Altenpflege im Wettbewerbsstaat

Joachim Maiworm Ein Beitrag von Joachim Maiworm aus der Drei-Monats-Zeitschrift BIG Business Crime, Ausgabe 04/2013

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"Mitmachen, nicht stören!" - Altenpflege im Wettbewerbsstaat

"Du bist Deutschland!" lautete eine Kampagne, die im Herbst 2005 von 25 deutschen Medienunternehmen gestartet wurde und zu einer national getönten Aufbruchsstimmung im Land beitragen sollte. Als Kontrast zur Figur des widerständigen "Protestierers" und "Störers" wurde der Idealtyp des aktiven, eigenverantwortlichen Menschen beschworen, der den "schlanken" Staat durch sein Engagement entlastet und im internationalen Standortwettbewerb stärkt. Bereits spätestens seit Mitte der 1990er Jahre und besonders seit Inkrafttreten der Agenda 2010 sind die Zivilgesellschaft und das so genannte bürgerschaftliche Engagement zu einem zentralen Projekt der Gesellschaftspolitik avanciert. Auch für den Bereich der Altenpflege wird in den letzten Jahren in Teilen der Politik und von etablierten Denkfabriken eine verstärkte "Kultur der Mitverantwortung und des Helfens" in der Pflege eingefordert. "Hilfemix", "geteilte Verantwortung" und "gesellschaftliche Koproduktion" sind weitere Leitbegriffe des Zivilgesellschafts-Diskurses.

Dialog als Herrschaftsstrategie

Ende 2012 legten Forscher der Universität Bremen im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung eine Studie zur Pflegesituation vor. Sie prognostizierten eine dramatisch verschärfte Lage der Pflegelandschaft für das Jahr 2030 und empfahlen, die kostenträchtige Heimpflege auf das Notwendigste zu reduzieren, die ambulante Versorgung dagegen konsequent auszubauen. "Die Zukunft der Pflege liegt im Quartier", lautet deshalb auch die programmatische Aussage eines Positionspapiers, das eine vom Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA) und der Friedrich-Ebert-Stiftung angeführte Arbeitsgruppe Anfang August dieses Jahres präsentierte (vgl. "Gute Pflege vor Ort – Das Recht auf eigenständiges Leben im Alter", WISO-Diskurs, August 2013). Die Sozialexperten vertreten ein Konzept, das auf Selbstbestimmung setzt, zivilgesellschaftliche und professionelle Pflege vor Ort bündelt und die Prävention fördert.

Nach dieser Idee überträgt der Staat die Verantwortung zunehmend auf die "autonomen" Einzelnen und den sozialen Nahraum. Damit wächst der Druck auf die Bürger. Denn für das Netzwerk der Think Tanks gilt als nicht verhandelbare Prämisse, dass die finanzielle Leistungsfähigkeit des Staates unwiderruflich an ihre Grenze gestoßen ist. Nicht der Kampf ums Geld, sondern nur der konsensorientierte Dialog zwischen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und zivilgesellschaftlichen Akteuren könne die Basis dafür bilden, die Herkulesaufgabe einer würdigen Altenpflege zu stemmen und dem Gemeinwohl zu dienen. Interessengegensätze sollen keine Rolle mehr spielen, Kooperation statt Konfrontation steht als Leitidee auf der Tagesordnung. Entgegen dieser idealistischen Konstruktion wird aber insbesondere das bürgerschaftliche Engagement ökonomisch definiert bzw. für die Wirtschaftsinteressen funktionalisiert. Auch der Pflegesektor hat seinen Beitrag zum Wettbewerbsstaat zu leisten, indem er der Volkswirtschaft möglichst wenig kostet.

Vor allem die neoliberale Bertelsmann-Stiftung widmet sich der Aufgabe, Ideen zu produzieren und Modellprojekte zu erproben, damit sozialstaatliche Aufgaben möglichst effizient unter Einschluss von Engagement erledigt werden können. Als Strippenzieherin im Hintergrund forcierte die Stiftung bereits die Hartz-Reform und damit den "aktivierenden Sozialstaat"; nun sollen die so entstandenen Versorgungslücken in der Pflege durch die Mobilisierung der Zivilgesellschaft gestopft werden. Partizipation fungiert als Motor des Sozialabbaus, ganz im Sinne der Merkel’schen "marktkonformen Demokratie".

SONG und LoVe

Das von der Bertelsmann-Stiftung initiierte und geförderte "Netzwerk: Soziales neu gestalten" (SONG), ein Zusammenschluss von verschiedenen Akteuren in der Sozialwirtschaft und des KDA, prophezeit deshalb bereits den Kollaps des Gesamtsystems, sollten die Leistungen der Pflegeversicherung weiterhin ungebremst wachsen. Die mit Einführung des jüngsten Zweigs der Sozialversicherungen bereits 1995 etablierte wettbewerbsorientierte Versorgungslandschaft habe große Fortschritte für die Pflegebedürftigen gebracht, aber es helfe nicht mehr, immer mehr Geld in das bestehende System zu stecken. Die Prävention solle im Mittelpunkt stehen, eine Pflegebedürftigkeit möglichst lange vermieden werden. Um Kosten zu senken, hätten die Kommunen dabei eine stärkere, die Infrastruktur steuernde Rolle zu übernehmen.

Das Netzwerk SONG zeigt sich für die so definierte Aufgabe gut aufgestellt. Für das professionelle Netzwerk- und Quartiersmanagement, das diesen Prozess organisieren soll, qualifiziert SONG die Führungskräfte gleich selbst. Das LoVe-Projekt (Lokale Verantwortungsgemeinschaften in kleinen Lebenskreisen) bietet entsprechende Weiterbildungen im Netzwerk SONG an. Die strategischen Vordenker der Altenhilfeszene sehen bisweilen zwar durchaus Gefahren bei der Propagierung des "Welfare-Mixes" bzw. der "Koproduktion der Wohlfahrt", denn verbriefte Rechtsansprüche könnten durch das verstärkte Einbinden bürgerschaftlichen Engagements relativiert werden. Sie konstatieren aber ebenso unmissverständlich, dass es keine Alternative zu dieser Neuausrichtung in Pflege und Betreuung gibt (vgl. "Deutschland demografiefest machen – Tragfähige Pflegereform ist mehr als SGB XI-Reform", Positionspapier des Netzwerks SONG, 2011).

Mogelpackung Demenz-WG

Einen wichtigen Baustein in dieser Strategie bilden auch die Wohngemeinschaften für Senioren (WG). Die Politik setzt aus Kostengründen zunehmend auf die Verbreitung dieser alternativen Wohnform anstelle einer Versorgung in Pflegeheimen und bedient sich dabei des Diskurses von Selbstbestimmung und Eigenverantwortung. Während noch vor zwanzig Jahren im Pflegefall nur zwei Alternativen offenstanden – Hilfe zu Hause durch Angehörige oder professionell in Heimen – haben ambulant betreute WGs in den letzten Jahren ihr Image als exotische Außenseiter in der Pflegelandschaft abgestreift und konnten sich zur Regelversorgung entwickeln. Bundesweit ist ihre Zahl seit Mitte der 1990er Jahre explosionsartig angewachsen; allein in Berlin ist seit 2006 eine Verdoppelung feststellbar (aktuell etwa 500). Denn die ursprünglich emanzipatorisch angelegte Idee wurde vom sich entwickelnden Pflegemarkt schnell als lukratives Geschäftsmodell aufgegriffen.

Aus einem zunächst nutzergesteuerten Modell, initiiert von Angehörigen und gesetzlichen Betreuern, wurde ein ganz normales Angebot ambulanter Dienste mit entsprechender Gewinnerwartung. Berichte über zum Teil skandalöse Lebensumstände der Pflegeabhängigen bzw. inakzeptable Arbeitsbedingungen bei den Betreuern häuften sich. Kaum verwunderlich, denn es gibt keine ausreichende Kontrollmöglichkeit der staatlichen Heimaufsicht. Rechtlich betrachtet handelt es sich bei den WGs um Privatwohnungen, de facto aber organisieren und betreiben Pflegedienste diese Renditeobjekte als quasi rechtsfreie Kleinstheime – wie der Initiator der ersten Demenz-WG in Berlin, der Geschäftsführer des Vereins "Freunde alter Menschen" Klaus Pawletko, gegenüber dem Autor bestätigte. Nur dass die Prüfungen der Heimaufsicht nicht obligatorisch seien wie in "normalen" Heimen, sondern lediglich "anlassbezogen" abliefen. Der Standard, der eine WG auf privater Basis eigentlich ausmacht – Pflegedienste dürfen nicht gleichzeitig Vermieter sein; die Bewohner müssen den ambulanten Dienst individuell frei wählen können –, würde in den allermeisten Fällen unterlaufen. Das kommerzielle Interesse der meistens in direkter wirtschaftlicher Verbindung zum Vermieter stehenden Pflegeunternehmen stünde damit der Qualität der Betreuung im Wege. Zudem würde oft das "letzte Aufgebot" in die WG geschickt (Pflegehelfer mit Basisqualifikation) und häufig Erwerbslose "in die Pflege geprügelt".

Das Konzept stellt ein gutes Geschäft sowohl für die ambulanten Dienste als auch die Leistungsträger dar. Die Pflegekassen werden durch die im Vergleich zur stationären Unterbringung geringeren Pflegesätze (Pflegestufen eins und zwei) und die entfallenden Kontrollen entlastet; die privaten Dienste können zusätzlich Synergieeffekte nutzen und mit der in der öffentlichen Wahrnehmung attraktiven Wohnform werben. Letztlich war die massive Expansion der Pflege-WG in Berlin und anderswo nur infolge Kommerzialisierung möglich.

Die mediale Skandalisierung der Pflegeheime, die zudem die teuerste Versorgungsform darstellen, arbeitet dabei einer Kostensenkungsstrategie zu. Demenz-WGs sind "in", denn die Angst vor einem Leben im Heim wird von dem weitaus größten Teil der alten Menschen geteilt. Wissenschaftliche Untersuchungen über die Versorgungsstruktur in Berliner WGs ergeben, dass in fast allen befragten WGs nur jeweils ein Leistungsanbieter für die pflegerische und hauswirtschaftliche Versorgung tätig ist. Die Wahlfreiheit beim Pflegedienst wird demnach so gut wie gar nicht genutzt. In mehr als der Hälfte aller WGs werden zudem seltener als einmal im Monat Informations- und Beratungsangebote für Angehörige durchgeführt. Ein besonders enger Kontakt der Angehörigen zu den Pflegebedürftigen ist also nicht feststellbar. Auch ehrenamtliche Helfer sind lediglich in knapp der Hälfte aller Fälle vor Ort (vgl. Karin Wolf-Ostermann/Andreas Worch/Johannes Gräske, Ambulant betreute Wohngemeinschaften für Menschen mit Demenz: Entwicklung, Strukturen und Versorgungsergebnisse, Berlin, 2012, S. 84ff.).

Die Einsamkeit grassiert also nicht nur in der Verwahranstalt Heim, sondern ebenso in der WG. Die kleinräumige Versorgungs- und Betreuungsform, so die Erwartung der WG-Pioniere vor fast zwanzig Jahren, sollte Demenzkranke aus der Isolation herausholen und ihre Selbstbestimmung fördern. Mit der Idee eines teilhabeorientierten gemeinschaftlichen Lebens hat die Alltagswirklichkeit in den allermeisten Senioren-WGs allerdings nur wenig zu tun. Mit der Strategie, die pflegebedingten volkswirtschaftlichen Kosten zu senken, schon.

Justiz gegen Pflegekräfte

Den pflegebedürftigen Menschen wie den Pflegekräften widerfährt offensichtlich erhebliches Unrecht. Allgemeine Empörung über unhaltbare Zustände in dem Bereich wallt in regelmäßigen Abständen auf. Erstaunlich ist aber, wie hartnäckig sich die Justiz als mächtiges Subsystem dieser Gesellschaft vom Gerechtigkeitsempfinden gerade auch der im Pflegeprozess stehenden Menschen entfernt hat. Die Postdemokratie, stellte der Publizist Georg Seeßlen unlängst in einem taz-Kommentar fest, erkenne einen neuen Feindtypus. Und sie zeige, wie zum Beispiel der bundesweit bekannte Fall Mollath belege, mit welcher Brutalität sie ihn zu verfolgen bereit sei. Nicht der Opponent oder der Dissident sei der neue Feind, sondern der "Lästige". Eine Sozialfigur also, die das reibungslose Funktionieren des Systems zu stören imstande ist, weil sie sich weigert, dem Diktat des Mitmachens zu folgen. Klar erkennbar ist: Die Arbeitsgerichtsbarkeit tut viel dafür, sich dieser "Lästigen" und "Störer" zu entledigen. Nehmen wir zur Illustration den Fall der Berliner Pflegehelferin Angelika-Maria Konietzko (vgl. auch "Pflege jenseits des Rechts").

Ein kurzer Abriss der Geschichte: Angelika-Maria Konietzko arbeitete mehrere Jahre als Nachtwache in einer Demenz-WG für einen privaten Pflegedienst. Sie beschwerte sich bei der Wohnbereichsleiterin, der Pflegedienstleitung und dem Geschäftsführer über untragbare Pflegebedingungen. In der Folge wurde sie von ihren Vorgesetzten und dem Geschäftsführer massiv unter Druck gesetzt, Abmahnungen folgten. Die schikanierte Pflegekraft wurde wegen Mobbings krankgeschrieben und erlitt eine langanhaltende Depression. 2010 folgte eine krankheitsbedingte Kündigung durch eben jenen Pflegedienst, der sie – so die Sicht der Pflegekraft – durch fortgesetzte Repressalien in die Krankheit getrieben hat.

Seit September 2007 steht sie nun vor Gericht und kämpft um ihre Rechte. Ihre Klagen wegen vorenthaltener Lohnzahlungen und der krankheitsbedingten Kündigung wurden vom Landesarbeitsgericht abgelehnt. Das Mobbing durch die Geschäftsleitung, den Rechtsanwalt und den Betriebsarzt (!) wird in der zweiten Instanz weiter verhandelt. Da Frau Konietzko sich weigert, angefallene Anwaltskosten der Gegenseite zu bezahlen, droht ihr eine Erzwingungshaft. Diese unglaubliche Prozessgeschichte wurde bereits durch Medienberichte öffentlich gemacht, anerkannte Pflegefachverbände bestätigten die Darstellungen von Frau Konietzko über die nicht akzeptablen Zustände in der Demenz-WG.

Welche Rolle aber spielte bislang die Berliner Arbeitsgerichtsbarkeit? Es zeigt sich zunächst ein ausgeprägter Korpsgeist bei den zuständigen Richtern. An einer nüchternen Tatsachenfeststellung, das heißt einer Beweisaufnahme, war offensichtlich niemand von den Arbeitsrichtern interessiert. Die Behauptungen des Geschäftsführers des Pflegedienstes wurden unhinterfragt akzeptiert. Obwohl eine Expertin vom Pflege-Selbsthilfeverband in einer öffentlichen Stellungnahme davon sprach, dass die Argumentation der Gegenseite derart widersinnig sei, dass dieses selbst einem Laien ins Auge springen würde. Auch ein Richter könne, ohne nähere Überprüfung, alleine aus den widersprüchlichen Darlegungen erkennen, worum es dem Pflegedienst gehe. Insofern liefere dieser Fall ein Zeugnis für die Voreingenommenheit, von der sich auch Gerichte mitunter lenken lassen würden.

Tatsächlich wurde das von den Richtern gezeigte Verhaltensmuster – der interne Zusammenhalt der Juristen auf Basis stillschweigender Übereinkünfte steht über allem – paradoxerweise in dem Moment kenntlich, als es punktuell im Sinne der Klägerin durchbrochen wurde. Denn im Juni 2013 wurde ein für eine Berufungsverhandlung in Sachen Mobbing angesetzter Vorsitzender Richter für befangen erklärt. Er hatte zuvor einen Antrag der Klägerin auf Prozesskostenhilfe abgelehnt. Sein fehlerhaftes Verhalten bei der Behandlung des Antrags deutete nach Auffassung des Landesarbeitsgerichtes auf eine Voreingenommenheit gegenüber der Klägerin hin. Ein faires Verfahren war so nicht zu erwarten gewesen. Ein Richter, der dem Befangenheitsantrag der Pflegekraft zustimmte, hatte Mut bewiesen und sich dem Verhaltenskodex verweigert. Und damit auf das konforme Agieren der anderen verwiesen.

Pathologisierung der Widerständigkeit

Eine beliebte Methode beim Umgang mit Menschen, die sich nicht "befrieden" lassen, ist, sie aktiv als "Störenfriede" zu bekämpfen. Dieser "Psychokrieg von oben" erweist sich als eine effektive Strategie der sozialen Ausgrenzung. Nach dem "Bossing" (Mobbing durch den Chef) erlebte Frau Konietzko die Pathologisierung durch einen Arbeitsrichter. Nach Darstellung der betroffenen Pflegekraft griffen sowohl der Geschäftsführer und sein Rechtsanwalt als auch der Richter zu diesem Diffamierungsmuster. Die Angestellte bzw. die Klägerin habe eine Psychose entwickelt, leide unter Wahrnehmungsstörungen, Realitätsproblemen und unter einem massiven psychischen Schaden – anders konnten sich die Vertreter des Pflegeunternehmens und der Jurist das widerständige Verhalten, von ihnen als Hang zu "sinnlosen Rechtsstreitereien" gewertet, nicht erklären.

Wer aber eine Diagnose stellt, übt Macht aus. "Störungen" werden eliminiert. Denn ein Richter, der einer Person, die Missstände in ihrem Arbeitsbereich offenlegt und sich juristisch dagegen wehrt, ohne jeglichen fundierten Beweis wahnhaftes Verhalten unterstellt, stigmatisiert sie. Das "Brandzeichen" wird aktenkundig, zieht Kreise und beeinflusst andere Institutionen und Menschen, die mit dem Fall zu tun haben. Die Wirkungsmacht der Diagnose ist nicht zu unterschätzen, sie kann ein Leben in seinen sozialen Beziehungen zerstören und als deutliche Warnung gelten. Zum aktuellen Berufsverständnis von Arbeitsrichtern gehört es offensichtlich, sich den Prämissen der Leistungsgesellschaft anzupassen. Die sehen als Norm den erfolgreichen, gesunden und konsumorientierten Menschen, der sich zudem im Konsens mit der Mehrheitsgesellschaft der "Gemeinschaft" verpflichtet fühlt.

Normal sein bedeutet, sich nahtlos in diesen Mainstream einzufügen. Hartnäckiges soziales Protestverhalten wird dagegen als psychiatrisch erkennbare Störung umgedeutet. Die Richter tragen mit ihren Entscheidungen also eine große Verantwortung. Denn das Recht bietet ihnen einen erheblichen Interpretationsraum, der auch von ihren politischen Wertvorstellungen ausgefüllt wird. Beim Arbeitsrecht handelt es sich zwar um ein Arbeitnehmerschutzrecht, anerkannt ist aber, dass es zugleich dazu dient, die Funktionsfähigkeit der Marktwirtschaftsmechanismen zu erhalten. "Stören" einzelne Menschen das System, treten also Risse im Funktionssystem auf, werden diese gekittet. Zum Beispiel, indem Richter hartnäckige Widerstände gegen die unmenschlichen Folgen einer Kommerzialisierung der sozialen Arbeit als krankhaft denunzieren. Das gilt gerade für den Bereich der Altenpflege, der im Zuge der Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 1995 paradigmatisch für privatwirtschaftliche Verwertungsinteressen geöffnet wurde.

Dass es Hinweisgeber und Skandalaufdecker ("Whistleblower") in Deutschland besonders schwer haben, zeigte zuletzt auch der Fall der Altenpflegerin Brigitte Heinisch, die gegen den Pflegekonzern Vivantes prozessierte, im nationalen Rahmen aber nicht Recht bekam. Und der erst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg vor zwei Jahren bestätigte, dass ihr Vorgehen korrekt gewesen war: Pflegemissstände in einem Altenheim anzuzeigen, Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft zu stellen und die Öffentlichkeit zu informieren. Wofür sie sich insgesamt drei Kündigungen einhandelte, die aber – nach Auffassung des supranationalen Gerichts – ihr Recht verletzten, die Meinung frei zu äußern. Spätestens seit diesem Urteil im Juli 2011 steht die Bundesrepublik zunehmend in der Kritik, nicht genug für den Schutz von Hinweisgebern zu tun.

Schwerer Stand für Whistleblower

In einer Sitzung am 13. Juni dieses Jahres lehnte der Deutsche Bundestag kurz nach Mitternacht drei Gesetzesinitiativen zum Schutz von Hinweisgebern mit einem knappen Nein und ohne jede Aussprache ab. Der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK) wertete daraufhin die Verweigerungshaltung der Regierungsparteien als ein fatales Signal an die Berufsgruppe Pflege, die bei Meldungen von Mängeln weiterhin Angst vor Repressalien haben müssten. Auch Transparency International fordert in einer aktuellen Studie über Betrug und Korruption im Bereich der Pflege den gesetzlichen Schutz von Whistleblowern vor arbeitsrechtlichen Konsequenzen.

Häufig wird darauf verwiesen, dass besonders in der deutschen Rechtskultur das Whistleblowing als problematisch empfunden wird. Denn ein Arbeitnehmer, der interne Missstände weitergibt, gilt als illoyal und als Denunziant. Die Diffamierung der mutigen Arbeitskräfte wurzele letztlich in einer von den Arbeitgebern kultivierten intensiven Gefolgschaftstreue, behaupten dagegen die Unterstützerkreise. Unterbelichtet bleibt in der Diskussion jedoch, dass Gesetzgeber und Richterschaft vor allem im Pflegebereich strikt gegen "illoyales" Handeln vorzugehen scheinen. Denn die Whistleblower durchbrechen als Insider punktuell den stillschweigenden Konsens, dass gesetztes Recht im Bereich der Altenpflege prinzipiell ausgehebelt wird ("permanenter Ausnahmezustand") – zum Wohle verschiedenster Interessengruppen (Sozialhilfeträger bzw. Kommunen, Pflegeversicherung, Dienstleister, "kostenbewusste" Angehörige).

Im Juni meldete die Hauptstadtpresse einmal mehr, dass der Berliner Senat in Kooperation mit den Pflegekassen und den Sozialhilfeträgern dem Pflegebetrug den Kampf angesagt habe. Der zuständige Senator fordere mehr Transparenz, unseriöse Anbieter sollten schneller erkannt werden, die zuverlässigen Pflegedienste dagegen einer verbindlichen Erklärung gegen Abrechnungsbetrug zustimmen. Dass die Behörden gegen betrügerische Unternehmen ermitteln, meldeten die Zeitungen in den letzten Jahren wiederholt. Es erhärtet sich allerdings der Eindruck, dass ein so in Szene gesetzter Aktivismus "von oben" gegen aufgedeckte Mängel die öffentlichen Gemüter beruhigen soll, damit die Pflegewelt insgesamt weiter "störungsfrei" im Modus des permanenten Ausnahmezustandes funktionieren kann. Das widerständige Verhalten "von unten" aber wird kaltgestellt.

Zum Autoren:

Joachim Maiworm lebt in Berlin, engagiert sich in der Erwerbslosenszene und ist zur Zeit Mitglied eines Solidaritäts-Komitees für eine Altenpflegehelferin. Zuletzt erschien von ihm in BIG BUSINESS CRIME der Beitrag "Pflege jenseits des Rechts".

BIG Business Crime ist eine Dreimonatszeitschrift des gemeinnützigen Vereins Business Crime Control e.V.
Herausgeber: Business Crime Control e.V., vertreten durch den Vorstand Erich Schöndorf, Stephan Hessler, Wolf Wetzel, Victoria Knopp, Hildegard Waltemate, Hans Scharpf, H.-Thomas Wieland
Mitherausgeber: Jürgen Roth, Hans See, Manfred Such, Otmar Wassermann, Jean Ziegler
Verantwortliche Redakteurin: Victoria Knopp
Redakteure: Gerd Bedszent, Reiner Diederich, Stephan Hessler

An dieser Stelle veröffentlichen wir ausgewählte Artikel aus der Zeitschrift BIG Business Crime online.

Beiträge in BIG Business Crime 04/2013 u.A.:

Wolfgang Hetzer: Finanzindustrie oder Organisierte Kriminalität?

Hans See: Gustl Mollath - Ein Opfer struktureller Bankenkriminalität

Thomas Barth: Privatisierung oder Korruption als Makrokriminalität

Gerd Bedszent: Jamaika - von der Plantagensklaverei bzum "War on crime"

Gitta Düperthal: Blockupy plant 2014 erneut Proteste

Angelika Grünberg: Das Geheimnis der Angela Merkel

Claudia Pinl: Ehrenamt und Gratisarbeit als Bestandteile neoliberaler Sparpolitik

Wolf Spermann: Verbrechen der Verharmlosung und was man dagegen tun kann

Horst Seiffert: Die Finanzkrise - ein kalkulierter Kollateralschaden

Peter Zingler: Kriminalität - Fantasie und Wirklichkeit

Joachim Maiworm: Altenpflege im Wettbewerbsstaat

Ingrid Düerkop: Jamel rockt den Förster

Reiner Diederich: Zeichen an der Wand

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Geschrieben von

BIG Business Crime

BIG Business Crime ist eine Drei-Monats-Zeitschrift des Vereins Business Crime Control e.V. Seit Ende 2018 online unter: big.businesscrime.de

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