Gekaufte Spiele

Brasilien vor der WM Ein Beitrag von Wolf Wetzel aus der Dreimonatszeitschrift BIG Business Crime, Ausgabe 02/2014

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"Keine Sklaven in Katar gesehen. Die laufen alle frei rum. Weder in Ketten gefesselt oder mit Büßerkappe am Kopf." Das sagte der Ex-Fußballspieler, "Kaiser", Ex-Präsident des Organisationskomitees der WM 2006 Franz Beckenbauer – mit Blick auf die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen in Katar.

Nunca mais - Nie wieder!

Bevor im Juni die Fussball-WM beginnt, beging Brasilien im März ein trauriges Jubiläum: Es jährte sich zum 50. Mal der Beginn der Militärdiktatur, die am 31. März 1964 die Macht an sich riss und 21 lange bleierne Jahre andauerte. Es sind nicht alleine die Erinnerungen, die die Militärdiktatur präsent werden lassen, sondern auch ihre Spuren, die bis in die Gegenwart hineinreichen.

1964 stürzte das Militär die amtierende Regierung, löste das Parlament auf, erließ ein Parteien-Verbot, zerstörte die Gewerkschaften und etablierte die Diktatur durch systematische Folterungen, durch das Verschwindenlassen von missliebigen Personen, z.B. indem man zuvor gefolterte Personen ins offene Meer warf: "Aktuelle Untersuchungen konnten bislang 475 Ermordete und Verschwundene nachweisen; über 24.000 Personen wurden verfolgt und inhaftiert." (Brasilicum, Nr. 232, S.3)

Für die allermeisten Menschen in Brasilien brach eine bleierne Zeit an, die nicht enden wollte. Für ausländische Investoren brach ein goldenes Zeitalter an: Der Ausbeutung von Menschen und Ressourcen waren keine Grenzen gesetzt. In den meisten westlichen Staaten verstand man diese terroristischen Umständen als "wirtschaftsfreundliches Investitionsklima" unter "stabilen" politischen Rahmenbedingungen.

Die Bundesregierung und Bundespräsident Lübke (CDU) waren die ersten, die den Militärs gratulierten – fünf Wochen nach dem Putsch. In den folgenden Jahrzehnten schlossen sich alle im Bundestag vertretene Parteien diesem Votum an: 1975 pries der FDP-Außenminister Genscher bei seinem Besuch die "Atmosphäre des Vertrauens, die für das deutsch-brasilianische Verhältnis charakteristisch ist". Höhepunkt dieser Zusammenarbeit war der deutsch-brasilianische Atomvertrag, an dessen Zustandekommen parteiübergreifend gearbeitet wurde, über Franz-Josef Strauß (einst Atomminister), SPD-Bundeskanzler Willy Brandt bis hin zu Bundeskanzler Helmut Schmidt, der den Vertrag schließlich unterzeichnete.

Die freundschaftliche Verbundenheit mit einer Diktatur spiegelte sich auch auf der ökonomischen, geschäftlichen Ebene wider. Große deutsche Unternehmen sahen die terroristischen Arbeitsverhältnisse nicht als ein Menschheitsverbrechen, sondern als optimale Investitionsbasis, die der damalige Vorstandsvorsitzende der Volkwagen AG, Rudolf Leidig im Jahr 1974 so umschrieb: "Ich bin überzeugt, dass Brasilien vom politischen Gesichtspunkt aus sicherlich das stabilste Land in ganz Lateinamerika ist. Die Tatsache, dass hier in Europa gelegentlich Kritik gegenüber dem System laut wird, beruht sicherlich darauf, dass man hier nicht die nötige Einsicht und Kenntnis über das Land besitzt." (Brasilicum, Nr. 232, S.4)

Nur ein Jahr später erteilte die Bundesregierung dem Waffenhersteller Heckler & Koch die Genehmigung, eine Lizenz zur Produktion des G3-Gewehres an die brasilianische Diktatur zu vergeben.

Diese Sympathie gegenüber diktatorischen Verhältnissen teilte sich der VW-Konzern mit vielen deutschen Unternehmen. Mehr noch: Sie arbeiteten der Militärdiktatur direkt in die Hände, wenn es darum ging, Arbeiter dem Geheimdienst auszuliefern oder durch Spitzel an Informationen zu gelangen, die direkt an die politische Polizei (DEOPS) weitergegeben wurden.

Die Diktatur endete 1985 – die Macht der Militärs, ihre Straffreiheit bis heute, das Schweigen derer, die diesen "demokratischen" Übergang einleiteten, der Preis, der gezahlt wurde, damit sich die Militärs zurückziehen, der Preis, den die Parteien bezahlen, damit sie an der Macht sein dürfen – all das bezahlen die Menschen in Brasilien noch heute.

"Die Initiative Nunca Mais – Nie Wieder organisiert … die Nunca Mais Brasilientage. Von März bis Juni 2014 wird es bundesweit Filmreihen, Workshops und Gesprächsrunden mit namhaften Experten und Zeitzeugen geben. Die Städte, in denen die Veranstaltungen stattfinden, sind u.a. Berlin, Köln, Bonn, Frankfurt am Main, Leipzig, Hamburg und Bielefeld. Parallel werden ähnliche Veranstaltungen in mehreren Städten Brasiliens organisiert.

Im Rahmen der Nunca Mais Brasilientage wird insbesondere der aktuelle Stand der Aufarbeitung in Brasilien diskutiert, wie sie seit Einsetzung der nationalen Wahrheitskommission 2012 nunmehr offiziell begonnen hat. Die brasilianische Militärregierung war die erste von vielen Militärregierungen in Lateinamerika, die ab den 1970er Jahren insbesondere in Chile und Argentinien blutige Spuren hinterließen.

Als übergreifender Schwerpunkt werden insbesondere die engen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Brasilien während der Diktatur beleuchtet. Wer waren die deutschen Freunde des Militärs? Wer unterstützte die politisch verfolgten Brasilianer in Deutschland? Aktuelle menschenrechtliche Probleme in Brasilien wie Polizeigewalt und die Gewalt und Diskriminierung gegenüber Indigenen sollen ebenfalls diskutiert werden."

"Wenn mein Kind krank ist, bringe ich es in ein Stadion"

Nichts gegen Fußball, aber darum geht es die wenigste Zeit, wenn man von der WM 2014 in Brasilien spricht. Denn gewonnen haben andere, lange bevor das erste Spiel angepfiffen wird: der Fifa-Konzern, der Blatterismus, die Firmen, die den Gewinn unter sich aufteilen und die gegenwärtige Regierung in Brasilien, die ein Land zwischen glitzernder Wonderworld und ständig tanzendem melting pot präsentieren möchte – in einer Zeit, wo Brasilien tatsächlich eher ein Schlachtfeld ist, auf dem verschiedene politische, geostrategische und soziale Konflikte ausgetragen werden: Brasilien auf dem Weg, in die Liga der Global Player aufzusteigen, Brasilien als die Nr. 1 der BRIC-Staaten, Brasilien als gigantischer Rohstofflieferant (Öl, Mais, Gold etc.), Brasilien als Agrar-Großmacht…

Wie überall auf der Welt, wo der WM-Zirkus Halt macht, setzt er auf den Fußball-Nationalismus. FasziNation Fußball soll alles, was es sonst noch gibt, in den Schatten stellen, so auch in Brasilien: Bevor der Ball rollt, hat das Geld längst das Spiel gemacht: Gigantische Infrastrukturmaßnahmen, die ganze Stadtteile dem Erdboden gleichmachten, an denen sich die Bauindustrie eine goldene Nase verdiente.

Während sich Brasilien darauf vorbereitet, die Gäste aus aller Welt herzlich zu empfangen, wurde unerwünschte Bevölkerung aus dem Weg geräumt: "Allein in den zwölf Ausrichterstädten der WM (einschließlich Rio als Austragungsort der Olympischen Spiele) wurden demnach bereits über 250.000 Menschen aus ihren Häusern geräumt oder sind von Räumung bedroht."

Die WM verstärkt eine Entwicklung in Brasilien, die vor allem in den Großstädten eine Gesellschaft hervorbringt, die in zwei "gated communities" zerfällt: Die erste ist die der Wohlhabenden, die sich hinter hohen Mauern und privaten Sicherheitsdiensten verschanzen. Die zweite ist die der favelas, der Armenviertel, die von ersteren eingeschlossen werden. Das ist durchaus wörtlich gemeint: Seit 2000 hat die Stadtregierung von Rio de Janeiro damit begonnen, eine zwölf Kilometer lange und drei Meter hohe Mauer zu bauen, die insgesamt dreizehn Favelas umschließen soll.

Und natürlich ist jede WM (wie die Olympischen Spiele auch) viel mehr als der globale Wettbewerb von "nationalen", allerdings längst multikulturellen Fußball-Mannschaften. Sie imaginiert eine Weltgemeinschaft, die alle vereint und alle Klassenunterschiede, Bürgerkriege und Kriege verschwinden bzw. vergessen lässt: Fußball, der friedlich und beglückt zusammenbringt, was vor und nach einer WM das Leben für viele bestimmt und prägt: immer größer werdende soziale Unterschiede, eine zunehmende Verpolizeilichung gesellschaftlicher Konflikte, Unterdrückung demokratischer Bestrebungen.

Diese wachsende Spaltung der Gesellschaft wird auch in den WM-Stadien geradezu beispielhaft nach- und abgebildet: Für die bevorstehende WM wurde das Stadion in Rio de Janeiro, das Maracanã, umgebaut. Dort finden jetzt 80.000 Menschen Platz: 40.000 Sitzplätze sind als VIP-Bereich ausgewiesen, also für ungefähr ein Prozent der Bevölkerung.

Die andere Hälfte dürfen sich 99 Prozent der Bevölkerung teilen. (So Carlos Vainer, Professor für Urbanistik des Instituts für Stadt- und Regionalplanung Ippur der Bundesuniversität von Rio de Janeiro und Mitglied des lokalen Basiskomitees Rio de Janeiro zur Fußballweltmeisterschaft und den Olympischen Spielen)

Proteste auf FIFA-Niveau

Im Juni letzten Jahres sind Hundertausende auf die Straße gegangen, um ihren Unmut gegenüber der Regierungspolitik zum Ausdruck zu bringen. Die Proteste wurden aber nicht nur durch die Wut über die korrupte Fußballmafia ausgelöst, sondern vor allem durch den Kampf gegen die Tariferhöhungen im öffentlichen Nahverkehr, der in Brasilien von miserabler Qualität ist und vorwiegend durch die Interessen der großen Busunternehmen bestimmt wird.

Auf den Demonstrationen machten unzählige, spontan entstandene Parolen und Slogans die Runde: "Ich kann ohne WM auskommen: Ich will Gesundheit, Arbeit und Bildung", "Politiker, ihr habt jetzt nichts mehr zu lachen", "Pelé und Ronaldo: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold". Als Antwort schickte man Polizeieinheiten, die den Protest im Keim ersticken sollten. Das Gegenteil war der Fall. Der Protest hat zwar ein Mega-Event zum Anlass genommen, aber er geht mittlerweile weit darüber hinaus.

Aller Voraussicht nach wird im Juni nicht nur Fußball gespielt. Zahlreiche Basiskomitees haben auch "Demonstrationen auf FIFA-Niveau" angekündigt. Sie wollen die Proteste, die im letzten Jahr begonnen wurden, fortsetzen. Die Menschen wollen einen "Nahverkehr auf Fifa-Niveau". Gleiches beanspruchen sie auch für Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten und Arbeitsverhältnisse. Die WM wird also nicht nur auf dem Fußballfeld entschieden. Auch in den Städten, auf dem Land und in den Regenwäldern Brasilien.

Nicht der Fußball, nicht die Freude am Spiel, sondern die asoziale Dampfwalze des Weltkonzerns Fußballgeschäft steht in der Kritik der diesjährigen Fachtagung von Business Crime Control e.V. am 17. Mai 2014.

s. auch Lateinamerika: Staatsstreiche und Militärinterventionen

Zum Autoren:

Wolf Wetzel ist Publizist und stellvertretender Vorsitzender von Business Crime Control e.V.

BIG Business Crime ist eine Dreimonatszeitschrift des gemeinnützigen Vereins Business Crime Control e.V.
Herausgeber: Business Crime Control e.V., vertreten durch den Vorstand Erich Schöndorf, Stephan Hessler, Wolf Wetzel, Victoria Knopp, Hildegard Waltemate, Hans Scharpf, H.-Thomas Wieland
Mitherausgeber: Jürgen Roth, Hans See, Manfred Such, Otmar Wassermann, Jean Ziegler
Verantwortliche Redakteurin: Victoria Knopp
Redakteure: Gerd Bedszent, Reiner Diederich, Stephan Hessler

An dieser Stelle veröffentlichen wir ausgewählte Artikel aus der Zeitschrift BIG Business Crime online.

Beiträge in BIG Business Crime 02/2014 u.A.:

Wolf Wetzel: Gekaufte Spiele

Thomas Fatheuer: Fußball zwischen Diktatur und Demokratiebewegung

Claudia Fix: "Es wird keine WM geben"

Hans See: Zum 80. Geburtstag von Jean Ziegle

Vladimiro Giacché: Von einer Krise zur anderen - wie weiter?

Reiner Diederich: Quo Vadis Europa?

Gerd Bedszent: Machtkamps in der Ukraine

Wolf Wetzel: Der blinde Flecck, der äußerst gut sehen kann

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

BIG Business Crime

BIG Business Crime ist eine Drei-Monats-Zeitschrift des Vereins Business Crime Control e.V. Seit Ende 2018 online unter: big.businesscrime.de

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