Ungenutzte Flügel

Kehrseite I Als sie zerschlagen aufwachte, hatte sie das Gefühl, eine Verabredung vergessen zu haben. Sie zog sich an und ging ohne Frühstück hinaus. ...

Als sie zerschlagen aufwachte, hatte sie das Gefühl, eine Verabredung vergessen zu haben. Sie zog sich an und ging ohne Frühstück hinaus.

Auf dem kleinen Friedhof in der Nähe gab es zwei nebeneinander liegende alte Familiengräber der Jahrhundertwende. Es war ein Ort zum Stillstehen, ohne dafür eine Erklärung haben zu müssen. Es gab keine Angehörigen mehr, die ihr diesen Platz streitig machen konnten.

Sie blieb vor dem Grabmal stehen, das sie zuerst angezogen hatte, gleich damals, als sie zum Träumen hergekommen war, es war wie ein schönes Gefängnis, ein allzu verlockendes Bild der Trauer. Die Steingestalt einer Gebeugten lehnte sich an den Eingang zu einem Tempel, gegen die kalte Wand. Der Kummer machte sie aber nur schöner, selbst wenn sie nie wieder aufrecht gehen würde. Nur nahe dem verschlossenen Tor fühlte die Trauernde sich an ihrem Ort. Sie war aber weder eine Wächterin, noch eine vergeblich Wartende. Sie schien bereit mitzugehen, sollte sich das Tor auch noch für sie öffnen. Fast unerträglich war ihre ausschließliche Liebe.

Aus diesem Grund beneidete sie diese Gestalt: weil sie einen Platz hatte. Sie selbst hatte keine Möglichkeit, um ihren Verlust würdig zu trauern, weil niemand gestorben war. Sie hatte alles verloren, aber konnte nicht am Ort des Verlustes bleiben. Weil es einen solchen Ort nicht gab. Stattdessen gab es nur verbotene, vergiftete Plätze, wo sie mit dem Geliebten gewesen war.

Sie wusste nicht, wo sie das suchen konnte, was sie verloren hatte. Und wollte sie es denn wiederhaben?

Das Nachbargrab zeugte von einer ganz anderen Art von Grenze. Ein Engel kam aus einem Torbogen herausgeschritten. Wie eben erst, nur drei Stufen Stein hinunter in die Sichtbarkeit, auf Füßen, die nicht an das Gehen gewöhnt waren, und von großen, ungenutzten Flügeln sehr beschwert. So verwehrte er den Einlass, aber nur, indem er durch seine Bewegungsrichtung den Blick der Lebenden wieder zurücklenkte, in ihre Welt. Der Engel bewachte keine Gefangenen. Er zeigte, ohne falsche Hoffnung, dass die Tür nicht für immer verschlossen war.

Als sie näher an den Engel heranging und die schönen Füße betrachtete, schien es ihr fast, als kämen diese gleich ins Rutschen. Die Steinstufen sahen ganz ausgetreten aus, wie vom vielen Kommen und Gehen. Die Engelshand forderte nun ihre Aufmerksamkeit, doch wofür? Tröstete diese Hand oder segnete sie? Gab sie eine Erklärung ab? Gebot sie Einhalt? Sah sie aber zurück in das Gesicht des Boten, dann schien dieser sanfte und gehorsame Blick nur auf das zu verweisen, was schon geschrieben war. Es stand schon fest.

Inzwischen war die Sonne wieder hervorgekommen und ließ zu, dass die Schrift über dem Torbogen lesbar war. Und die behauptete, mit letzten Spuren von Gold: "Die Liebe höret nimmer auf."

Fassungslos starrte sie auf den Satz. War das eine Drohung? Oder eine Verheißung?

Dann weinte sie endlich. Dabei fühlte sie sich, vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben, geliebt.

Bettina Klix lebt in Berlin und Kassel. Sie schreibt für den Freitag, die Junge Welt und shomingeki.


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