Wirtschaftskriminalität. Stand der Forschung

Wirtschaftskriminalität Wirtschaftskriminalität: Was sagt die Forschung?

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Wirtschaftskriminalität. Stand der Forschung

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Wirtschaftskriminalität: Was sagt die Forschung?

Joachim Maiworm (Aus: BIG Ausgabe 2/2017)

„Korruption als Teil der Wirtschaftskriminalität, die vielfältigen Erscheinungsformen der Wirtschaftskriminalität selbst und die sogenannte Organisierte Kriminalität sind Stiefkinder der empirischen Forschung. Die Kriminologie thematisiert diese Bereiche am Rande, empirische Studien sind rar.“ (Bannenberg, S. 752)

Mit der wirtschaftskriminologischen Forschung scheint es also nicht weit her zu sein. An journalistischen Veröffentlichungen zum Thema Wirtschaftskriminalität (WK) mangelt es zwar nicht und speziell zur Korruption liegen theoretische Arbeiten vor, aber es fehlt an verlässlichem empirischem Material. Und an einer umfassenden und allgemeingültigen Begriffsbestimmung. Wissenschaftler schlagen darum trennscharfe Kategorien vor, um dem diffusen Bild entgegenzutreten. So differenzieren sie zwischen WK und „Organisierter Kriminalität“ (OK), auch wenn in der medialen Berichterstattung diese Grenze oftmals skandalträchtig verwischt wird („Bau-Mafia“, „Pflege-Mafia“ u.s.w.), andererseits die OK tatsächlich in die legale Wirtschaft einsickert. Weiter unterscheiden sie zwischen WK und „kriminellen Organisationen“, die selbst von der OK geschieden werden müssen. Gemeint sind organisierte Verbände, die staatliche Funktionen übertragen bekommen und diese für kriminelle Zwecke missbrauchen. Sie agieren innerhalb der politischen Sphäre und sind deshalb nicht mit der Bandenkriminalität gleichzusetzen. Als Beispiele werden in der Literatur exemplarisch die früheren „US Government Contractors“ im Irak, Halliburton und Blackwater, angeführt (vgl. Welskopp, S. 3).

Was ist Wirtschaftskriminalität?

Aber diese groben Abgrenzungen helfen nicht sehr viel weiter. Zu erwarten wäre, dass der Staat hier formalrechtlich Klarheit schafft. Der Gesetzgeber verzichtet aber auf eine juristisch maßgebende Definition dieses Deliktbereichs, die verbindlich in einem Gesetz festzulegen wäre („Legaldefinition“). Eine anerkannte weil präzise Umschreibung der WK gibt es in Deutschland deshalb nicht. Letztlich bleibt es bei einer tautologischen Begriffsbestimmung, wie sie beispielsweise der Jurist und ehemalige niedersächsische Justizminister Hans-Dieter Schwindvorlegte: „Nach dem strafrechtlichen Verbrechensbegriff ist unter Wirtschaftskriminalität das sozial schädliche Verhalten im Wirtschaftsleben zu verstehen, soweit dieses mit Strafe bedroht ist.“ (Schwind, S. 449)

Die Folge ist eine breite Palette von Delikten, die der WK zugerechnet werden (unter anderem sogenannte Katalogstraftaten nach §74c Gerichtsverfassungsgesetz: Subventionsbetrug, Insolvenzdelikte, Falschbilanzierung, Korruption und so weiter). Das Wirtschaftsstrafrecht ist zum Teil im Strafgesetzbuch erfasst und schließt zahlreiche weitere verstreute Gesetzestexte ein. Die Vielzahl der Straftatbestände lässt sich tatsächlich kaum systematisieren, denn die rechtliche Normierung der Wirtschafts-, Finanz-, Steuer- und Sozialpolitik wechselt ständig und schafft damit eine zusätzliche Unübersichtlichkeit. „Das Wirtschaftsstrafrecht explodiert geradezu, schafft unaufhörlich neue Straftaten und Straftäter. Der Labeling approach [1] triumphiert, ohne ihn würde man alles kaum noch verstehen.“ (Bussmann, S. 343) Häufig entsteht Unsicherheit darüber, was noch legale „Geschäftstüchtigkeit“, was bereits Betrug oder überhaupt eine Straftat ist. Entgegen der (offiziellen) Absicht des Gesetzgebers bildet WK darum einen Graubereich zwischen Illegitimität und Illegalität.

Die Bedeutung der Frage, ob der Begriff der WK auch jenseits des juristischen Diskurses nur solche Tatbestände erfassen soll, die Verstöße gegen das Strafrecht darstellen oder auch Verhaltensweisen, die nicht unter Strafe gestellt sind, aber als strafwürdig erscheinen, unterstreicht folgender ökonomischer Definitionsversuch, der auf das Vertrauensprinzip und das Abweichen von wirtschaftlichen Verhaltenserwartungen abzielt:

„Wirtschaftskriminalität ist die (…) Gesamtheit wirtschaftlicher Verhaltensweisen, die in nach außen hin gewaltloser Form die im Rechts- und Wirtschaftsverkehr allgemein üblichen, anerkannten und teils durch Gewohnheitsrecht gebildeten und kaufmännischen Gepflogenheiten, auf dem Grundsatz von Treu und Glauben bzw. des im Wirtschaftsleben stillschweigend vereinbarten gegenseitigen Vertrauens aufbauenden, kodifizierten und gebildeten Umgangsformen verletzen (...).“ [2]

Beide Positionen zur WK, die formalrechtliche Herleitung und der umfassendere ökonomische Ansatz, folgen aber einem gemeinsamen Ziel. Sie heben auf die Sicherung der Funktionsfähigkeit der kapitalistischen Marktwirtschaft bzw. auf den Schutzwirtschaftsbezogener Rechtsgüter ab (Vermögen, Eigentum, Wettbewerb, Markt). Dass die Wirtschaft dabei nicht von klaren gesetzlichen Regelungen geleitet, sondern von einer „Zone der rechtlichen Unbestimmtheit“ geprägt wird, erweist sich als systemfunktional, wie sich unter anderem bei der weiter unten stehender Beschreibung der verschiedenen Erklärungsansätze zeigen wird.

Personen und Strukturen

Wer sind die Täter? Folgender Definitionsversuch sorgt für mehr Klarheit: „Subsumiert wird unter dem Begriff Wirtschaftskriminalität die vom existierenden Wirtschaftsrecht nicht gedeckte Kapitalbeschaffung, -verwertung und -sicherung, die in der Regel von Personengruppen unter dem Schutzmantel juristischer Personen sowie unter Mithilfe abhängig Beschäftigter vorgenommen wird.“ [3] Schwere Wirtschaftsstraftaten werden in der Regel von juristischen Personen bzw. „unter dem Dach“ von Unternehmen begangen. Diese aber können in Deutschland strafrechtlich nicht verfolgt werden, während sie zum Beispiel im amerikanischen Rechtssystem nicht nur im Zivil-, sondern auch im Strafrecht als „Rechtspersonen“ gelten. Deutschland gehört dagegen zu den wenigen Länder, die keine Unternehmens-Strafbarkeit kennen. Damit bleiben hierzulande Straftaten, die aus Unternehmen heraus organisiert werden, strafrechtlich folgenlos, wenn aufgrund der oft undurchschaubaren hierarchischen Arbeitsteilung die verantwortlichen Personen nicht ermittelt werden können.

Sind jedoch schuldige Einzelpersonen identifizierbar, tritt die Sozialwissenschaft auf den Plan. Beim Versuch, WK zu erklären, bemüht sie noch immer oft den „Weißen Kragen“ und verweist auf Straftaten, die von Personen von hohem sozialem Status und im Rahmen ihrer Berufsausübung begangen werden. Genau so definierte bereits 1939 der amerikanische Soziologe Edwin Sutherland den von ihm geprägten Begriff „white collar crime“. Bemerkenswerterweise sprach der Wissenschaftler von „Verbrechen“, die mit dem Strafrecht zu ahnden seien und stellte sich damit gegen Versuche, die Verfolgung solcher Delikte auf das Privatrecht (Schadensersatz) zu beschränken. Diese im angelsächsischen Raum vorherrschende moralische Gleichsetzung von Wirtschaftsdelikten mit Mord und Totschlag widerspricht der Tradition in Deutschland, wo „white collar crimes“ eher mit „Kavaliersdelikte“ übersetzt werden könnte (vgl. Welskopp, S. 7). Letztlich springt aber Sutherlands Ansatz zu kurz, denn er trägt dazu bei, dass Strukturen und Institutionen hinter den illegalen Aktivitäten einzelner Individuen versteckt werden können. Nicht von ungefähr sehen sich bisweilen auch hochrangige Manager – wenn auch in erster Linie aus Gründen der Öffentlichkeitswirksamkeit – auf der Anklagebank oder in Untersuchungshaft.

Denn eine Personalisierung der WK fördert die Leugnung der Existenz einer kriminogenen Struktur. Umgekehrt vermögen sich aber auch Personen hinter Strukturen zu verbergen. Unternehmer bzw. leitende Angestellte verweisen gerne darauf, dass sie aufgrund des Wettbewerbsdrucks delinquentes Verhalten ihrer Konkurrenten nachahmen müssen, um konkurrenzfähig zu bleiben. Wirtschaftsstraftäter sehen sich in der Regel also selbst nicht als kriminell, begründen ihr Verhalten vielmehr mit den branchenüblichen Praktiken (selbstverständlich um ihrem Unternehmen zu dienen).

Solche Besonderheiten der WK sind der Stoff der Wirtschaftskriminologie, die aber generell auf massive empirische Probleme stößt. So schwierig es ist, WK schlüssig zu definieren, so unmöglich erscheint es tatsächlich, ihren Umfang und durch sie verursachte Schäden zu ermitteln. Als allgemein anerkannte Tendenz gilt zwar die Aussage: Wenige Täter verursachen hohe Schäden. An verlässliche Daten zu gelangen, erweist sich aber als unrealistisch. Denn die Aussagekraft amtlicher und nicht-amtlicher Informationen über WK ist sehr begrenzt.

Empirische Befunde

Die Ergebnisse der vorliegenden Studien sind aus methodischer Hinsicht angreifbar, denn weder die staatlichen noch die privaten Untersuchungen können über Qualität und Quantität der WK generalisierbare Aussagen treffen. Einerseits führen Umfragen unter leitenden Angestellten in Unternehmen nicht unmittelbar zu allgemeingültigen Aussagen zur WK. Andererseits handelt es sich um klassische Kontrolldelikte, deren Entdeckung auf der behördlichen Ermittlungsarbeit beruht und deshalb abhängig ist von flexiblen Variablen (zum Beispiel den polizeilichen Ressourcen). Ein Beispiel für die Schwierigkeit, vorliegende Statistiken richtig zu lesen: Ein über Jahre zu verzeichnender Anstieg darf nicht einfach als Zunahme der tatsächlichen Kriminalität interpretiert werden. Vielmehr kann er auch auf effektiveren Kontrollen der Unternehmen oder Strafverfolgungsbehörden beruhen. Dieses in der Wissenschaft als „Kontrollparadox“ bezeichnete Phänomen bedeutet: Die Verschärfung der Überwachungsmechanismen müsste eigentlich zu einer Reduzierung der Kriminalitätsrate führen. Zunächst jedoch tritt genau die gegenteilige Entwicklung ein, so dass intensivere Kontrollen zur Aufdeckung von vormals unentdeckten Delikten führen ‒ und die Fallzahlen steigen (vgl. Karmann, S. 53).

Dennoch beanspruchen nationale und internationale Statistiken, empirisch brauchbare Erkenntnisse über WK und Korruption zu bieten.

Nationale Erhebungen

1. Amtliche Quellen

Wirtschaftskriminalität. Bundeslagebild, hrsg. v. BKA, Wiesbaden,12. August 2016

Polizeiliche Kriminalstatistik. Jahrbuch 2015, hrsg. v. BKA, Mai 2016

Cybercrime. Bundeslagebild 2015, hrsg. v. BKA

2. Nichtamtliche Quellen

Wirtschaftskriminalität in der analogen und digitalen Wirtschaft 2016, hrsg. v. PricewaterhouseCoopers AG (PwC) und Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Februar 2016

e-Crime. Computerkriminalität in der deutschen Wirtschaft 2015, hrsg. v. KPMG, 2015

Tatort Deutschland. Wirtschaftskriminalität in Deutschland 2016, hrsg. v. KPMG AG, 2016

Internationale Untersuchungen (vor allem zu Korruption)

1. Corruption Perception Index 2015 von Transparency International (TI)

2. Bribe Payers Index 2011 von TI

3. Fraud Survey – Ergebnisse für Deutschland von Ernst & Young GmbH, 2016

Zu den nationalen Erhebungen

1. Zu den amtlichen Quellen

Polizeiliche Kriminalstatistik

und Bundeslagebilder des BKA

WK in Deutschland insgesamt:

Erfasste Fälle 60.977;Veränderung zum Vorjahr -3,5 Prozent; Aufklärungsquote 92,9 Prozent

Beispiele:

Betrug (Fallzahl: 31.692; -0,4 Prozent); Anlage- u. Finanzierungsdelikte (Fallzahl: 9.136; +5,6 Prozent); Abrechnungsbetrug im Gesundheitswesen (Fallzahl: 4.457; +11,2 Prozent)

Die polizeilichen Daten geben das tatsächliche Ausmaß der WK nur sehr eingeschränkt wieder. Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) enthält lediglich die der Polizei bekannt gewordenen Straftaten (sogenanntes Hellfeld). Das Dunkelfeld − die amtlich nicht registrierte Kriminalität − kann in der PKS nicht abgebildet werden. Nicht in der PKS erfasst werden Wirtschaftsstraftaten, die von Staatsanwaltschaften und/oder Finanzbehörden unmittelbar bearbeitet werden (zum Beispiel Finanz- und Steuerdelikte, Wettbewerbs-, Gesundheits- und Arbeitsdelikte, Subventionsbetrug). Zum anderen ist von einem gering ausgeprägten Anzeigeverhalten auszugehen. Die weitaus meisten kriminellen Handlungen bleiben verborgen (die hohen Aufklärungsquoten der angezeigten Fälle ändern daran nichts). Bei der Zuordnung von Straftaten zur WK orientiert sich die Polizei am Katalog des §74c GVG, für den wegen des notwendigen wirtschaftsspezifischen Wissens landgerichtliche Wirtschaftsstrafkammern zuständig sind. Ändert sich das Anzeigeverhalten der Bevölkerung oder die Verfolgungsintensität der Polizei, verschiebt sich die Grenze zwischen Hell- und Dunkelfeld − ohne zwingende Auswirkung auf das Ausmaß der tatsächlichen Kriminalität. Die PKS spiegelt somit die Kriminalitätswirklichkeit nicht ab, sondern ist eine polizeiliche Tätigkeitsstatistik. Sie bietet, wie die Verfasser selbst relativieren, eine „mehr oder weniger starke Annäherung an die Realität“. (PKS, Jahrbuch 2015, S. 18)

Nach den statistischen Daten des Bundeslagebilds ist die WK rückläufig. 2015 wurden insgesamt 60.977 und damit 3,5 Prozent weniger Fälleregistriert als im Vorjahr. Die Fallzahlen lagen deutlich unter dem Durchschnitt der letzten fünf Jahre. Der Anteil der WK an allen polizeilich bekannten Straftaten betrug 1,0 Prozent. Leicht ansteigend war dagegen die Tendenz bei den Anlage- und Finanzierungsdelikten (+5,6 Prozent) und bei Betrug/Untreue im Zusammenhang mit Kapitalanlagen (+4,7 Prozent). Das BKA stellt in seinem Bericht fest, dass insbesondere in Niedrigzinsphasen die Gefahr betrügerisch hoher Renditeversprechen besteht. Daher sei auch weiterhin mit einem hohen Straftatenaufkommen bei diesem Delikt zu rechnen. Kapitalanleger fallen zum Beispiel auf unseriöse Angebote herein, die über das Internet übermittelt werden. Oder sie legen häufig kleinere Beträge an, unter anderem zum Aufbau einer Altersvorsorge, die nicht greifen kann. Damit ist erklärbar, dass es bei einzelnen Delikten zu steigenden Fallzahlen bei einer insgesamt rückläufigen Entwicklung der Schadenssumme kommen kann. Beim registrierten Gesamtschaden ist gegenüber dem Vorjahr eine stark rückläufige Tendenz festzustellen. Mit 2.887 Millionen Euro lag die Schadenssumme um 37,8 Prozent niedriger als 2014 und deutlich unter dem Durchschnittswert der letzten fünf Jahre. In den Vorjahren verursachten Delikte der WK etwa die Hälfte oder mehr des in der PKS ausgewiesenen Gesamtschadens (2015: 6.990 Millionen Euro). 2015 sank dieser Anteil auf 41,3 Prozent. Das BKA vermutet, dass die stetig zurückgehenden Fallzahlen auch darin eine Ursache haben, dass insbesondere weltweit agierende Unternehmen sich genötigt sehen, interne Compliance-Strukturen aufzubauen. Beispielsweise könnten solche Regelungen mit dem Ziel der Vermeidung von Imageschäden einen negativen Effekt auf die Bereitschaft zur Erstattung einer Anzeige ausüben. Also auch hier zeigt sich: Die Statistiken klären nicht wirklich auf.

Cybercrime. Bundeslagebild 2015, hrsg. v. Bundeskriminalamt

Cybercrime umfasst nach der Definition des BKA Straftaten, die sich gegen das Internet, Datennetze, informationstechnische Systeme oder deren Daten richten oder die mittels dieser Informationstechnik begangen werden. Als Grundlage dienen die Daten der PKS. Nicht berücksichtigt sind Cybercrime-Straftaten, bei denen von einer politischen oder nachrichtendienstlichen Motivation ausgegangen wird. Auch in diesem Bereich muss von einem enormen Dunkelfeld ausgegangen werden. Die Zahl der unter der Bezeichnung Cybercrime in der PKS erfassten Straftaten ist im Jahr 2015 gegenüber dem Vorjahr um 8,3 Prozent zurückgegangen. Die Fälle von Computerbetrug, zu dem zum Beispiel nach §263a StGB das Phishing gehört, also das Stehlen von Passwörtern für illegale Transaktionen im Onlinebanking oder mit Kreditkartendaten, stiegen dagegen um 5,6 Prozent und bilden die überwiegende Mehrheit aller Cybercrime-Straftaten. Der Rückgang der Fallzahlen in 2015 wurde durch die seit 2014 laufende Umstellung der Erfassungsmodalitäten in den Bundesländern beeinflusst. Die für 2015 erfasste Gesamtschadenssumme betrug 40,5 Millionen Euro. Dies entspricht einer Zunahme um 2,8 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Den gesunkenen Gesamtzahlen steht somit eine steigende Qualität der erfassten Straftaten gegenüber.

Lapidar heißt es in dem Bericht weiter: „Die Tatsache, dass zu lediglich zwei Deliktsbereichen (Computerbetrug und Betrug mit Zugangsberechtigungen zu Kommunikationsdiensten, Anm. d. Autors) eine statistische Schadenserfassung erfolgt, lässt, bedingt durch das hohe Dunkelfeld, keine belastbaren Aussagen zum tatsächlichen monetären (Gesamt-)Schaden durch Cybercrime zu.“ Einfallstore für den Diebstahl geistigen Eigentums oder Wirtschaftsspionage werden geöffnet, weil die Verbindung von privaten und beruflichen Internet- und Computeraktivitäten auf einem privaten Endgerät es Cyberkriminellen erleichtert, auf Unternehmensdaten zuzugreifen. Vor allem aber die weitere Verzahnung der Industrieproduktion mit Informations- und Kommunikationstechnik und die elektronische und webbasierte Steuerung von Prozessen in Unternehmen gewinnen weiter an Bedeutung. Industrie 4.0, das heißt die zunehmende Bedeutung der IT im professionellen Bereich, und die weiter ansteigende Nutzung des Internets durch Privatpersonen eröffnen neue Manipulations- und Angriffsmöglichkeiten. Laut BKA steigt das Gefährdungs- und Schadenspotenzial von Cybercrime als ein transnationales Kriminalitätsphänomen. Diese Prognose lässt sich durch das Ergebnis einer Ernst & Young-Umfrage bestätigen (vgl. „Fraud Survey“). Demnach schätzten vor zwei Jahren 70 Prozent der Manager in Deutschland das Risiko durch Cyberkriminalität für ihr Unternehmen als „eher hoch“ oder „sehr hoch“ ein.

Fazit auch hier: Statistiken sind trügerisch. Das BKA selbst verweist auf veränderte Erfassungsmethoden als eine wesentliche Erklärung für das An- und Absteigen von (wirtschafts-)kriminellen Fällen.

2. Zu den nichtamtliche Quellen

Die Befragungen von PwC und KPMG beschränken sich auf die subjektiven Einstellungen oder Risikowahrnehmungen von Personen aus der Wirtschaftselite. Besonders private Studien greifen auf unterschiedliche Definitionen von WK zurück, die erst gar keinen wissenschaftlichen Anspruch reklamieren und willkürlich erscheinen (darauf wird hier jedoch nicht näher eingegangen).

Wirtschaftskriminalität in der analogen und digitalen Wirtschaft 2016, hrsg. v.PricewaterhouseCoopers AG und der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Februar 2016

Die bereits achte Studie zur Entwicklung der Wirtschaftskriminalität setzt ihren Schwerpunkt auf die Kriminalität in der digitalen Wirtschaft – der Bedrohung von Unternehmen durch Cybercrime. Von Anfang September bis Ende November 2015 wurden in Deutschland die für Kriminalitätsprävention und -aufklärung zuständigen Verantwortlichen aus 720 Unternehmen telefonisch interviewt. Einbezogen wurden Unternehmen mit mindestens 500 Mitarbeiter/innen, wobei über die Hälfte mehr als 1.000 Mitarbeiter/innen beschäftigt. Die Befragungen zeigen, dass jedes zweite (51 Prozent) der befragten Unternehmen innerhalb von zwei Jahren durch klassische (analoge) Formen von Wirtschaftskriminalität geschädigt wurde. Das sind sechs Prozentpunkte mehr als in der Vorgänger-Studie von 2013. Dagegen war jedes dritte (34 Prozent) von E-Crime betroffen. Die Studie offenbart hier ein wachsendes Bedrohungspotenzial. Der Anstieg beruht vor allem auf der Zunahme der Vermögensdelikte. Sie bilden mit 37 Prozent die größte Gruppe, gefolgt von Verstößen gegen Patent- und Markenrechte (13 Prozent), Diebstahl vertraulicher Kunden- und Unternehmensdaten sowie Korruptionsdelikte (5 Prozent).

Bei den digitalen Risiken berichten Unternehmen am häufigsten über Computerbetrug (13 Prozent), Manipulation von Konto- und Finanzdaten (11 Prozent) und das Ausspähen und Abfangen wichtiger Daten wie Passwörter (9 Prozent). Die monetären Schäden infolge von E-Crime fallen im Vergleich zur herkömmlichen Wirtschaftskriminalität noch gering aus, aber die Studie geht von einer wachsenden Bedrohung durch E-Crime-Angriffe aus dem Spektrum der Organisierten Kriminalität aus. 70 Prozent der forschungsintensiven Unternehmen sehen die vierte industrielle Revolution mit höheren E-Crime-Risiken verbunden. Diese befürchteten Risiken können zu Wettbewerbsnachteilen führen, wenn sie die technologische Innovationsbereitschaft von Unternehmen hemmen. Viele der befragten Unternehmen verbinden mit der Industrie 4.0 und der wachsenden Vernetzung neue Risiken. Die Schadensrisiken werden aufgrund der weiteren technischen Entwicklung zwangsläufig deutlich zunehmen. Unternehmen sind auch verschiedenen Formen der Cyberspionage ausgesetzt – allerdingstatsächlich seltener als angenommen. 20 Prozent der berichteten Fälle richteten sich auf stationäre und noch seltener auf mobile IT-Systeme, nur 2 Prozent der Unternehmen berichteten über Angriffe auf die Cloud.

e-Crime. Computerkriminalität in der deutschen Wirtschaft 2015,

hrsg. v. KPMG AG, 2015

In der Studie mit repräsentativem Anspruch wurden 505 nach Branche und Umsatz ausgewählte Unternehmen zu ihren Erfahrungen im Feld der Computerkriminalität durch das Sozialforschungsinstitut TNS Emnid befragt. Gegenüber der Vorstudie aus dem Jahr 2013 ist ein Anstieg von E-Crime zu verzeichnen. In den vergangenen zwei Jahren waren 40 Prozent, 2013 lediglich 27 Prozent der Unternehmen betroffen (+ 50 Prozent). Finanzdienstleister zeigen sich als besonders attraktiv für potenzielle Täter. 55 Prozent der Vertreter/innen dieser Branche gaben an, angegriffen worden zu sein (bei Dienstleistern außerhalb des Finanzsegments waren es nur 33 Prozent). Datendiebstahl und Computerbetrug sind die am meisten gefürchteten Deliktstypen. Jeweils 83 Prozent der Befragten schätzen das Risiko, Opfer dieser Delikte zu werden, als hoch beziehungsweise sehr hoch ein (Anstieg um 11 Prozent bei Computerbetrug, um 7 Prozent bei Datendiebstahl). 47 Prozent der Befragten gehen davon aus, dass die mit E-Crime verbundenen Risiken für das eigene Unternehmen steigen werden (+30 Prozent im Vergleich zur Vorstudie). Aber 70 Prozent nehmen eine Zunahme des Risikos für die deutsche Wirtschaft insgesamt an.

Tatort Deutschland. Wirtschafts-kriminalität in Deutschland 2016. Studie, hrsg. v. KPMG AG, 2016

Die große Feldstudie erscheint mittlerweile seit 17 Jahren. KPMG beauftragte TNS Emnid damit, 500 Unternehmen telefonisch zu ihren Erfahrungen im Bereich WK zu befragen (im März/April 2016). Unverändert gegenüber 2014 ist mehr als jedes dritte der befragten Unternehmen von WK betroffen (36 Prozent), von den großen Unternehmen fast die Hälfte (45 Prozent). Auch bei der Einschätzung des allgemeinen Risikos von WK herrscht bei den großen Unternehmen eine spürbare Diskrepanz zwischen eigener Risikowahrnehmung und tatsächlicher Betroffenheit. 80 Prozent der befragten Unternehmen sehen ein hohes bzw. ein sehr hohes Risiko für deutsche Unternehmen, von wirtschaftskriminellen Handlungen betroffen zu sein. Mit Blick auf das eigene Unternehmen erkennen aber lediglich 32 Prozent der Befragten eine solche Gefahr.

Zu den internationalen

Untersuchungen

(vor allem zu Korruption)

Auch die internationalen Untersuchungen basieren in erster Linie auf Umfragen in Expertenkreisen. Die (hier nur kurz) vorgestellten Statistiken zeigen, dass weder im nationalen noch im internationalen Bereich eine im strengen Sinne empirisch gesicherte Einschätzung der Dimension von Korruption möglich ist.

1. Corruption Perception

Index 2015 (CPI) von

Transparency International (TI)

Dem auf verschiedenen Datenquellen (Umfragen und Untersuchungen) basierenden Korruptions-Wahrnehmungsindex wird im Rahmen wissenschaftlicher Debatten wie auch in den Medien eine große Bedeutung beigemessen. Seit 1995 von TI jährlich herausgegeben listet er derzeit 167 Länder nach dem Grad der im öffentlichen Sektor wahrgenommenen Korruption in Punktwerten auf (Rang 1: Dänemark; Rang 167: Somalia). Die Rangliste ist wissenschaftlich aber in keiner Weise fundiert:

„Der CPI ist ähnlichen Problemen wie die amtlichen und nicht amtlichen deutschen Statistiken ausgesetzt, weshalb eine Veränderung des Punktwertes eines Landes auf verschiedenen, nicht näher auf ihre Maßgeblichkeit bewertbaren Faktoren beruhen kann: So können sich Veränderungen des CPI im Laufe der Jahre als tatsächliche Veränderungen des Korruptionsaufkommens darstellen, sie können jedoch auch nur der veränderten Wahrnehmung von Korruption in einem Land geschuldet oder lediglich durch eine veränderte Quellenzusammensetzung bedingt sein. Aus diesem Grund stellt jeder Index eines Berichtsjahres nur eine Momentaufnahme der Eindrücke von Unternehmern und Länderrisikoanalysten im jeweiligen Einschätzungszeitraum dar. Ein Vergleich der konkreten Rangstellen des Indexes über den jeweiligen Erhebungszeitraum hinaus birgt kaum empirische Aussagekraft.“ (Karmann, S. 59)

2. Bribe Payers Index 2011 von TI

Der BPI (Bestechungszahlerindex) misst die Bereitschaft von Unternehmen der führenden Volkswirtschaften, im Ausland zu bestechen. Er bildet insofern das Gegenstück zum CPI. Er wurde 1999 geschaffen, um auf den Vorwurf zu antworten, der CPI würde die sogenannten Entwicklungsländer als typische Nehmer von Korruption stigmatisieren, während die Korruptionsgeber außen vor gelassen würden. Der BPI deckt deshalb nur die Geberseite ab. Er beruht ausschließlich auf den Einschätzungen von weltweit mehr als 3.000 Führungskräften und bewertet das Verhalten von Unternehmen aus 28 führenden Exportländern. Edda Müller, Vorsitzende von TI Deutschland, bilanzierte damals: „Die gute Nachricht ist, dass die deutsche Wirtschaft trotz einer vergleichsweise geringen Korruptionsbereitschaft im Ausland erfolgreich ist. Die schlechte Nachricht ist, dass sich trotz diverser Skandale der letzten Jahre und entsprechender Anstrengungen in den Unternehmen nichts am Gesamtbild der deutschen Exportwirtschaft geändert hat.“ (Mitteilung vom 2. November 2011)

3. Global Fraud Survey – Ergebnisse für Deutschland (April 2016), hrsg. v. Ernst & Young GmbH

Die Studie der Prüfungs- und Beratungsgesellschaft beruht auf der Befragung von 2.825 Unternehmen in 62 Ländern weltweit. Befragt wurden von Oktober 2015 bis Januar 2016 Vorstandsmitglieder sowie Mitarbeiter unter anderem der Bereiche Rechnungswesen und Interne Revision. In Deutschland wurden 50 Interviews durchgeführt. Global sind etwa 40 Prozent der Manager der Meinung, dass Bestechung in ihrem Land an der Tagesordnung ist. Nur 6 Prozent der Manager in Deutschland halten Bestechung bzw. korrupte Methoden hierzulande für weit verbreitet. „Die Compliance-Kultur hat in deutschen Unternehmen offenbar zu einem ehrlicheren Geschäftsgebaren geführt – dennoch wird nach wie vor getrickst. So gab es in den vergangenen zwei Jahren in jedem siebten Unternehmen hierzulande einen bedeutsamen Betrugs- oder Korruptionsfall. 2014 registrierte noch jedes vierte Unternehmen größere Betrugs- und Korruptionsfälle. Damit ist die Zahl der entdeckten Fälle immer noch höher als im internationalen Vergleich. Weltweit wurden nur in etwa jedem achten Unternehmen größere Betrugs- und Korruptionsfälle entdeckt – das ist der gleiche Stand wie noch vor zwei Jahren. (…) Während Deutschland bei den konkreten Fällen über dem weltweiten Durchschnitt liegt, ist die Eigenwahrnehmung deutlich besser“, kommentiert Ernst & Young dieses Ergebnis süffisant in einer Pressemitteilung (vom 19. April 2016).

In Deutschland gab es in den vergangenen beiden Jahren bei etwa 14 Prozent der Unternehmen einen größeren Betrugsfall – vor zwei Jahren lag diese Quote noch deutlich höher, bei 26 Prozent. Rund jeder zweite Manager in Deutschland und weltweit hält es zur Erfüllung finanzieller Zielvorgaben für gerechtfertigt, Vorschriften zu umgehen. In Deutschland, so ergab der Fraud Survey vom Juni 2014, bewerteten immerhin 70 Prozent der Manager das Risiko durch Cyberkriminalität für ihr Unternehmen als „eher hoch“ oder „sehr hoch“. In Westeuropa und weltweit sah jeder zweite Befragte (50 bzw. 49 Prozent) ein insgesamt hohes Risiko.

Problematische Statistik

Trotz der empirischen Einzelergebnisse, die womöglich einen anderen Eindruck erwecken, gilt die WK als ein qualitatives und nicht quantitatives Problem, weil sie einen sehr kleinen Anteil an der Gesamtkriminalität aufweist (1,0 Prozent), aber über Jahre die Hälfte bzw. aktuell über 40 Prozent des registrierten Gesamtschadens aller in der PKS erfassten Straftaten verursacht. Das Missverhältnis von enorm hoher Schadenssumme und relativ kleiner Anzahl der Delikte ist augenfällig. In Wahrheit dürften die Schäden wegen des Dunkelfelds aber noch wesentlich höher sein. Die durch die WK angerichteten Schäden sind dabei nicht nur monetär zu bemessen (immaterielle Schäden: zum Beispiel gesundheitliche Gefährdung durch gefälschte oder minderwertige Produkte).

Unterschiedliche und veränderte Erhebungsmethoden von staatlichen und privaten Institutionen sowie fehlende Ressourcen für die Informationsgewinnung erschweren einen halbwegs realitätsnahen Blick auf die Materie. Eine weitere Erklärung für die in Teilen verwirrende, weil wechselhafte Datenbasis liegt in einer Eigentümlichkeit von WK und insbesondere der Korruption, die sie von anderen Straftaten unterscheidet. Häufig fehlt die Täter-Opfer-Beziehung, die die Opfer veranlassen, sich zu offenbaren und eine Anzeige zu erstatten. Die über die Jahre auftretenden starken Schwankungen in den amtlichen Statistiken können damit zusammenhängen. Handelt es sich um einen realen Kriminalitätsanstieg oder nur um ein geändertes Anzeigeverhalten? Bei Korruption spricht man von scheinbar opferlosen Delikten, bei denen die eine Seite Bestechungsgelder zahlt, während die andere diese Zahlungen kassiert, so dass letztlich beide zu Tätern werden. Darin liegt ein Grund, weshalb Korruption im Verhältnis zur Gesamtdelinquenz nur relativ geringe Ausmaße aufweist (vgl. PKS 2015: Insgesamt werden 60.977 Straftaten der WK zuordnet, aber nur 4.790 davon, das heißt 7,8 Prozent fallen in den Bereich der Wettbewerbs-, Korruptions- und Amtsdelikte). Ein weiterer Deutungsansatz bietet sich ebenfalls an. So kann ein Anstieg der Fallzahlen in einem Berichtszeitraum auf einem umfangreichen Tatkomplex beruhen, mit dem eine Vielzahl von Einzelfällen zusammenhängen. Eine strafrechtliche Aufarbeitung führt dann automatisch wieder zu geringeren Zahlen im Folgejahr. Den amtlichen Statistiken allein kann also nicht empirisch gesichert entnommen werden, ob das Niveau der WK ansteigt oder sich eher verringert.

Nicht von ungefähr trägt auch der Vergleich verschiedener Studien zur Verunsicherung bei. Die aktuelle PwC-Studie kommt beispielsweise zum Ergebnis, dass im Vergleich zur Vorgänger-Analyse von 2013 eine höhere Anzahl der befragten Unternehmen durch klassische Formen von WK geschädigt wurde (plus sechs Prozentpunkte). Die statistischen Daten des BKA (Bundeslagebild PKS) zeigen hingegen einen Abschwung bei der WK insgesamt. Danach wurden 2015 3,5 Prozent weniger Fälle registriert als im Vorjahr. Nach Angaben von KPMG waren in den letzten zwei Jahren konstant etwa 36 Prozent der befragten Unternehmen von WK betroffen. Es ist bemerkenswert, dass sich die verschiedenen Untersuchungen bei einer zentralen Aussage zwar nicht direkt entgegenstehen, aber zu widersprüchlichen Interpretationen geradezu einladen. Anderes Beispiel: Das BKA stellt für 2015 einen Rückgang bei Cybercrime-Straftaten um 8,3 Prozent gegenüber 2014 fest. PwC und KPMG verweisen dagegen auf ein wachsendes Bedrohungspotenzial bzw. einen Anstieg betroffener Unternehmen bei E-Crime. Ergo: Weder die auf subjektive Wahrnehmung beruhenden Antworten der befragten Unternehmensvertreter/innen in der PwC-Studie noch die methodisch fragwürdige amtliche Statistik (PKS) können in der Zusammenschau „objektive“, valide Daten garantieren.

Theoretische Forschung

(Suche nach den Ursachen)

Die staatlichen Statistiken bilden lediglich das sogenannte Hellfeld ab, verarbeiten also aktenkundiges Geschehen. Aus den identifizierten kriminellen Handlungen werden, ein Verfolgungsinteresse der Justiz vorausgesetzt, Rechtsfälle. Welche Tendenzen zeigen sich im juristischen Bereich beim Umgang mit der WK?

Strafverfolgung

In Einzelfällen wirtschaftskriminellen Verhaltens werden exemplarisch (Freiheits-)Strafen verhängt. Eine Analyse der Praxis der Strafverfolgung bei WK ergibt insgesamt jedoch eine hohe Einstellungs- und eine im Vergleich zur konventionellen Kriminalität geringere Verurteilungsquote.Außerdem ist aufgrund der Komplexität der Sachverhalte (Beweisprobleme) die durchschnittliche Verfahrensdauer vergleichsweise lang − die Wirtschaftsstrafverfahren dauern oft Jahre. Denn die Ermittlungen gestalten sich als schwierig, viele Einzeltaten sind aufzuklären. Ohne das Fachwissen von Buch- und Wirtschaftsprüfern, Betriebswirten und Steuerexperten sind die Vorgänge oft nicht zu verstehen. Der Wissensvorsprung liegt in der Regel zudem bei den Beschuldigten. Wegen der Ungleichheit der Ressourcen – die Ermittler und Richter stehen in größeren Verfahren gegen eine ganze Reihe teurer Anwälte – zeigt sich bei Wirtschaftsstrafverfahren im Vergleich zu anderen Strafverfahren ein geringeres Machtgefälle zwischen Ermittlungsbehörden und Gerichten auf der einen, Beschuldigten und Verteidigern auf der anderen Seite.

Aus diesen Gründen wurden nach Ansicht von Kriminologen unter dem Stichwort einer „Ökonomisierung des Rechts“ ressourcenschonende Reformen des Strafverfahrensrechts eingeführt. Zum Beispiel erlaubt seit 1975 der neu eingeführte §153a StPO, unter Umständen ein Ermittlungsverfahren gegen Geldbuße bzw. ein gerichtliches Hauptverfahren einzustellen. Seit 2009 sind Absprachen über die Strafzumessung erlaubt (sogenannte Deals). Mildere Strafen erfolgen, wenn durch ein Geständnis eine langwierige Hauptverhandlung abgekürzt werden kann. Diese Entformalisierung der Strafverfahren zeigt die Grenzen des Strafrechts auf: Die Anklage- und Verurteilungsquoten werden auch zukünftig gering bleiben, Absprachen das Wirtschaftsstrafrecht weiterhin prägen (vgl. Albrecht, S. 1739 und Neubacher, S. 167).

Manche Juristen sprechen deshalb von einer eingeschränkten Wirkung des Strafrechts, weshalbseit einigen Jahren verstärkt präventive Instrumente in der Kontrolle von WK eingesetzt würden. Sogenannte Compliance-Programme sollen die Selbstkontrolle der Wirtschaft stärken. Mit einer Reihe von Ethik-Regeln verpflichten sich Unternehmen, interne Mechanismen einzuführen, um das Risiko von Straftaten zu minimieren (in und durch die Unternehmen). 2015 verfügten bereits 76 Prozent der von PwC befragten Unternehmen über ein Compliance-Management-System, 96 Prozent der Großunternehmen mit mehr als 10.000 Mitarbeitern haben ein entsprechendes System mittlerweile eingeführt.

Wie wirksam sind solche Eigenkontrollen? Auch hier zeigt sich ein widersprüchliches Bild. Einerseits, so heißt es, sollen wegen der fehlenden Durchschlagskraft des Strafrechts Compliance-Richtlinien den Weg aus der WK führen. Andererseits kann aus Sicht der Unternehmen das Risiko reduziert werden, bei Verstößen gegen gesetzliche Vorgaben haftbar gemacht und Strafverfolgungen einzelner Manager ausgesetzt zu werden. Der Idee steht aber prinzipiell das Hauptinteresse der Wirtschaft entgegen, nicht moralische Standards einzuhalten, sondern Profite zu generieren. Die Verabschiedung ethischer Richtlinien und Verhaltenskodizes kann deshalb als industriefreundliche Scheinaktivität interpretiert werden, die in erster Linie dem Erhalt der Reputation kapitalistischer Unternehmen dient. [4]

Ökonomische Erklärungsansätze

Bei der Bewertung von WK ist zu berücksichtigen, dass im Rahmen des kapitalistischen Systems Gewinn- und Machtstreben gesellschaftliche Anerkennung finden und entsprechende persönliche Dispositionen im Wirtschaftsleben besonders ausgeprägt sind. Bei der Besetzung von Leitungspositionen sind „Managertypen“ gefragt, also risikobereite, entscheidungsfreudige Persönlichkeiten, die sich jenseits von Konformität bewegen und nicht unbedingt dem Idealbild des „ehrbaren Kaufmanns“ entsprechen. Eigenschaften werden gesucht, die bei der Abwicklung legaler wie auch illegaler Geschäfte von Vorteil sind. In Zeiten, in denen der Befehl zur Selbstoptimierung in alle Poren der Gesellschaft dringt, sich Wertvorstellungen „ökonomisieren“, verändert sich auch die Akzeptanz sozialer Normen, unabhängig davon, ob sie als legal oder illegal gelten. Bestimmte Verstöße gegen rechtliche Verstöße werden hingenommen, solange Arbeitsplätze erhalten oder Kundenwünsche befriedigt werden. Das gesellschaftliche Umfeld fördert also wirtschaftskriminelles Agieren (Konkurrenzdruck, Menschenbild des „Unternehmers seiner selbst“).

Zur Erklärung von WK stehen deshalb zunächst (mikro)ökonomische Kriminalitätstheorien im Vordergrund. Nach der Theorie des rationalen Akteurs werden auch strafbare Verhaltensweisen als Kosten- und Nutzenfaktor ins wirtschaftliche Kalkül einbezogen (zum Beispiel die Kosten bei Entdeckung der Straftat). Danach gilt rationales Marktverhalten nicht als moralisch defizitär, sondern als ethisch indifferent. Eine ambivalente Situation tut sich auf. Einerseits sind die Praktiken der WK eingebettet in das gesamtgesellschaftlich akzeptierte Normengefüge und erfolgen aus der Mitte einer legalen Geschäftsaktivität, andererseits werden wirtschaftliche Vorgänge von der Kriminologie als teilweise abgeschlossenes System verstanden, das gerade darum einen der WK förderlichen „Nährboden“ bietet. Demnach können sich in Teilen der Wirtschaft informelle Werte- und Normensysteme und darauf gestützte Praktiken entwickeln, die in Widerspruch zu rechtlichen Regulierungssystemen stehen.

Von den Tätern werden in erster Linie wirtschaftliche Zwänge als Gründe für WK angeführt (Sog- und Spiralwirkung). Der Druck zum Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit erzeugt danach unausweichlich strafbare Praktiken. Besonders am Beispiel der Korruption lässt sich aufzeigen, dass auch heute noch wirtschaftskriminelle Vorgänge zustimmend bewertet werden. Manche Befürworter erkennen positive Effekte der Korruption und betrachten sie als notwendigen Mechanismus zur Umgehung von staatlicher „Überregulierung“, Reduzierung von Unsicherheit und Erhöhung der Investitionsneigung. Durch Korruption könne der stotternde Motor der Volkswirtschaft schneller zum Laufen gebracht werden, die Zahlung von Bestechungsgeldern allokative Effizienz sicherstellen (vgl. Karmann, S. 97 u. 80). In der Sozialwissenschaft wird schon lange auf den paradoxen Aspekt der Kriminalität hingewiesen, dass Handlungen, die unter Strafe gestellt werden, einerseits negative Effekte für die Opfer, andererseits positive kollektive Effekte erzeugen können. Übertragen auf die WK bedeutet das: Die Sicherung der Konkurrenzfähigkeit großer Unternehmen rechtfertigt im Einzelfall sozialschädliches Verhalten und die Schwächung rechtlicher Normen.

Diese Ambivalenz wird ergänzt durch die sich in vielen Fällen aufdrängende Schwierigkeit der Grenzziehung zwischen legalen und nicht legalen Praktiken. Fragwürdige Verhaltensweisen können als legale Handlungen erscheinen bzw. unterscheiden sich äußerlich kaum von legalen Vorgängenund lassen sich strafrechtlich nur schwer erfassen. Der Rechtsbruch wird nach außen „unsichtbar“, das Aufdeckungsrisiko ist gering: „Die Grenze zwischen Kriminalität und Geschäftstüchtigkeit scheint sich im Grau wirtschaftlicher Grenzmoral zu verlieren.“ (Schmitt-Leonardy, S. 62) Neueste Software und der Einsatz modernster Technologien erleichtern dabei die Begehung und die Verschleierung von Straftaten – auch findet psychologisch eine Neutralisierung [5] statt (Straftaten „per Mausklick“ fallen offenbar leichter).

Sozialwissenschaftliche

Erklärungsansätze

Im Gegensatz zu den ökonomischen Theorien befasst sich die Soziologie mit dem Individuum und dessen Interaktion mit der Umwelt. Agiert ein Individuum gegen eine Norm, wird dieses Verhalten als abweichendes Verhalten oder Devianz bezeichnet. Wer sind diese Personen im Bereich der Wirtschaft? Es handelt sich überwiegend um ehrgeizige, berufsorientierte Männer über 40 Jahre in Entscheidungspositionen, die relativ angepasst mit grundsätzlich legalen Wertvorstellungen und in legalen und unauffälligen Sozialstrukturen leben und beruflich über das Normale hinaus motiviert sind. Sie haben in der Regel keine Schulden, sind nicht vorbestraft, erfahren, „korrekt“, eher penibel, aber auch dominant. So beschreibt zumindest die Professorin für Kriminologie Britta Bannenberg die typischen Wirtschaftsstraftäter (vgl. Bannenberg, S. 763). Das Unternehmen scheint für sie als gesellschaftliche Enklave einen „geschützten Ort“ zu bieten, der wirtschaftskriminelle Handlungen ermöglicht und befördert. Sie haben die Gelegenheit zur Tat und profitieren direkt und indirekt davon (Karriere oder wenigstens Arbeitsplatzsicherheit).

Aus Sicht der Soziologie kann WK als ein von der allgemeinen Erwartungshaltung abweichendes persönliches Verhalten bezeichnet werden, mit dem sich Einzelne einen monetären oder nichtmonetären Vorteil gegenüber Konkurrenten oder der Allgemeinheit zu verschaffen suchen – oder das unter dem Druck der Verhältnisse die ökonomische Position des eigenen Unternehmens festigen soll. Die mangelnde Normbefolgung drückt dabei nicht notwendigerweise deren generelle Ablehnung aus, sondern kann in konkreten Einzelfällen Problemlösungen anbieten, wenn sich rein formale Normen im Alltag als dysfunktional erwiesen haben. Insofern wirkt der Ort des Unternehmens kriminogen. Zur Erklärung der politischen Relevanz der WK ist eine Typisierung des Wirtschaftsstraftäters aber uninteressant. Die Ursachen für eine Tat bei der Person des Täters oder insbesondere in dessen Persönlichkeit zu suchen, hilft nicht weiter. Denn einer Personalisierung des Problems ist – wie erwähnt – vorzubeugen, zusätzliche Befunde zur Person des Delinquenten füllen darüber hinaus nicht die Erkenntnislücken hinsichtlich der ökonomischen und politischen Entstehungszusammenhänge der WK.

Mit Recht gegen

die Macht der Konzerne?

Der täterorientierte Zugang, das heißt das Verhalten verantwortlicher Einzelpersonen, wird von vielen Kriminologen in den Mittelpunkt des Interesses gerückt, um dem „Wesen“ oder den Ursachen der WK auf die Spur zu kommen. Das auf natürliche Personen orientierte deutsche Strafrecht steht allerdings stark in der Kritik. In juristischen Kreisen wird sogar die Frage aufgeworfen, ob das Strafrecht überhaupt ein geeignetes Mittel zur Bekämpfung der WK bzw. der Korruption darstellt und nicht vielleicht bereits ausgedient hat (vgl. Schwind, S. 450 u. Thiel, S. 181). Dass sich ein strafrechtlicher Abschreckungseffekt von neuen Gesetzen und Sanktionen empirisch nicht untermauern lässt, weder auf individueller noch auf Unternehmensebene, konstatiert die Fachliteratur ebenfalls (mit Blick auf die völkerrechtliche Dimension vgl. Karstedt, S. 159ff.). Die bloße Schaffung neuer Straftatbestände wird an dem Problem nur wenig ändern können.

Dennoch wird derzeit ein emanzipatorisches Projekt vorangebracht, dass eine weitergehende Verrechtlichung ökonomischer Prozesse zum Ziel hat. Es handelt sich um die Etablierung desWirtschaftsvölkerstrafrechts (vgl. Jeßberger et al.). Denn Menschen- und völkerrechtlich orientierte Aktivisten, die wirtschaftliche Aktivitäten weltweit stärker rechtlich reguliert sehen wollen, befinden sich derzeit in einer verzwickten Lage. Zum einen prallen sie gegen die von den mächtigsten Staaten selbst geschaffene neoliberale Mauer aus Privatisierung und Liberalisierung bzw. Deregulierung, zum anderen folgt das Recht den wirtschaftlichen Praktiken oft nach, legalisiert sie und konzentriert sich auf die Absicherung des Privateigentums an Produktionsmitteln. Den Initiatoren geht es aber nicht um den strafrechtlichen Schutz wirtschaftsbezogener Rechtsgüter (Eigentum, Wettbewerb, Volkswirtschaft), sondern darum, Verantwortungsträger in Unternehmen für Beteiligungen an Völkerrechtsverbrechen zu verfolgen und die Einzelnen vor politischen Wirtschaftsstraftaten zu schützen.

Ob dabei am Individuum, das heißt dem Unternehmer, oder am Unternehmen angesetzt werden sollte, scheint in dem Diskurs noch eine offene Frage zu sein. Immerhin sehen Menschenrechtsaktivisten wie Wolfgang Kaleck (Anwalt für internationales Strafrecht) eine positive Tendenz: Die Schwächung des bisher vorherrschenden Paradigmas der freiwilligen Übernahme von sozialer Verantwortung durch Unternehmen (Corporate Social Responsibility), gleichzeitig aber eine Stärkung von tatsächlicher Verantwortlichkeit und Haftung von Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen (Kaleck nennt als Beispiel die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte, die im UN-Menschenrechtsrat 2011 verabschiedet wurden und die sich an Staaten und an die Wirtschaft zugleich wenden; vgl. Kaleck, S. 83ff.). Es handelt sich dabei zwar lediglich um sogenanntes Soft Law, das heißt um Übereinkünfte, die rechtlich nicht durchsetzbar sind, denn Unternehmen können noch nicht vor den Menschenrechts-Gerichtshöfen angeklagt werden, da allein Staaten durch die Völkerrechtsverträge rechtlich gebunden sind. Kaleck aber setzt auf den Faktor Zeit: Er versteht Soft Law als sich entwickelndes Recht, das, so die Hoffnung, zunehmend Wirkung entfalten wird.

Fazit

Auch wenn die Validität der statistischen Ergebnisse zur WK unbefriedigend ist, liegt es auf der Hand, dass das Prinzip der Profitmaximierung einen Kriminalitätsfaktor darstellt. Insofern übt „die Wirtschaft“ einen kriminogenen Einfluss aus. Die Ausgangssituation zeigt sich als ambivalent. Normen werden zum Gegenstand zweckrationaler Überlegungen, wie sie im eigenen Interesse zu umgehen, über Lobbyarbeit abzuändern oder neu, den Profitzielen konform, zu schaffen sind. Durch den Einfluss auf den Gesetzgebungsprozess sorgen die „Mächtigen“ dafür, dass strafrechtliche Bestimmungen, wenn sie denn nicht zu verhindern sind, möglichst unbestimmt gehalten werden, um viele Interpretationen zu ermöglichen. Die Unklarheit, ob in vielen Fällen überhaupt eine Straftat im Sinne der Strafgesetzgebung vorliegt, ist dabei nicht zuletzt dem Lobbyismus der Kapitalseite geschuldet.

Wo seitens der Wirtschaft dagegen ein Interesse an rechtlicher Verbindlichkeit und wirksamen Durchsetzungsmechanismen besteht, gibt es sie auch. Stehen verbindliche Normen Wirtschaftsinteressen entgegen, sind diese dagegen oft eher wirkungslos. Ein zentrales Problem besteht in der engen Verbindung von Staat und Wirtschaft. Die Ausarbeitung von Gesetzentwürfen wird an private Anwaltskanzleien ausgelagert, Politiker wirken in Aufsichtsräten und Vorständen mit oder wechseln nach ihrem Mandat direkt in die Wirtschaft. Auch sind Public-private-Partnerships in Zeiten angespannter öffentlicher Haushalte angesagt. Von einer „Parallelordnung“ WK kann im engeren Sinne darum nicht gesprochen werden. Es besteht keineswegs die Absicht, die bestehende Ordnung in Frage zu stellen, grundsätzlich wird sie akzeptiert. Denn wirtschaftskriminelle Handlungen sind in dem offiziellen System eingebettet und nutzen es. Sie stellen ein marktkompatibles Verhalten dar, werden aber in der Regel als Marktversagen gedeutet, als Verhalten, das die wirtschaftliche Moral, den Wettbewerb und die Grundlagen der Marktgesellschaften gefährdet.

Legitimiert wird das Wirtschaftsrecht bzw. dessen Ausweitung mit den zu schützenden Rechtsgütern. Dazu zählt seit Beginn der Finanzkrise insbesondere das „Vertrauen in die Wirtschaftsordnung“. Dieses wiederherzustellen scheint notwendig, seit sich der Staat aus der sozialen Daseinsvorsorge zunehmend verabschiedet hat und immer mehr Menschen gezwungen werden, der Vorsorge dienendes Geld an die Kapitalmärkte fließen zu lassen – mit allen damit verbundenen Risiken. Einer sich verstärkenden Legitimationskrise des Neoliberalismus oder gar des Kapitalismus soll vorgebeugt werden, indem marktkonforme Eigenverantwortung in einem „vertrauenswürdigen“ Rahmen wahrgenommen werden kann. Dafür bieten sich verlässliche rechtliche Verfahren an. Da die Steuerung der wirtschaftlichen Prozesse durch nationales Recht aber schwieriger wird, steht auch das Vertrauen in die Ökonomie und das Recht insgesamt auf dem Spiel. In der Ära des Finanzmarktkapitalismus glauben viele Menschen an den Niedergang des Nationalstaats und fürchten die „Unregierbarkeit“ einer globalen, multipolaren Welt, die nicht mehr national und noch nicht supranational reguliert wird. Die Schwächung oder gar Abwesenheit des Rechts, zumindest die Frage nach seiner effektiven Durchsetzung, gewinnt denn auch zunehmend im politischen und wissenschaftlichen Diskurs an Gewicht.

Auch das Wirtschaftsstrafrecht steht in der Kritik. Neuere Wirtschaftskrisen, ausgelöst zum Beispiel durch die im Jahr 2000 geplatzte „Dotcom-Blase“, die Unternehmen der New Economy betraf und viele Kleinanleger in den Industrieländern um ihre Vermögen brachte, sowie die Finanzkrise ab 2007 belegen, dass eine systematische strafrechtliche Aufarbeitung im Zusammenhang mit „toxischen Finanzprodukten“ trotz erheblicher Hinweise auf strafbare Handlungen bis heute ausgeblieben ist. Strafverfahren erfolgten offensichtlich nur in Ausnahmefällen. Als Gründe führt der Jurist Hans-Jörg Albrecht an: Die Diffusion von Verantwortung über tausende Personen in einem Unternehmen und die Furcht vor (ökonomisch) kontraproduktiven Folgen des Strafrechts, also die Annahme, dass „too big to fail“ auch „too big to prosecute“ bedeuten könnte. (vgl. Albrecht, S. 1738)

Als ein weiterer Grund für das selektive Vorgehen von Staatsanwaltschaften in Wirtschaftsstrafsachen ließe sich – neben dem Mangel an Ressourcen und dem möglichen Zurückweichen vor der „Systemrelevanz“ von Unternehmen und ihrer Manager – die bekannte These anführen, dass das Strafrecht zur Aufrechterhaltung seiner Funktion keiner umfassenden, lückenlosen Anwendung bedarf. Schon 1968 schrieb der Jurist Heinrich Popitz: “Wenn auch der Nachbar zur Rechten und zur Linken bestraft wird, verliert die Strafe ihr moralisches Gewicht. Etwas, das beinahe jedem reihum passiert, gilt nicht mehr als diskriminierend. Auch die Strafe kann sich verbrauchen. Wenn die Norm nicht mehr oder zu selten sanktioniert wird, verliert sie die Zähne, − muß sie dauern zubeißen, werden die Zähne stumpf. Selbst der praktische Nachteil, den die Strafe bringt, schwächt sich in dem Grade ab, in dem er allgemein wird. Aber nicht nur die Sanktion verliert ihr Gewicht, wenn der Nachbar zur Rechten und zur Linken bestraft wird. Es wird damit auch offenbar – und zwar in denkbar eindeutiger Weise –, daß auch der Nachbar die Norm nicht einhält.“ (Popitz, S. 43)

Nach Popitz würden die Normen ihre Geltung verlieren, wüssten alle von den zahllosen Normbrüchen, die jeden Tag in den verschiedenen gesellschaftlichen Milieus geschehen. Denn die Illusion ihrer Geltung wäre hinfällig, würde jedes deviante Verhalten aufgedeckt und sanktioniert. Demnach verlieren Strafen ihr moralisches Gewicht, wenn sie jeden treffen (nach dem Motto: „Wenn alle andern gegen das Gesetz verstoßen, kann ich es auch tun!“). Die Pointe ist: Entgegen der allseitigen Forderung nach mehr Transparenz stabilisiert das eigentlich aufzuklärende Dunkelfeld die Normen und erhält nach dieser Theorie das Normen- und Sanktionssystem überhaupt am Leben. Wenn aufgrund einer ausgeweiteten Strafverfolgung gesamtgesellschaftlich deutlich würde, wie groß die „Sog- und Spiralwirkung“ wirklich ist, die die leitenden Angestellten in die WK „zieht“, wäre also nach der Popitzschen Lesart die Schwächung der geltenden rechtlichen Normen und auch der Funktionsfähigkeit des Wirtschaftsstrafrechts die Folge.

Wahrscheinlich ist der theoretische Ansatz, den der Jurist bereits vor fast 50 Jahren entwickelte, jedoch längst bedeutungslos geworden. Denn die meisten Menschen machen sich über die hohe Dunkelziffer im Bereich der WK und das Ausmaß dieser Art der Kriminalität sicherlich keine Illusionen. Weisen die offiziellen Statistiken eine ansteigende WK aus oder passiert bei der polizeilichen Aufdeckung krimineller Handlungen eher wenig (expandiert also das Hell- oder das Dunkelfeld), steigt die Zahl angeklagter Wirtschaftskrimineller oder überwiegt das Paradigma der Selektion im Wirtschaftsstrafrecht und bleiben die meisten Täter strafrechtlich unbehelligt – die Schlussfolgerungen sind immer dieselben. Denn jeder der Fälle wird als ein Versagen des Staates gedeutet. Werden mehr Straftaten entdeckt und juristisch verfolgt, belegt das die Schwäche geltender Normen. Geschieht dies nicht, ist das ein Beweis für die Existenz eines großen dunklen wirtschaftskriminellen „Schattenreichs“ − als ein Symptom defizitär arbeitender staatlicher Behörden. Der populistische Hass auf die „Eliten“ und die „Staatsverdrossenheit“ werden vermutlich so oder so wachsen, während das Vertrauen in den Rechtsstaat zunehmend erodiert.

Als Reaktion auf den faktischen staatlichen „Kuschelkurs“ gegenüber der Wirtschaft sollten darum nicht in erster Linie immer neuere und schärfere Strafgesetze gefordert werden, die das Phänomen WK letztlich nicht besiegen können. Wichtiger wäre es, das dichte Geflecht von Interessen, in dem sich die WK bewegt, konkret aufzudecken, um die Sphäre der Ökonomie als weitgehend demokratiefreie Zone kenntlich zu machen. Damit Zusammenhänge und Mechanismen der WK sowie die Planung, Durchführung und Duldung von Wirtschaftsverbrechen besser verständlich werden, sind deshalb Versuche einer „umfassenden“ und verallgemeinernden Bestandsaufnahme „der“ WK wenig sinnvoll. Es sollten vornehmlich Einzelfälle exemplarisch untersucht werden, sofern sie mehr als nur punktuelle Erkenntnisse liefern und vielmehr typische Merkmale der WK kenntlich machen.

Verschiedene NGOs widmen sich dieser Aufgabe, zum Beispiel TI, LobbyControl und Business Crime Control (BCC). Trotz der Kritik an dem konsensorientierten Kurs von TI bleibt der positive Beitrag der Organisation zu würdigen, denn sie fördert mit ihrer Arbeit ein Bewusstsein für Ausmaß und Folgen der Korruption weltweit und legt Studien und Standpunkte zu einzelnen Gesellschafts- und Wirtschaftsbereichen vor (Finanzmarkt, Gesundheit, Pflege, Sport, Verwaltung u.a.). Der Verein LobbyControl will nach eigener Aussage über Machtstrukturen und Einflussstrategien in Deutschland und der EU aufklären und bezieht sich dabei auf konkrete Wirtschaftssektoren. Er bringt beispielsweise Licht in die Einflussnahme von Unternehmen auf den TTIP-Verhandlungsprozess und berichtet daneben über schmutzige Methoden der Lobbyisten aus der Gesundheits- , Energie-,Auto-, Finanz-, und Rüstungsbranche. BCC selbst versucht seit seiner Gründung 1991 die WK als sozialwissenschaftliches und politisches Thema in der wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion zu etablieren. Tagungen, Veranstaltungen und die vierteljährlich erscheinende Zeitschrift BIG Business Crime reflektieren die thematische Auseinandersetzung mit den verschiedenen Aspekten, Formen und Auswirkungen der WK.

Hans See, Gründer von BCC, wendet sich in seinen theoretischen Arbeiten dagegen, allein für eine neue Wirtschaftsethik zu werben bzw. schärfere Gesetze zu fordern. Denn ethische Maßstäbe beschränken sich auf die „innere“ Handlungsmotivation der Akteure, die Strafverfolgung setzt erst nachträglich ein, das heißt nach dem Machtmissbrauch der Konzerne und Unternehmen. See streitet für mehr Wirtschaftsdemokratie, zum Beispiel in Form einer „kriminalpräventiven Mitbestimmung“, die bereits im Vorfeld von Investitions- und Produktionsentscheidungen dafür sorgt, dass geltende Gesetze eingehalten werden (vgl. See, S. 441)

Die Durchsetzung des Primats der Politik gegenüber der Wirtschaft ist hier entscheidend. Die Demokratisierung der Ökonomie, verstanden als Dreh- und Angelpunkt der Demokratiefrage überhaupt, verweist aber letztlich darauf, dass die Kritik an einer Gesellschaft, die im Ist-Zustand von wirtschaftskriminellen Praktiken durchzogen ist, eine Vorstellung von einem wünschenswerten Soll-Zustand impliziert. Die Frage, wie ein politisches und gesellschaftliches System aussehen kann, dem Wirtschaftskriminalität und Korruption weitgehend fremd sind, muss deshalb immer wieder neu gestellt werden.

Literatur:

Hans-Jörg Albrecht, „Wirtschaftskriminalität“, in: Evangelisches Soziallexikon (hrsg. v. Jörg Hübner et al.), 9. überarb. Aufl., Stuttgart, 2016, S. 1734-39.

Britta Bannenberg, Korruption und Wirtschaftskriminalität als soziales Problem, in: Günter Albrecht/Axel Gronemeyer (Hrsg.), Handbuch soziale Probleme, Bd. 1, 2. Aufl., 2012, S. 752-71.

Kai-D. Bussmann, Editoral: Wirtschaftskriminologie im Aufbruch, in: MschrKrim (Monatsschrift für Kriminologie), Heft 5, 2010, S. 343-45.

Armin-Josef Guggenberger, Die Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität in einer Marktwirtschaft – eine empirische Analyse, Diss. Universität Regensburg, 2012. http://epub.uni-regensburg.de/23501/1/gugggenberger.pdf

W. Kaleck Die Verantwortung von Unternehmen und Unternehmern für Völkerrechtsverbrechen ̶ die Entwicklung seit den Nürnberger Prozessen, in: Florian Jeßberger/Wolfgang Kaleck/Tobias Singelnstein (Hrsg.), Wirtschaftsvölkerstrafrecht. Ursprünge, Begriff, Praxis, Baden-Baden, 2015, S. 83-120.

Susanne Karstedt, Transnationale Unternehmen und Völkerstrafrecht. Kriminologische Perspektiven, in: Florian Jeßberger et al., a.a.O., S. 159-90.

Christopher Karmann, Korruption von global agierenden Unternehmen. Regelungssysteme der Bekämpfung, Baden-Baden, 2016.

Frank Neubacher, Kriminologie, 2. Aufl., Baden-Baden, 2014.

Heinrich Popitz, Über die Präventivwirkung des Nichtwissens (1968), in: Daniela Klimke/Aldo Legnaro (Hrsg.), Kriminologische Grundlagentexte, Wiesbaden, 2016, S. 33-46.

Charlotte Schmitt-Leonardy, Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?, Heidelberg/München, 2013.

Hans-Dieter Schwind, Kriminologie. Ein praxisorientierter Einführung mit Beispielen, 21. Aufl., Heidelberg/München, 2011.

Stephanie Thiel, „Korruption als Forschungsthema der Kriminologie“, S. 169-188, in: Peter Graeff/Jürgen Grieger (Hrsg.), Was ist Korruption? Begriffe, Grundlagen und Perspektiven gesellschaftswissenschaftlicher Korruptionsforschung, Baden-Baden, 2012.

Hans See, Wirtschaft zwischen Demokratie und Verbrechen. Grundzüge einer Kritik der kriminellen Ökonomie, Frankfurt am Main, 2014.

Thomas Welskopp, Wirtschaftskriminalität und Unternehmen – Eine Einführung, in: Hartmut Berghoff/Cornelia Rauh/Thomas Welskopp, Tatort Unternehmen. Zur Geschichte der Wirtschaftskriminalität im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin/Boston, 2016.

Anmerkungen:

[1] Labeling approach („Etikettierungsansatz“) meint, dass „abweichendes Verhalten“ nicht objektiv vorhanden, sondern durch soziale Zuschreibung erklärbar ist. Der Ansatz fragt nicht nach den Ursachen eines Verhaltens, sondern danach, wie es dazu kommt, dass das Verhalten als kriminell bezeichnet und sanktioniert wird, ein anderes dagegen nicht. Es gibt danach keine Kriminalität an und für sich, weil sie stets von der Definitionstätigkeit der Rechtsanwender abhängt; vgl. Neubacher, S. 105.

[2] A. Rossbach,„Die Unternehmung als Objekt und als Instrument krimineller Handlungen unter besonderer Berücksichtigung der Abschreibungsgesellschaften“, in: Betriebswirtschaft in Forschung und Praxis (1975), zitiert nachGuggenberger, S. 56.

[3] BKA-Forschungsreihe Bd. 35, 1996, S. 22, zitiert nach See, S. 19.

[4] Nicht alle sehen hier ein Problem: „Im Bereich der klassischen Kriminalität wurde die Hauptlast der Prävention schon immer von der Familie, den Nachbarn, der Schule und der Gemeinschaft getragen. Warum sollte das bei Unternehmen anders sein, nur weil sie zuvörderst an ihren Nutzen denken?“ (Bussmann, S. 345).

[5] Neutralisierungstechniken sind Rationalisierungen, das heißt nachträglich zurechtgelegte Erklärungen zur persönlichen Entlastung. Wirtschaftsstraftäter möchten sich selbst nicht als kriminell ansehen und verweisen deshalb häufig auf die Branchenüblichkeit.

Joachim Maiworm lebt in Berlin. Er schreibt unter anderem für “Ossietzky” und “junge Welt”.

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Geschrieben von

BIG Business Crime

BIG Business Crime ist eine Drei-Monats-Zeitschrift des Vereins Business Crime Control e.V. Seit Ende 2018 online unter: big.businesscrime.de

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