Kinder auf der Flucht

KINDERSCHUTZKONVENTION Die deutsche Gesetzgebung ignoriert die besondere Schutzbedürftigkeit geflohener Minderjähriger und verletzt damit UN-Vorgaben

Zwischen 5000 und 10 000 Kinderflüchtlinge, so schätzt das UN-Kinderhilfswerk UNICEF, leben in Deutschland. Sie haben sich ohne ihre Eltern auf den Weg gemacht - weil der Krieg sie ihnen nahm, weil ihre Eltern sie nicht mehr beschützen konnten, oder weil sie meinen, ihre Familie aus dem Ausland besser unterstützen zu können. Ihre Zahl läßt sich nur schätzen, denn wie der Berliner Migrationsforscher Steffen Angenendt festgestellt hat, sieht sich keine Bundesbehörde in der Lage, die Zahlen aller zuständigen Behörden auf vergleichbarer Basis zusammenzuführen. Wahrscheinlich, so Angenendt, will es auch niemand so genau wissen.

Angenendt hat für die UNICEF eine Studie erarbeitet. Ergebnis: Deutschland kommt den Anforderungen der UN-Kinderschutzkonvention nicht nach. Denn dort heißt es: Kinder, die vorübergehend oder dauerhaft aus ihrer familiären Umgebung gelöst werden, sind besonders schutzbedürftig. Diese besondere Schutzbedürftigkeit hat Deutschland aber nicht, wie es die Konvention vorsieht, in nationales Recht umgesetzt. Weder das Ausländer-, noch das Asylverfahrensgesetz nehmen besondere Rücksicht auf die Situation dieser Kinder. Genau wie Erwachsene auch müssen sie einen Asylantrag stellen und ihre Fluchtgründe vortragen. Sogar Babies werden dem Entscheider des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vorgeführt. Notwendigerweise in Begleitung eines Vormundes, der Eltern oder eines Vertreters des Jugendamtes, falls es allein in Deutschland ankam.

Mit der Problemlage von Kinderflüchtlingen konfrontiert, versucht jede Behörde erst einmal einer anderen die Zuständigkeit zuzuschieben. Diese Erfahrung machte zumindest Karoline Korring, eine Hamburger Sozialpädagogin, die im Verein »Woge« arbeitet. Der Verein betreut Hamburger Kinderflüchtlinge, hat 38 von ihnen in vier Jugendwohnungen untergebracht und versucht, durch Busaktionen in den Hamburger Straßen Informationen und Hilfsangebote an weitere Kinderflüchtlinge zu bringen.

Die Arbeit mit Kinderflüchtlingen, so Korring, ist eine Gratwanderung: Zum einen sind sie tatsächlich besonders schutzbedürftig, sie haben oft Schreckliches erlebt und sind nun in fremder Umgebung auf sich allein gestellt. Nicht alle werden von Sozialarbeitern betreut, die versuchen, ihnen sowohl in Ämterangelegenheiten als auch bei Problemen des Kulturschocks zur Seite zu stehen.

Sozialarbeiter mussten erkennen, dass die alltäglichen Bedürfnisse der Kinderflüchtlinge sich von denen Jugendlicher nicht unterscheiden: Auch sie wollen beispielsweise in die Disco gehen und Zuwendungen erfahren. Vor allem aber: »Wir dürfen sie nicht nur als hilfslose Wesen ansehen. Schließlich haben sie den ganzen Weg hierher schon allein geschafft, dazu gehört viel Mut. Wir müssen mit den Kompetenzen arbeiten, die diese Jugendlichen zu uns mitbringen.« Hier beginnt der zweite Teil der Gratwanderung: Laut Gesetz dürfen die Kinder nichts anderes tun, als zur Schule gehen. Sie dürfen nicht arbeiten und auch keine Ausbildung beginnen. Dazu bräuchten sie eine Arbeitserlaubnis, die Flüchtlinge seit dem 1. Juli 1997 nicht mehr bekommen. »Für die Jugendlichen ist das eine Katastrophe«, sagt Korring, und: »Dann dürfen wir uns doch nicht wundern, wenn sie kriminell werden. Jugendliche brauchen etwas, was sie tun können.«

Und vor allem eine Perspektive. Die aber verwehrt ihnen Deutschland: Die Asylanträge von Kinderflüchtlingen werden meist abgelehnt. Weil die Abschiebung aber oft eine lange Vorbereitung braucht - so der Herkunftsstaat überhaupt Reisepapiere ausstellt - leben die Kinderflüchtlinge jahrelang »geduldet« in Deutschland. »Was sollen sie in die Schule gehen«, fragt Korring: »Für wen sollen sie etwas lernen, wenn sie weder Ausbildung, noch Arbeit erhalten und irgendwann zurückgeschickt werden?«

Mit Verweis auf Angenendts Studie fordert UNICEF die Erteilung einer befristeten Aufenthaltsbefugnis für Flüchtlingskinder. Damit sollen ihnen die Chance eingeräumt werden, in Deutschland wenigstens eine Ausbildung zu beginnen.

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