Pflege jenseits des Rechts

von Joachim Maiworm Ein Beitrag aus der Drei-Monats-Zeitschrift BIG Business Crime, Ausgabe 02/2013

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Anfang März klagte Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) über illegale Praktiken in der Pflegebranche und sprach sich dafür aus, Abrechnungsbetrug bei ambulanten Pflegediensten konsequent zu verfolgen. Das Ausmaß des Betrugs auf Bundesebene konnte er allerdings nicht beziffern.
Schon im Herbst 2011 bezeichnete der damalige Sozialstadtrat von Berlin-Neukölln und heutige Staatssekretär für Soziales im Berliner Senat, Michael Büge (CDU), diese Strukturen als "mafiös". Allein in der Hauptstadt würde etwa ein Drittel der 560 ambulanten Pflegedienste systematisch betrügen und dabei rund 100 Millionen Euro im Jahr zu Unrecht abrechnen. Die Pflegeverbände reagierten sofort, beschworen pflichtschuldig die Null-Toleranz-Grenze für kriminelles Handeln von Pflegeunternehmen, wiesen jedoch zugleich jeden Generalverdacht gegen die Branche zurück. Ende letzten Jahres berichteten dann die Medien über einen kriminellen Unternehmer, der bundesweit mehrere ambulante Dienste betrieb und von den Pflegekassen Beträge im zweistelligen Millionenbereich für fiktive Patientenbesuche kassierte. Der Betrug flog offensichtlich auf, weil eine ambulante Pflegerin in Bremen bei der Kasse 15 Patientenbesuche innerhalb von vier Stunden abrechnete. Dazu hätte sie in dieser Zeit allerdings 219 Kilometer zurücklegen müssen, so berichtete SPIEGEL Online süffisant.
Aber nicht nur in der ambulanten Szene, sondern auch im stationären Bereich ist die kriminelle unternehmerische Energie zu Hause. Und die zeigt sich besonders bei der systematisch betriebenen Unterschreitung der geforderten Fachkraftquote. In den Heimgesetzen wird ein Anteil von 50 Prozent fachlich ausgebildeter Kräfte am Bestand des Pflegepersonals verlangt. Die Journalistin Anette Dowideit recherchierte über den hessischen Pflegeheim-Konzern Casa Reha und beschrieb als das Ergebnis personeller Unterausstattung eine Vielzahl pflegerischer Missstände (Unterernährung, Dehydrierung, unzureichende Versorgung von Wunden usw.). Die Unternehmensgruppe betreibt nach Angaben des Branchendienstes Care Invest über 60 Pflegeheime in Deutschland mit fast 10.000 Plätzen und stieg aufgrund einer aggressiven Wachstumspolitik im Ranking 2013 der größten Betreiber auf Platz 3 auf. Nach Angaben der hessischen Heimaufsicht, so die Journalistin, kommen in dem Bundesland "leichte Unterschreitungen" der Fachkraftquote in jedem vierten Heim vor. Sie selber schätzt, dass im Schnitt jedes fünfte Altenpflegeheim in Deutschland die Bewohner und Pflegekassen gleichermaßen betrügt, indem weniger Pflegekräfte beschäftigt werden als mit den Kostenträgern vereinbart, um so die eingesparten Personalkosten als Extra-Profite einstreichen zu können. (vgl. Anette Dowideit: Endstation Altenheim. Alltag und Missstände in der deutschen Pflege, München, 2012, S. 37. Anderen Studien zufolge konnten in Hessen im Jahr 2011 jedoch nur 67 Prozent der Heime die geforderte Zahl examinierter Kräfte nachweisen. [vgl. Care konkret, 28.9.12, S. 6])

Einzelne Pflegekräfte wehren sich

Vor diesem Hintergrund entschlossen sich in den vergangenen Jahren einzelne Altenpflegerinnen zu einem hartnäckigen individuellen Widerstand gegen Pflegeunternehmen und die von ihnen zu verantwortende unerträgliche Situation der Hilfebedürftigen und der Beschäftigten.
Im Mai vergangenen Jahres endete vor dem Berliner Landesarbeitsgericht ein jahrelanger Rechtsstreit von Brigitte Heinisch gegen den Klinikkonzern Vivantes mit einem Vergleich. Bereits Ende 2004 hatte sie das landeseigene Unternehmen wegen schwerer Pflegemängel angezeigt. Daraufhin wurde ihr gekündigt. Sie warf dem Heimbetreiber Betrug vor, denn er rechnete ihrer Auffassung nach nicht erbrachte Leistungen ab. Frau Heinisch zog vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und bekam Recht. Das Gericht bewertete die Kündigung als Verletzung des Rechts auf freie Meinungsäußerung. Sie durfte die skandalösen Bedingungen in dem Pflegeheim öffentlich machen ("Whistleblowing"). Die Kündigung selbst war damit aber noch nicht vom Tisch und wurde deshalb erneut dem Landesarbeitsgericht vorgelegt.
Ein anderer, besonders drastischer Fall: Die Pflegehilfskraft Angelika-Maria Konietzko arbeitete einige Jahre für einen privaten Pflegedienst in Berlin. Sie leistete in einer Wohngemeinschaft für demente Patienten in Nachtschichten die notwendige Betreuung und Überwachung. Von ihrem Arbeitgeber wurde ihr aber Lohn vorenthalten, denn er bezahlte sie lediglich für geringer zu vergütende Bereitschaftsdienste. Konietzko versuchte den ausstehenden Lohn einzuklagen und zugleich gegen die völlig unzureichende Betreuung der schwerstpflegebedürftigen Bewohner/innen anzugehen. Bei ihrem Engagement gegen diese "gefährliche Pflege" erhielt sie Unterstützung von mehreren Pflegeverbänden. Das hielt den verklagten Geschäftsführer und seinen Anwalt nicht davon ab, die widerständige Angestellte mit Mobbing und Abmahnungen bis in die langfristige Arbeitsunfähigkeit zu treiben. Anschließend erhielt sie krankheitsbedingt eine Kündigung. Nach verloren Prozessen wegen Lohnnachzahlung und Mobbing wurde am 29.11.2012 auch die Kündigungsschutzklage von Frau Konietzko vom Berliner Landesarbeitsgericht zurückgewiesen. Alle Gerichtsverfahren waren nach Auffassung der Pflegerin davon geprägt, dass der Rechtsanwalt des beklagten Pflegeunternehmens vor Gericht beharrlich wahrheitswidrige Angaben über den nötigen Versorgungsstandard in der Demenz-WG machte. Um auf das bestehende Unrecht hinzuweisen, weigert sich Frau Konietzko seit den verlorenen Verfahren konsequent, die Anwaltskosten der Gegenseite sowie die angefallenen Gerichtskosten zu bezahlen. Daher droht ihr seit über einem Jahr eine mehrmonatige Erzwingungshaft.

Gerichte an Pflegerealität nicht interessiert

Die juristischen Auseinandersetzungen der Pflegerinnen werfen zum einen ein Schlaglicht auf die zum Teil katastrophalen und den rechtlichen Normen widersprechenden Arbeits- und Lebensbedingungen im Pflegesektor. Zum anderen wird deutlich, gegen welche juristischen Widerstände diejenigen ankämpfen müssen, die als Pflegekräfte nicht alle Diskriminierungen in ihrem Arbeitsbereich schlucken wollen. Insbesondere erweist sich die Beweislage für sich wehrende Beschäftigte als außerordentlich schwierig. Deutlich wurde in den juristischen Verfahren der Pflegerinnen Heinisch und Konietzko, dass die Beschäftigungsverhältnisse zum Teil so angelegt sind, dass sie kaum gesetzeskonform ausgefüllt werden können.
Die Arbeitskräfte werden durch die Arbeitsüberlastung faktisch in die Zwangslage gebracht, Pflegedokumentationen in den Einrichtungen zu fälschen, um den rechtlichen Anforderungen formal zu genügen – und sich damit juristisch sogar selbst zu gefährden. Die Struktur selbst, das heißt die Organisation der Arbeitsabläufe, erzwingt den Rechtsbruch im Pflegebereich. Einer formellen Direktive der jeweiligen Geschäftsführung bedarf es dazu nicht. Es ist deshalb nur schwer möglich, die offensichtlich großflächig von den Managements der Pflegefirmen begangenen Abrechnungsbetrügereien und deren Verantwortung für die Fälschung von Leistungsnachweisen zu beweisen.
Als fatal erweist es sich, dass sich die Arbeitsgerichte bislang nur formaljuristisch für die Alltagswirklichkeit einer Pflegekraft interessieren, ohne einen Blick auf die empirische Realität zu werfen. Die Darstellungen der Arbeitgeberseite zur Pflegesituation und die Verschleierung der "gefährlichen Pflege" im Fall Konietzko wurden nicht hinterfragt, die Stellungnahmen unabhängiger, die Sicht der Pflegerin stützender Pflegeverbände schlicht ignoriert. Auch Frau Konietzko beschuldigte beispielsweise den Pflegedienst des Abrechnungsbetrugs gegenüber den Pflegekassen. Die Richter weigerten sich aber konsequent, eine Beweisaufnahme durchzuführen, das heißt die Vorwürfe zu überprüfen und sich mit der konkreten Lebens- und Arbeitssituation in der WG für Demente auseinanderzusetzen. Es zeigt sich an diesem Fall deutlich, dass die bundesdeutschen Gerichte sich quer stellen, wenn es darum geht, in ihrer Rechtsprechung die tiefe Kluft zwischen der vom Kostendruck geprägten Pflegerealität und den in diesem Bereich offiziell geltenden Normen und Standards im Interesse der betroffenen Menschen zu reflektieren. Einzelne widerständige Pflegekräfte laufen deshalb gegen eine nahezu undurchdringliche juristische Wand.

Die Folgen der forcierten Kostenorientierung

Die viel zitierte "gefährliche Pflege" lässt sich an einigen Beispielen aufzeigen. Um den Personalmangel kompensieren zu können, erhalten "unruhige" Bewohner/innen von Einrichtungen häufig Beruhigungsmittel, die Nebenwirkungen wie Verwirrung und Sturzgefahr auslösen können. Im krassen Gegensatz dazu wird die Vergabe von Alzheimer-Medikamenten rationiert. Psychotherapie bieten die Altenheime, wenn überhaupt, nur ansatzweise an. Das Recht auf Kommunikation, nach den Lehrbüchern der Pflege die Basis jeglichen pflegerischen Tuns, wird den Patienten aus Kostengründen weitgehend vorenthalten. Laut Qualitätsbericht des Medizinischen Dienstes (MDS) vom April 2012 sind mindestens 20 Prozent der Bewohner/innen von Pflegeheimen freiheitseinschränkenden bzw. -entziehenden Maßnahmen ausgesetzt (Fixierungen, Fesselungen usw.).
Folgerichtig beklagen selbst Vertreter der Polizei gewalttätige Übergriffe in den Heimen. Ältere Menschen, so der Vorsitzende der Polizeigewerkschaft, würden dort immer öfter Opfer von Straftaten wie Körperverletzungen und Vernachlässigung. Er fordert sogar eine Anhebung des Personalschlüssels und kritisiert die einseitig ökonomische Ausrichtung der Einrichtungen (vgl. Care konkret, 25.1.2013, S. 8 und 1.3.2013, S. 6.). Unterstützt wurde er unter anderen von der Opferorganisation Weißer Ring, dem Kuratorium Deutsche Altershilfe und dem Sozialverband Deutschland (SoVD).
Dass die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter zukünftig auch Pflegeheime kontrollieren wird, passt ins Bild. Bisher stattete sie vornehmlich Bundeswehrkasernen und Gefängnissen stichprobenartig Besuche ab.
Pflegeskandale und das Wissen über unhaltbare Zustände in Heimen schreiben sich ins Bewusstsein der Menschen ein: Nach dem AWO-Sozialbarometer sind 63 Prozent der Bundesbürger in Sorge, ihre finanziellen Mittel könnten später nicht ausreichen, um sich vor allem bei Pflegebedürftigkeit eine angemessene Versorgung leisten zu können. Laut einer Umfrage von Infratest würde rund die Hälfte der Deutschen lieber den Freitod wählen, als auf Dauer pflegebedürftig zu werden (vgl. Care konkret, 4.1.2013, S. 3; 18.1.2013, S. 2 und 1.2.2013, S. 9.).

Steigende Budgetbelastung durch Gesundheitskosten

Die Sorgen der Menschen sind berechtigt. Denn die Pflegebedürftigen werden den nationalen Wettbewerbsstaaten zu teuer. Die US-amerikanische Ratingagentur Standard & Poor's (S&P) erließ Anfang letzten Jahres eine unmissverständliche Aufforderung an die Adresse einiger führender Industrienationen in Europa, aber auch an die Japans oder der USA, ihre Gesundheitsausgaben radikal zu kürzen. Nach Einschätzung von S&P drohe einer Reihe von Staaten ab 2015 die Herabstufung ihrer Top-Bonität, sollten sie wegen des demografischen Wandels und der Schuldenkrise die Ausgaben für ihr Gesundheitswesen nicht in den Griff bekommen.
Die Daumenschrauben werden also weiter angezogen. Dabei wird pflegerisches Handeln schon seit Jahren zunehmend unter ökonomische Parameter gefasst. Die Umstrukturierung nach rein marktwirtschaftlichen Kriterien, angetrieben durch die Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 1995, führte in diesem Segment zu einer allgemeinen Kostensenkungsstrategie. Der steigende Anteil privater Betreiber sowohl im ambulanten wie im stationären Bereich, gesteigerte Renditeerwartungen von sieben Prozent und mehr für die Kapitalanleger im Altenpflegeheimsektor (plus Unternehmergewinn!) erzeugen aufgrund der Reduzierungen beim größten Kostenblock, den Personalaufwendungen, die "gefährliche Pflege".
Gute Pflege aber basiert in erster Linie auf Beziehungsarbeit. Wird der Rotstift gezückt und am Personal gespart, sind schleichende Rationierungen an der Tagesordnung. Das heißt, pflegerisch notwendige Leistungen werden nicht explizit begrenzt oder ausgeschlossen, sondern die Inanspruchnahme mittelbar, zum Beispiel durch gedeckelte Budgets, verhindert. In diesem Bereich klaffen mittlerweile der rechtliche bzw. normative Anspruch und die Wirklichkeit so weit auseinander, dass sich das Missverhältnis nicht mehr als eine vorübergehende Abweichung beschreiben lässt. Eher muss von einem "permanenten Ausnahmezustand" gesprochen werden.
Die Debatten der letzten Jahre um Autonomie auch im letzten Lebensabschnitt, um Sterbehilfe und Patientenverfügungen, erwecken jedoch den Eindruck, das größte Problem schwerkranker oder hilfsbedürftiger Menschen wäre eine (apparate-)medizinische und betreuerische Überversorgung. Richtig ist dagegen, dass schon lange eine stete, eher im Verborgenen ablaufende Rationierung von Leistungen für Alte und Kranke durchgeführt wird. Von Wissenschaftlern und Ärzteverbänden wird jedoch seit Jahren gefordert, dass sich Politik und Medien offen zu Zuteilungsregeln und Ausschlussverfahren, sprich einer "optimierten Allokation" der zur Verfügung stehenden Ressourcen für Kranke und Pflegebedürftige, bekennen.
Klare gesetzgeberische Vorgaben seien zu beschließen, die eine eindeutige Auskunft darüber geben, wer in welcher Situation Anspruch auf bestimmte medizinische Leistungen hat. Der Verzicht auf eine offene Debatte helfe wenig. Denn rationiert werde sowieso schon – Patienten und Pflegebedürftige spürten das täglich –, nur entschieden und verantworteten dies zurzeit Ärztinnen und Ärzte bzw. Pflegekräfte vor Ort. Ende Januar 2011 legte beispielsweise der Deutsche Ethikrat eine Stellungnahme zum Kosten-Nutzen-Verhältnis im Gesundheitswesen vor. Der Think Tank, der unter anderem Empfehlungen für politisches und gesetzgeberisches Handeln erarbeiten soll, geht davon aus, dass notwendige Leistungen im Gesundheitssystem künftig aus Kostengründen rationiert werden müssen. Die Stellungnahme zielte darauf ab, die in zahlreichen Staaten ablaufenden Debatten über die "Grenzen der Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens" auch in Deutschland zu forcieren.

Staat animiert Pflegeunternehmen zum Rechtsbruch

Die staatlichen Institutionen folgen dieser Aufforderung (noch) nicht. Sie favorisieren ein eher verdecktes Spiel, indem der sozialrechtliche Anspruch auf eine menschenwürdige Pflege – inklusive der festgelegten Qualitätsstandards – zwar formal garantiert wird, durch die staatlich regulierte Deckelung der Kosten aber ein Rationalisierungsdruck auf die freigemeinnützigen und privaten Träger aufgebaut wird, der sie unter Berücksichtigung der eingeplanten Gewinnmargen faktisch in den Rechtsbruch treibt. Nach dem Motto "Eine Hand wäscht die andere" drücken Sozialämter und Pflegekassen in den Pflegesatzverhandlungen die Entgelte für die Betreiber, verzichten im Gegenzug aber auf flächendeckende und wirksame Kontrollen durch die Heimaufsicht und den Medizinischen Dienst. Die den Pflegesektor normierende rechtliche Hülle bleibt auf diese Weise weitgehend stabil, die Substanz der Normen und Standards jedoch bröckelt. Das Recht wird auf diese Weise nicht formal, aber faktisch suspendiert – als Reaktion auf den seit Jahren beschworenen Pflegenotstand.

"Totale Institutionen"

Pflegeheime stellen insofern eigenartige Zonen der Rechtlosigkeit im Recht dar. Dort und in anderen sozialen Einrichtungen ist das Recht offenkundig nur begrenzt gültig. Denn nach einer Theorie des amerikanischen Soziologen Erving Goffman ähneln Heime hinsichtlich der eingeschränkten Mobilität der Bewohner/innen, ihrer Abschottung gegenüber der Außenwelt und der Kontrolle über das Verhalten "totalen Institutionen", also Erziehungsheimen oder Gefängnissen, deren zentrales Merkmal darin besteht, dass alle Aktivitäten des täglichen Lebens unter einem Dach und einer Autorität zusammengefasst werden. Die Folge: Nicht nur der Schutz der Privatsphäre und die üblichen Regeln des Respekts werden häufig verletzt, sondern gesetzlich vorgeschriebene Standards nicht eingehalten und/oder vertraglich vereinbarte Leistungen mangels Personal nicht erbracht.
Die betroffenen Seniorinnen und Senioren reagieren darauf oft mit Protesten und Aggressionen, die als Persönlichkeitsdefizite und nicht als legitime Rebellion gedeutet werden. In der Regel bleibt ihnen aber nur die Selbstaufgabe – ebenso wie die Mitarbeiter/innen eher den Rückzug als den Widerstand wählen. Denn Pflegebedürftige und Pflegekräfte sind vereint in ihrer gemeinsamen Perspektivlosigkeit. Die Beschäftigten fügen sich einer zunehmenden Arbeitsverdichtung, die den Trend zum Burnout verstärkt.
Brigitte Heinisch und Angelika-Maria Konietzko haben mit ihren "Störaktionen" zumindest punktuell die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf den Pflegesektor gelenkt. Selbst die ausschließliche Beschreitung des Rechtsweges wird, wenn hartnäckig verfolgt, als renitentes, nicht systemkonformes Verhaltens gewertet – und mit Mobbing, Abmahnungen und Kündigungen sanktioniert. Beide Pflegekräfte mussten die üblichen Grenzen überschreiten, um öffentlich zur Kenntnis genommen zu werden: Heinisch wandte sich in Straßburg an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, Konietzko droht die Erzwingungshaft.

Kommunen brechen das Völkerrecht

Der Staat treibt jedoch nicht nur die Pflegeunternehmen in den Rechtsbruch, er begeht ihn auch selbst. In den letzten Jahren meldeten Zeitungen regelmäßig, dass die Träger der Sozialhilfe in immer mehr Kommunen die sogenannte Hilfe zur Pflege nach SGB XII nur noch gewähren, wenn die Leistungsempfänger/innen in ein möglichst kostengünstiges Heim ziehen. Selbst über Zwangsumzüge von bereits in einem Pflegeheim lebenden alten Menschen wurde berichtet. Die Sozialhilfeträger berufen sich dabei auf den sogenannten Mehrkostenvorbehalt nach § 9 SGB XII, um die gesetzlich garantierte Wahlfreiheit zu unterlaufen.
Danach soll "Wünschen der Leistungsberechtigten, die sich auf die Gestaltung der Leistung richten [...] entsprochen werden, soweit sie angemessen sind". Werden jedoch "unverhältnismäßige Mehrkosten" erwartet, können die Träger der Sozialhilfe Anträge ablehnen. Auf Basis des unbestimmten Rechtsbegriffes der "Unverhältnismäßigkeit" besitzen die Kommunen also einen Ermessensspielraum, der offensichtlich in Zeiten eines Umbaus in Richtung neoliberaler Wettbewerbsstaat zunehmend ausgereizt wird, um Kosten zu senken.
Vor über zwei Jahren kündigte beispielsweise die Stadt Duisburg als erste Kommune in Nordrhein-Westfalen an, Sozialhilfeempfänger/innen nur noch in billige Pflegeheime unterbringen zu wollen. Wohlfahrtsverbände kritisierten daraufhin, dass Pflegeheime ihre Standards senken sollten, um dem städtischen Preisdiktat zu entsprechen. Das Duisburger Vorgehen wurde weithin als Präzedenzfall dafür gewertet, das Wahlrecht Pflegebedürftiger rechtswidrig einzuschränken. Am 16. April des vergangenen Jahres unterband das dortige Sozialgericht endlich die städtische Einsparmaßnahme, indem es die Beschränkung der freien Heimwahl für Leistungsberechtigte als rechtswidrig einstufte. Ähnliche Meldungen folgten in den letzten beiden Jahren aus allen Teilen der Republik.
Nach Auffassung von Sozialrechtsexperten verstößt dieses diskriminierende Verwaltungshandeln eindeutig gegen Art. 19 der UN-Behindertenrechtskonvention, die Pflegebedürftigen (auch sie gelten sozialrechtlich als Behinderte) die Möglichkeit garantiert, ihren Aufenthaltsort frei zu wählen, da sie nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben. Die hartnäckigen Versuche von zunehmend unter fiskalischen Zwängen stehenden Kommunen, die Wahlfreiheit pflegebedürftiger Sozialhilfebezieher/innen einzuschränken, ist deshalb schlicht als menschenrechtswidrig einzustufen.

Fazit

Der Pflegesektor stellt sich als ausgesprochen komplex dar. Das föderale Heimrecht (16 Heimgesetze!), die komplexe Träger- und Betreuungsstruktur (privat/öffentlich/freigemeinnützig, ambulant/teil-, vollstationär), die Spaltung der Beschäftigten (Fach-, Hilfskräfte, Leiharbeiter/innen, freie Pflegekräfte, Freiwillige), die zersplitterte Tariflandschaft (Öffentlicher Dienst/Kirche/Haustarife/Leiharbeit) – all das lässt selbst Fachleute bisweilen den Überblick verlieren. Die unübersichtliche Topografie der Pflegelandschaft behindert dabei in erster Linie eine transparente überregional organisierte staatliche Kontrolle der Einrichtungen und dient somit nicht zuletzt auch kriminellen Akteuren.
Im Zuge des postdemokratischen Trends – das Recht bleibt formal erhalten, seine Substanz schwindet – erweisen sich wirtschaftskriminelle bzw. das Recht unterlaufende Aktivitäten von Pflegeunternehmern zumindest teilweise als kompatibel mit der staatlichen Kostensenkungsstrategie. Der Staat als Adressat für einen Appell für "gute Pflege" fällt deshalb weitgehend aus. Die Hoffnung auf die Rechtsprechung leider ebenfalls. Hingegen besteht ein Potenzial für eine breite politische Bewegung, denn die Frage nach einer menschenwürdigen Pflege betrifft im Grunde alle Menschen (früher oder später).
Aber der lähmenden Wirkung der Verdrängung von Alter, Krankheit und Tod ist schwer zu entkommen. Pflegebedürftige, insbesondere demente Menschen, stellen schließlich das Gegenbild zu den "jungen Alten" dar, die von Industrie und Politik hofiert werden, um ihre Konsumkraft bzw. Restproduktivität (als ehrenamtlich Tätige) nutzen zu können. Die anderen gelten mehr oder weniger bereits als "lebende Tote" und geraten zunehmend als reine Kostenfaktoren in den Blick. Der Rechtsanwalt der "Whistleblowerin" Brigitte Heinisch gibt uns einen guten Rat: "Wer die Gesellschaft kennenlernen will, muss in die Altenheime gehen. Wer in seine eigene Zukunft sehen will, muss in die Altenheime gehen."
Kein erbauliches, aber ein realistisches Schlusswort.

Zum Autoren:

Joachim Maiworm lebt in Berlin, engagiert sich in der Erwerbslosenszene und ist zur Zeit Mitglied eines Solidaritäts-Komitees für eine Altenpflegehelferin.

BIG Business Crime ist eine Dreimonatszeitschrift des gemeinnützigen Vereins Business Crime Control e.V.
Herausgeber: Business Crime Control e.V., vertreten durch den Vorstand Erich Schöndorf, Stephan Hessler, Wolf Wetzel, Wolfgang Patzner, Hildegard Waltemate
Mitherausgeber: Jürgen Roth, Hans See, Manfred Such, Otmar Wassermann, Jean Ziegler
Verantwortliche Redakteurin: Victoria Knopp
Redakteure: Hans See, Gerd Bedszent, Reiner Diederich, Stephan Hessler

An dieser Stelle veröffentlichen wir ausgewählte Artikel aus der Zeitschrift BIG Business Crime online.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

BIG Business Crime

BIG Business Crime ist eine Drei-Monats-Zeitschrift des Vereins Business Crime Control e.V. Seit Ende 2018 online unter: big.businesscrime.de

BIG Business Crime

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden