sich selbst lesen, in dem ihre Bemühungen anerkannt wurden und eine günstige Prognose gestellt wurde.
Sie hatte den heftigen Wunsch, so lange noch zu leben, bis sie sich selbst davon überzeugen konnte, wie die Sache ausging. Sie wollte es wissen. Sie wollte es selbst sein. Nicht nur eine Stimme hören, eine Ahnung oder eine Vision haben.
Sie musste mit dem Autor dieser Bilder sprechen.
Die Bedienung sah beim Abräumen auf die Fotos: "Ja, er ist wirklich ein Künstler! - Damit meine ich aber nicht, dass Sie nicht wirklich so hübsch sind!"
Sie war völlig begriffsstutzig und nahm das Kompliment in keiner Weise entgegen, zahlte schnell mit viel Trinkgeld, lächelte wenigstens und schaute dann erst überprüfend zu den Fotos, - die jetzt einfach nur schön waren!
Wortlos legte sie dem Fotografen die Fotos auf den Tisch und sah ihn nur an.
"Ich warte schon lange darauf, dass mich jemand fragt." Das sagte er sehr müde, als wäre es höchste Zeit gewesen. "Ich glaube, ich schließe meinen Laden für heute - wenn Sie mit mir sprechen wollen?"
Sie nickte. Der Fotograf warf sich einen schwarzen Mantel um, der ganz neu war und aussah, als habe er ihn erst kürzlich aus Anlass einer Beerdigung gekauft. Er wirkte in dem seriösen Kleidungsstück aber merkwürdig zwielichtig. Sie gingen hinüber in das Café, aus dem sie gerade gekommen war. Der Fotograf suchte den Platz in der hintersten Ecke, und obwohl es laut im Laden war und alle mit sich selbst oder einander beschäftigt waren, sprach er so leise, als würde er niemandem trauen. Er hustete schlimm, als habe er etwas verschleppt, und hielt die Hand mit einem großen Stofftaschentuch vor den Mund, sah aber dabei auch noch in sich hinein, wie um keinen Schaden anzurichten. Als sei sein Blick auch ansteckend.
"Es ist nicht ganz ungefährlich." Sagte er mühsam. "Ja, ehrlich gesagt, lässt meine Kraft allmählich nach." Dann lächelte er aber. "Allerdings war Ihr Auftauchen ein Lichtblick." Er hatte den Mantel nicht ausgezogen und wirkte ganz zerbrechlich darunter.
Sie bekam sofort ein schlechtes Gewissen. Ausgerechnet ein so schwacher Mensch musste diese schwierige Arbeit machen. Offenbar zahlte er einen hohen Preis für die Ausübung seiner Fähigkeit. "Wie kann das sein, da Sie mir doch eine so schreckliche Offenbarung gemacht haben?"
"Ja, aber dass gerade Sie diese Wahrheit annehmen konnten und zu mir zurückkamen, das erfüllt mich mit Freude."
"Wie ist es denn sonst?"
"Die, denen gefällt, was sie sehen, kommen wieder. Sie finden Vorwände oder nutzen Ereignisse, die es plausibel machen, dass sie sich abgebildet sehen wollen. Und die, denen nicht gefällt, was das Foto zeigt, sehe ich nie wieder. - Aber nicht alle bemerken überhaupt einen Unterschied zu anderen Bildern."
Allmählich begriff sie. "Und die Bilder sind auch nie wirklich fertig, oder?", fragte sie.
"Nein." Er flüsterte schon wieder. Was fürchtete er?
Um ein wenig von dem zu verstehen, was ihn umtreiben mochte, fragte sie: "Ist die Kunstwelt niemals auf sie aufmerksam geworden?"
"Einmal, soweit ich weiß. Aber dieser Händler war offenbar so eingeschüchtert von dem, was er auf dem Foto von sich sah, dass es ihm zu heikel schien, sich weiter damit zu befassen. Bei den vielen Möglichkeiten der Nachbearbeitung, die es heute gibt, ist es auch schwierig, einen Beweis zu führen."
Plötzlich wurde ihr seine Paranoia klar: Er war der Mitwisser von so vielen Geheimnissen. Und anders als ein Arzt oder Seelsorger hatte er keine Schweigepflicht, nur seine eigene Gewissenhaftigkeit, die offenbar groß war. Die aber nicht jeder bei ihm voraussetzte. "Sie überlegen sich sicher sehr genau, was Sie ins Fenster hängen?"
Er erfasste die Überlegungen zu seiner Gefährdung, die sie angestellt hatte, und nickte nur. "Manchmal mache ich einen schlimmen Fehler."
Sie fragte nicht nach, da er offenbar nicht darüber sprechen wollte. Stattdessen teilte er ihr die Konsequenz seiner Erfahrungen mit: "Ich will mich so bald als möglich zur Ruhe setzen." Und dann, fast verzweifelt: "Nie habe ich um diese Fähigkeit gebeten. Mir fehlt im Grunde alles, um die Folgen zu verkraften!"
Er beruhigte sich wieder. "Natürlich ist es schön, wenn ich jemandem eine Erkenntnis schenken kann, etwas, das im Moment aufblitzt oder auch bleibt. Aber ich muss sehen, wie wenige dem gewachsen sind und wie vergeblich in den meisten Fällen meine Anstrengung ist. Manchmal soll ich dann herhalten für das, was jemand nicht erträgt, und meine Fotos werden beschimpft. Und wenn jemand erst später etwas bemerkt, bin ich mit einem eingeworfenen Schaufenster oder einem Diebstahl noch gut weggekommen ..."
Trotzdem vergaß er nicht, was er von ihr gesehen hatte, und fragte, ob sie sich schon ein wenig besser fühle.
"Ja! Weil ich jetzt gesehen habe, wie schlecht es mir noch geht. Bisher habe ich keine Hilfe gesucht, denn ich habe nicht einmal gefühlt, dass ich sie brauche."
Der Fotograf nickte stumm. Er legte seinen Mantel ab und darunter gab es einen sehr lebendigen Körper, der aufatmete.
Bettina Klix lebt in Berlin und Kassel. Zuletzt erschien im Freitag 26/2006 ihr Text "Ungenutzte Flügel".
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