„Es wird keine WM geben“

Weltmeisterschaft Im Juni 2013 artikulierte sich in Brasilien erstmals massenhaft öffentliche Kritik an den horrenden staatlichen Ausgaben für die Fußball-WM

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Foto:     Mario Tama/AFP/Getty Images
Foto: Mario Tama/AFP/Getty Images

Mit dem Ende des Confederations Cup wurde die Beteiligung an den Demonstrationen wieder deutlich geringer. Doch die Kritik an einer „WM nach FIFA-Norm“ und ihrer Umsetzung durch die Regierung von Dilma Rousseff ist bisher nicht verstummt, sondern hat sich radikalisiert. Die Regierungschefin ist seither auf Schlingerkurs – mal sucht sie den Dialog mit den sozialen Bewegungen, mal droht sie, das Militär bei möglichen Protesten während der WM einzusetzen. Ihre Position wird im Laufe dieses Jahres nicht einfacher, denn im Oktober sind Präsidentschaftswahlen.

Ausgelöst hatten die Proteste die jährlichen Fahrpreiserhöhungen im öffentlichen und privaten Nahverkehr. Bereits im März 2013 demonstrierten Studierende in Porto Alegre tagelang gegen eine Erhöhung des Busfahrpreises um 20 Centavos, zum damaligen Kurs rund 10 Eurocent. Mehrfach legten sie die gesamte Innenstadt lahm. Anfang April lenkte die Stadtverwaltung ein und nahm die Preiserhöhung zurück.

Auch in Natal erreichten die Studierenden Mitte Mai eine Reduzierung der ursprünglich geplanten Erhöhung um die Hälfte. Als dann Anfang Juni in Rio de Janeiro und Sao Paulo die Fahrpreise um 20 Centavos auf 2,95 R$ bzw. auf 3,20 R$ erhöht wurden, gingen binnen zwei Wochen Hunderttausende auf die Straße. “Lasst uns Porto Alegre wiederholen!” war einer der Slogans zu Beginn der Demonstrationen.

Es geht nicht um 20 Centavos, es geht um Rechte

„Die Bewegung für kostenlosen öffentlichen Nahverkehr, die vielleicht 40 Aktivisten in Sao Paulo hat und praktisch in nur fünf Ländern organisiert ist, hat es geschafft, in Brasilien Millionen zum Protest zu bewegen. Der Saldo besteht in fast 300 Verhafteten, sechs Toten, einer enormen Gewalt seitens der Polizei der verschiedenen Bundesstaaten, einer perplexen politischen Klasse und einer paralysierten Regierung“, analysierte Nildo Ouriques, Professor für Ökonomie und internationale Beziehungen an der Universität von Santa Catarina, die Situation nach den Protesten.

Wie konnte das passieren? Diese Frage stellte sich nicht nur für die „perplexe politische Klasse“ und die fassungslose Arbeiterpartei (PT), die seit zehn Jahren die PräsidentInnen stellt und aus den sozialen Bewegungen der 1980er Jahre hervorgegangen ist. Auch die gut organisierten, teilweise institutionalisierten Teile der sozialen Bewegungen in Brasilien haben die Protestwelle weder geplant, noch sie vorhergesehen und sie zu Beginn eher misstrauisch betrachtet.

Doch sie kam nicht aus dem Nichts: Die Bewegung für kostenlosen öffentlichen Nahverkehr (MPL) ruft bereits seit über zehn Jahren zu Demonstrationen gegen Tariferhöhungen auf und mobilisiert vor allem Studierende. Schon 2003 in Salvador de Bahia und 2004 in Florianópolis hatte sie Massenproteste ausgelöst. Als die Demonstrationen in Sao Paulo begannen, verteilten die AktivistInnen der MPL tausende von Plakaten und organisierten tägliche Kundgebungen.

Das öffentliche Nahverkehrssystem in den großen Städten Brasiliens ist teuer und extrem schlecht. Nur einige wenige private Busunternehmen, die die MPL als „Transportmafia“ bezeichnet, erhalten städtische Genehmigungen für den Personentransport. Die überfüllten, veralteten Busse fahren unregelmäßig und unzuverlässig, aber es gibt keine Alternative. Da in der Regel pro Busfahrt gezahlt wird, nehmen die meisten lange Fahrtzeiten und Umwege in Kauf, um nicht umsteigen zu müssen. Wer zwei oder gar drei Buslinien benutzen muss, um ans Ziel zu kommen, zahlt oft weniger Benzingeld im eigenen Auto, was dazu beiträgt, die Verkehrslage in den Städten an den Rand des Kollapses zu führen. Ein Drittel des Monatsgehalts muss jemand, der ein bis zwei Mindestlöhne verdient, monatlich für Fahrtkosten ausgeben, schätzt die MPL.

Nur wenige brasilianische Städte besitzen gut funktionierende und sichere U-Bahnlinien in der Innenstadt, allen voran Sao Paulo. Doch auch die Schienenstränge der Megalopole sind knapp halb so lang wie die der Berliner U-Bahn und es gibt nur ein Drittel der Haltestellen. Deshalb werden auch dort noch immer 70% aller Fahrgäste mit dem Bus transportiert. Zwei bis vier Stunden für den täglichen Weg zur Arbeit sind eher die Regel als die Ausnahme.

Trotz fehlender Investitionen in die Busse und schlechtem Service werden die Preise in Sao Paulo und anderswo jährlich um einen mit der Stadtverwaltung ausgehandelten Prozentsatz angehoben.

Gründe für die Massenproteste gegen Fahrpreiserhöhungen gab es also genug. Was jedoch die besondere Dynamik der Protesten im Juni letzten Jahres ausmachte, war die schnelle Entwicklung der Diskussion von der Tariferhöhung zu grundsätzlichen Fragen: Warum gibt es kein gutes Nahverkehrssystem? Wer entscheidet über öffentlichen Transport und warum? Wird das „Recht auf Stadt“ durch die fehlende Mobilität nicht extrem eingeschränkt? Dies war die Stunde des Slogans “Es geht nicht um 20 Centavos, es geht um unsere Rechte!”

Wir wollen ein Gesundheits- und Bildungssystem auf FIFA-Niveau!

Von dort war es nur noch ein kurzer Schritt zur allgemeinen Kritik an der Qualität und den Budgets für staatliche Dienstleistungen, allen voran des Gesundheitswesens und des Bildungssystems, die in krassem Gegensatz zu den staatlichen Ausgaben für den Bau der Fußballstadien stehen. „Bildung auf FIFA-Niveau!“ wurde eine der häufigsten Forderungen auf den Kundgebungen. Oder: „Wenn dein Kind krank wird, dann bring es doch ins Stadion.“

Auch wenn völlig unstrittig ist, dass sich das allgemeine Haushaltseinkommen seit dem Amtsantritt von Präsident Lula, dem ersten Präsidenten der PT, deutlich erhöht hat – so wurde der Mindestlohn schrittweise von 240 R$ im Jahr 2002 auf 678 R$ im Jahr 2013 angehoben – wurden die staatlichen Leistungen nicht im gleichen Ausmaß verbessert. In den kostenlosen Gesundheitszentren fehlen Ärzte und oft auch Medikamente, die Warteschlangen in den Notaufnahmen der Krankenhäuser sind endlos lang.

Hinzu kommt, dass vor allem die armen Bevölkerungsschichten von staatlichen Sozialtransfers der PT-Regierung profitieren, ebenso wie die reichsten Bevölkerungsteile von ihrer Wirtschaftspolitik. Die bildungshungrige und aufstiegswillige untere Mittelklasse konnte ihr Einkommen seit 2003, relativ betrachtet, weniger verbessern und kann staatlichen Leistungen nicht einfach durch private Schulen und Krankenversicherungen ersetzen.

So gingen vor allem nicht organisierte junge Erwachsene mit einem höheren Bildungsniveau auf die Straße. Nach einer Erhebung von Datafolha waren zwei Drittel der Demonstranten zwischen 21 und 35 Jahre alt, fast 80% besaßen einen höheren Schulabschluss, drei Viertel bezeichneten sich als parteilos. 64 Prozent der Befragten benutzen Omnibusse, 79 Prozent die U-Bahn – was auch auf ein eher geringes Einkommen schließen lässt.

Die Datenerhebung stimmt gut mit den Bildern der Demonstrationen überein, die überwiegend selbst gemalte Transparente und Schilder zeigen und deutlich weniger Fahnen und Banner als auf den Kundgebungen der „traditionellen“ sozialen Bewegungen, wie der Landlosenbewegung (MST) oder der Gewerkschaften. Beteiligt waren auch die in allen Austragungsorten bestehenden Basiskomitees zur WM (Comitê Popular da Copa), diese sehen sich aber nicht als Protagonisten der Proteste.

Nao vai ter copa – Es wird keine WM geben

Nach dem Endspiel des Confederations Cup am 30.6.2013 in Rio de Janeiro, das ebenfalls von einer Großdemonstration begleitet wurde, ist der Protest abgeflaut, aber nicht verstummt. Beispielsweise in Porto Alegre war die Protestbereitschaft im August immer noch so groß, dass über Tage hinweg das Bürgermeisteramt besetzt wurde. Ein „Legat“ der Juni-Proteste ist auch das Entstehen eines „Black Bloc“, der seither, vermummt und teilweise auch bewaffnet, regelmäßig bei Demonstrationen in Rio de Janeiro und Sao Paulo dabei ist.

Aktuell organisiert ein Bündnis unter dem Motto „Nao vai ter copa“ – „Es wird keine WM geben“ einmal monatlich in Sao Paulo eine Demonstration, bei der es im Februar mehr als 260 Festnahmen und viele Verletzte gab. „Die Repression ist hart – die Prügel auch!“, fasste der Journalist Leonardo Sakamoto die aktuelle staatliche Reaktion zusammen. Neben Androhungen der Präsidentin, bei Protesten während der WM auch Militär einzusetzen, werden im Kongress Gesetzesänderungen diskutiert, die Gewalt auf Demonstrationen als „terroristische Akte“ einstufen.
Dass dies auch großen Teilen der bürgerlichen Öffentlichkeit zu weit ging, könnte man möglicherweise als hoffnungsvolles Zeichen werten. Ebenso wie die Tatsache, dass es bei der März-Demonstration von „Es wird keine WM geben“ nur fünf Verhaftungen und eine entglaste Bank gab.

Aber auch zu Beginn WM 2014 ist schwer einzuschätzen, wie sich Proteste und staatliche Reaktionen in Brasilien weiter entwickeln werden.

Zur Autorin:

Claudia Fix ist freie Journalistin und Mitglied der Redaktion bei den Lateinamerika-Nachrichten.

s. auch: Staatsstreiche und Militärinterventionen in Lateinamerika

s. auch: Gekaufte Spiele - Brasilien vor der WM

s. auch: "Es wird keine WM geben"

s. auch: Gekaufte Spiele - Gewinner und Verlierer der WM stehen schon fest: Aufzeichnungen einer Veranstaltung in Frankfurt am Main am 17.05.2014

  1. Einleitung

  2. Traum oder Albtraum
    Die sozialen Unruhen in vielen brasilianischen Städten und Regionen im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft. Von Claudia Fix, Redaktionsmitglied der Lateinamerika-Nachrichten in Berlin

  3. Mythos Maracanã
    Die Geschichte des legendären Stadions in Rio de Janeiro ist mehr als ein Fußballmärchen. Von Thomas Fatheuer, Vorstandsmitglied bei Kooperation Brasilien e.V. (KoBra)

  4. Weltkonzern Fußball
    Das System Blatter und Fußball als Modernisierungsmythos. Ein Vortrag von Jens Weinreich, Sportjournalist und FIFA-Kritiker

s. auch Lateinamerika-Nachrichten: Lieber Brot als Spiele - Statt Karnevalsstimmung herrscht in Brasilien vor der Heim-WM große Wut auf die FIFA

s. auch ZEIT online: Abpfeifen! Jetzt!

s. auch hr 2 / Kultur "Der Tag": Fußball ist nicht Leben - Brasilien und die WM (Audio-Podcast mp3)

s. auch Deutschlandradio: Fussball-WM - Brasilien tritt Menschenrechte mit Füßen (Audio-Podcast mp3)

BIG Business Crime ist eine Dreimonatszeitschrift des gemeinnützigen Vereins Business Crime Control e.V.

Herausgeber: Business Crime Control e.V., vertreten durch den Vorstand Erich Schöndorf, Stephan Hessler, Wolf Wetzel, Victoria Knopp, Hildegard Waltemate, Hans Scharpf, H.-Thomas Wieland
Mitherausgeber: Jürgen Roth, Hans See, Manfred Such, Otmar Wassermann, Jean Ziegler
Verantwortliche Redakteurin: Victoria Knopp
Redakteure: Gerd Bedszent, Reiner Diederich, Stephan Hessler

An dieser Stelle veröffentlichen wir ausgewählte Artikel aus der Zeitschrift BIG Business Crime online.

Beiträge in BIG Business Crime 02/2014 u.A.:

Wolf Wetzel: Gekaufte Spiele

Thomas Fatheuer: Fußball zwischen Diktatur und Demokratiebewegung

Claudia Fix: "Es wird keine WM geben"

Hans See: Zum 80. Geburtstag von Jean Ziegler

Vladimiro Giacché: Von einer Krise zur anderen - wie weiter?

Reiner Diederich: Quo Vadis Europa?

Gerd Bedszent: Machtkamps in der Ukraine

Wolf Wetzel: Der blinde Flecck, der äußerst gut sehen kann

Claudia Fix ist Publizistin und Redaktionsmitglied der Lateinamerika-Nachrichten.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Claudia Fix | BIG Business Crime

BIG Business Crime ist eine Drei-Monats-Zeitschrift des Vereins Business Crime Control e.V. Seit Ende 2018 online unter: big.businesscrime.de

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