Deborah ist sechzehn und in Hackney aufgewachsen. Vor einem Jahr hat sie die Schule geschmissen, war ihr zuviel Gerede, sie wollte Geld verdienen, das richtige Leben kennenlernen, das ihr dann in Form von unterbezahlten Aushilfsjobs endlich begegnete - beim Lebensmitteldiscounter Regale auffüllen und an der Fleischtheke aushelfen. Von einer Lehrstelle träumt sie nur. Als ihr Alter Stress macht, weil sie tagelang zuhause oder mit besoffenen Skins aus ihrer ehemaligen Klasse vor dem Einkaufszentrum abhängt und sie diesen Zustand auch immer öder findet, wird sie schwanger und lebt nun mit ihrer Tochter in einem runtergekommenen Council Flat, der ihr, genauso wie Sozialhilfe im Rahmen eines Mutter-Kind Projekts, bewilligt wurde. Mit dem Erzeuger zusammenleben, möchte sie nicht.
Deborah ist als alleinstehende, minderjährige Mutter durchaus eine "success story", denn sie hat ihre randständige, desolate Situation mit ein bisschen Autonomie ausgestattet. Diese unerhörte Lesart jedenfalls legt uns die britische Kultursoziologin Angela McRobbie nahe, die sich seit fast dreißig Jahren mit dem Verhältnis von Jugend- und Populärkultur, Feminismus und Ökonomie beschäftigt. Anders als neo-liberale Prediger des Selbstunternehmertums, die die sogenannte" Subventionsmentalität" geißeln, und anders als konservative Moralapostel, die sofort einen Verfall von Erziehungsstandards wittern, sieht McRobbie in der frühen Mutterschaft die einzige Möglichkeit, mit der sich Mädchen aus der Unterschicht unter den von Arbeitslosigkeit und Verarmung geprägten Bedingungen eine respektable soziale Identität konstruieren können. Anders jedoch auch als linke Ideologiekritiker, mit denen sie die Analyse der materiellen Ungleichheiten und Klassenunterschiede teilt, sieht sie in früher Mutterschaft aber keinen bloßen Rückzug in die Sphäre des Privatisierens mit all seinen schädlichen Folgen. Deborah hat die traditionellen rechten und linken Denkmuster hinter sich gelassen und sich vom Schicksal der working-class girls früherer Epochen schon insoweit emanzipiert, als sie keine Lebensgemeinschaft mit einem ökonomisch ebenfalls depravierten jungen Mann erwägt. Und: Sie setzt ihrer wirtschaftlichen Perspektivlosigkeit eine individuell sinnstiftende Beschäftigung entgegen - nämlich das Aufziehen eines Kindes. Ihre Situation bleibt zwar von Abhängigkeit geprägt, doch innerhalb der im Übrigen strukturell vorgezeichneten Unselbstständigkeit von Frauen aus den unterprivilegierten Schichten, hat sie sich für ein wenig mehr selbstbestimmten Spielraum entschieden, sich nicht abhängig gemacht von einem prekären Ernährer, dem selbst nur ein Wechselbad aus Gelegenheitsjobs und Arbeitslosigkeit droht, und der ihr neben null Einkommen noch viel Ungemach bescheren würde mit einer bisweilen gewalttätigen Gereiztheit darüber, dass er seiner angestammten Geschlechterrolle nicht entsprechen darf und außer Drogen nehmen oder rechtsradikalem öffentlichen Herumlärmen auch nicht weiß, was er mit seiner freien Zeit anfangen soll. Jungs sind nicht mehr der Traum eines jungen Mädchens, sondern ein Sicherheitsrisiko und Armutsverstärker.
Das ist kein geringer Fortschritt seit den Tagen der bangen Gretchenfrage, wie frau sich am besten einen Millionär, wenigstens aber einen Mann angelt, damit ihr sozialer Status legitimiert ist, findet McRobbie, die es wissen muss. Sie hat in den siebziger Jahren eine vielbeachtete, feministisch-ideologiekritische Studie über Mädchenzeitschriften in Britannien verfasst, die zeigte, dass deren über Jahre hinweg massenhaft konsumierten Artikel die redundante Botschaft vermittelten: Ergib dich in deine weibliche Sphäre von romantischer Liebe, passiver Erwartung, aktiver Verschönerung zwecks Attraktion fremder Männer und überlasse alles Weitere deinem Zukünftigen. Die Mädchenzeitschriften trugen so das ihre zur Normalisierung und Fortschreibung der Geschlechterverhältnisse bei.
Einen ungewöhnlichen Blick wirft McRobbie gleichwohl auf das in der Regel mit konservativ-selbstgerechtem Alarmismus abgehandelte Phänomen zunehmender Mutterschaft von Minderjährigen. Gewöhnungsbedürftig auch für den seit bürgerlich-rebellischen Jugendtagen eitel gepflegten Aufklärungswillen einer älteren Generation, der nichts weniger wünscht als Freiheit, Gleichheit und Glück für alle - und nicht junge Mädchen, die sich eine von Erfolg gekrönte Zukunft ungewollt durch verfrühtes Gebären in Armut verbauen.
Doch McRobbie ist weder naiv noch biedert sie sich, wie manche ihrer linken Kritiker argwöhnen, einem neoliberalen Diskurs an, der noch aus den widrigsten Umständen das Hohelied der Selbstständigkeit wringt. Als Schülerin des renommierten Kulturwissenschaftlers Stuart Hall und langjährige Mitarbeiterin des Birmingham Centre of Contemporary Cultural Studies hat sie gelernt, die alltagskulturellen Phänomene, die sie untersucht, aus einer doppelten Perspektive zu hinterfragen. Die Grundlage bleibt stets eine (an Bourdieu angelehnte) kritische Analyse der materiellen Bedingungen populärkultureller Praktiken wie Freizeitgestaltung, Medienkonsum, Musik-, Kunst- oder Mode-Machen. Doch anders als die alte Garde der kapitalismuskritischen Aufklärer, die sich mit elitär verurteilendem Denken lautstark zum Sprachrohr einer als sprach- und gedankenlos imaginierten Gruppe von Unterprivilegierten machen, versucht McRobbie, die Erfahrung der Betroffenen und ihren subjektiven, sogenannten"Lust"-Gewinn ebenfalls zu reflektieren. Das heißt, sie untersucht auch, welches emanzipatorische oder subversive Potential (d.h. kapitalistisch nicht verwertbare Nebenwirkungen) die kulturellen Praktiken trotz im streng kritischen Sinn "unkorrekter" Ausgangslage bergen. Deshalb gilt sie als "postmoderne" Denkerin.
McRobbies Feminismus mit der Idee eines Nebeneinander verschiedener Spielarten, ihr Verständnis für die scharfe Unterscheidung zwischen Frau-Sein und Feministin-Sein, das dem Bedürfnis junger Frauen entspricht, sich gegen ihre Müttergeneration abzugrenzen und ihre präzisen Analysen der materiellen Bedingungen, verbinden sie mit Nancy Fraser. Wie die US-amerikanische Philosophin sieht sie strukturelle Ursachen für die Feminisierung der Armut- eine durch Gesetze begründete Ungleichbehandlung als Antragsteller auf den Ämtern beispielsweise (Frauen erfahren als Mütter Förderung, Männer als potentielle Arbeitnehmer), fehlende Teilzeitarbeitsmöglichkeiten in den Jobs, die traditionell von der Arbeiterklasse ausgeübt werden, sowie Verschiebung der Begründung ihrer Situation auf emotionale Defizite der Frauen. Was zur Folge hat, dass man den Frauen eher therapeutische Maßnahmen statt Ausbildung zukommen lässt. Dass McRobbie jedoch - anders als Fraser - nicht in aller Munde ist, mag daran liegen, dass sie keine eigene Theorie begründen will, sondern die bestehenden Modelle scharfsinnig, differenziert und präzise anwendet, um die Wirkungsweise und Logiken kultureller Phänomene zu erfassen.
Letzte Woche sollte McRobbie im Rahmen einer Veranstaltungsreihe der Volksbühne Berlin über die "Kultur als Wegbereiterin der New Economy" diskutieren. Sie beschäftigt die Frage, unter welchen Bedingungen heutzutage Kunst entsteht und welche Funktion künstlerische Erzeugnisse erfüllen. Der Verdacht, dass der Glamour, den kulturelle Arbeit umgibt, benutzt wird, um ein selbstausbeuterisches, auf selbständigem Kleinunternehmertum basierendes Wirtschaftsmodell zu propagieren, ist nicht unplausibel. Heute muss jeder leben und arbeiten "wie ein Künstler", jeder muss erfinderisch sein, um einen Job zu bekommen in Kauf nehmen, so prekär wie ein Bohemien zu leben, von der Hand im Mund und darf sich dafür kreativ und glücklich fühlen - ein (Über-)Lebens-Künstler eben. Vielleicht schlucken es die Leute, wenn man es ihnen schillernd genug verkauft. Andererseits ist die künstlerische Arbeit als Designer, als Fotografin, als Musikerin, als Schauspieler und Schriftstellerin nicht subventioniert. Das bedeutet auch, dass die Selbstausbeutung und Behinderung durch vielfältige Zusatzbeschäftigungen und unbezahlte Qualifikationsarbeit wenig Zeit für wirklich künstlerische Reflexion lässt. Wenn man nicht als Stella McCartney zur Welt gekommen ist, dann ist die schweißtreibende Selbstausbeutung junger FashiondesignerInnen an der Nähmaschine strukturell also kaum anders zu bewerten als die Ausbeutung der Donna-Karan- und GAP-Näherinnen in Südostasien. Beide Existenzformen sind ein bedauerliches Resultat kapitalistischer Verhältnisse.
Solches und vieles mehr hätte man gern von McRobbie erfahren, doch ein Arbeitskampf der britischen Flughafenbeschäftigten hat ihre Anreise vereitelt. Was sie wohl zur Gewerkschaftspolitik 2002 zu sagen hätte? Bestimmt wieder irritierende Dinge. Leider sind ihre bemerkenswerten Studien nur auf Englisch erschienen. Sie nehmen bislang kaum analysierte, alltäglich konsumierte kulturelle Teilbereiche ins Visier und erweitern den eigenen Blick nicht ohne anfänglichen Widerstand. Das lässt sie so nachhaltig wirken. In jeder gut sortierten Universitätsbibliothek.
Bettina Seifried ist und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Anglistik und Amerikanistik der Humboldt Universität in Berlin
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.