Zwischen Diktatur und Demokratiebewegung

WM 1970 Während des WM-Erfolgs regierte die brutale Militärdiktatur in Brasilien. Doch auch durch die Verbindung von Fußball und Politik begann der demokratische Umbruch im Land

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Der brasilianische Fußballstar Pele nach dem Sieg der Fußballweltmeisterschaft im Stadion Azteca in Mexico Stadt 1970
Der brasilianische Fußballstar Pele nach dem Sieg der Fußballweltmeisterschaft im Stadion Azteca in Mexico Stadt 1970

Foto: Keystone/ AFP/ Getty Images

1969 war ein turbulentes Jahr für die sich konsolidierende und brutalisierende Militärdiktatur in Brasilien. Mit der Verkündung einer Art Notstandsgesetzgebung (dem AI 5) im Jahre 1968 hatte sich die „harte Linie“ endgültig durchgesetzt. Im Juni 1969 erkrankte Präsident Costa e Silva so schwer, dass er sein Amt nicht mehr ausüben konnte. Die Militärs setzten alles daran, die Amtsübergabe an einen zivilen Vizepräsidenten zu verhindern. Am 31. August wird durch eine Verfassungsänderung (AI 12) eine Militärjunta unter Führung von Ernesto Medici installiert. Am selben Tag treffen die Fußballmannschaften von Brasilien und Paraguay im Maracanã-Stadion in Rio de Janeiro aufeinander. Es ist das letzte und entscheidende Spiel für die Qualifikation und geht in die Geschichte als das Spiel mit der höchsten offiziell registrieren ZuschauerInnenzahl in die Geschichte des brasilianischen Fußballs ein: über 180.000 erleben den 1:0-Sieg Brasiliens und die Qualifikation für die Fußballweltmeisterschaft der Männer 1970 in Mexiko.

Der Trainer der brasilianischen Mannschaft heißt João Saldanha, ein überzeugter Linker und Mitglied der verbotenen Kommunistischen Partei. Nach dem Debakel von 1966, als Brasilien bei der WM in England schon in der Vorrunde ausschied, war der Erfolgsdruck immens. Der Präsident des brasilianischen Fußballverbandes João Havelange schreckte nicht davor zurück, den als Querkopf und Kommunisten bekannten Saldanha als Trainer einzustellen. Über den 31. August erzählte Saldanha eine besondere Geschichte: Der für den Sport zuständige General Eloi Menezes habe ihn vor dem Spiel informiert, dass der erkrankte Präsident Costa e Silva gestorben sei und eine Gedenkminute eingelegt werden solle. Saldanha riet mit Blick auf ein mögliches Pfeifkonzert ab. Es gab keine Schweigeminute und Costa e Silva starb auch erst im Dezember.

Der neue Präsident, Medici, ist nicht nur begeisterter Fußballfan, sondern legt auch den größten Wert auf volksnahe Auftritte. Er wagt sich in volle Stadien, jongliert in Fernsehshows mit dem Ball und versucht sich und dem Regime durch den Fußball ein populäres Image zu geben.

Als sich Medici in die Aufstellung der Nationalmannschaft einmischte, trat Saldanha zurück. Der Zwischenfall zeigt, wie ernst die Militärdiktatur die WM von 1970 nahm. Nachfolger von Saldanha wird Zagallo und mit ihm erfolgt eine als „Militarisierung“ bezeichnete Transformation der Nationalmannschaft. Jeronimo Bastos, ein Militär, wird Leiter der brasilianischen Delegation für die WM in Mexiko und weitere Militärs werden in die Vorbereitung einbezogen. Der bekannteste von ihnen war Claudio Coutinho, der später (1978) Nationaltrainer werden sollte. Coutinho verkörperte einen ganz anderen Fußballstil als der impulsive Saldanha: er wollte das systematische Training auf wissenschaftliche Grundlage stellen und sah in der guten physischen Verfassung die entscheidende Bedingung für den WM-Sieg.

Kein Fußball-Ereignis war bisher in Brasilien so offen politisch ausgeschlachtet worden wie die WM von 1970. Die Hymne „Pra Frente Brasil - Vorwärts Brasilien“, der offizielle WM-Jingle des Landes, synthetisiert den nationalistischen Geist der Diktatur: „90 Millionen in Aktion, vorwärts Brasilien ... alle vereint in derselben Emotion.“ Nun, eben nicht alle. Während der WM wird der deutsche Botschafter in Brasilien, Ehrenfried von Holleben, von der linksgerichteten Guerilleros der Vanguarda Popular Revolucionária entführt. Zum Austausch für die Freilassung des Botschafters akzeptiert die Regierung am 17. Juni die Ausreise von 40 politischen Gefangenen nach Algerien.

Das Regime verstärkt daraufhin die Repression und instrumentalisiert die Nationalmannschaft für Propaganda gegen die Guerilla. Den Widerstandskämpfern wird zum Vorwurf gemacht, die brasilianische Mannschaft zu stören. Die Folha de São Paulo titelte am 17. Juni: „Nachrichten aus Mexiko zeigen die Verstörung, die die Nachricht über die Entführung bei unserer Mannschaft provozierte. Pelé, Rivelino und andere Spieler äußerten sich und verurteilten den terroristischen Akt.“

Trotz dieser „Störung“ wird Brasilien souverän Weltmeister: Im Endspiel siegt die brasilianische Seleção anscheinend mühelos mit 4:1 gegen Italien. Die Regierung schlachtet den Triumph schamlos aus, und Medici empfängt die Seleção mit einem geradezu idealtypischen Statement über die Vereinigung von Fußball und angeblichem nationalen Interesse: „Ich identifiziere den Sieg im sportlichen Wettkampf mit dem Vorherrschen der Prinzipien, die wir in unserem Kampf für die nationale Entwicklung lieben sollen.“ Weiter bezeichnet er den Erfolg im Fußball als eine „Bestätigung des brasilianischen Menschen“.

Tatsächlich konnte die Militärjunta 1970 durch den Fußball einen der seltenen Momente relativer Popularität feiern. Für andere Beteiligte ebnete der Sieg von 1970 eine bemerkenswerte Karriere: João Havelange, Sohn eines Waffenhändlers, wurde 1974 zum Präsidenten der FIFA gewählt, ein Amt, das er 24 Jahre lang behalten sollte. Zusammen mit seinem Schwiegersohn Ricardo Teixeira, der jahrzehntelang den brasilianischen Fußballverband anführte, transformierte er die FIFA in einen mächtigen und undurchsichtigen Konzern, der das populärste globale Event gnadenlos vermarktet.

Inzwischen verloren beide ihre Ämter oder Ehrenämter, weil sich die massiven Korruptionsanschuldigungen verdichteten. Aber das System FIFA wird von dem ehemaligen Generalsekretär Havelanges, Joseph Blatter, fortgeführt. In Brasilien sind die Kontinuitäten noch schmerzhafter. Zwar musste Ricardo Teixeira sein Amt aufgeben, konnte aber als Nachfolger seinen Vertrauten José Maria Marin durchsetzen. Marin hatte während der Militärdiktatur politische Karriere gemacht und wird beschuldigt, geistiger Urheber des Mordes an dem Journalisten Wladimir Herzog zu sein. Marin hatte zuvor den Sender, für den Herzog arbeitete, als unpatriotisch und subversiv bezeichnet. Nun ist er Präsident des Vorbereitungskomitees für die WM, wahrlich ein „ehrenhafter Gastgeber“ – wie der WDR eine Reportage über Marin titelte.

Aber die Verbindung zwischen Fußball und Politik hat auch eine andere Seite: Fußballspieler engagierten sich im Kampf gegen die Diktatur. 1982 beginnt eines der bemerkenswertesten Kapitel brasilianischen Fußballgeschichte, die Democracia Corinthiana. Corinthians, der Fußballclub São Paulos, lag sportlich danieder, als die Spieler selbst das Zepter in die Hand nehmen, den Trainer wählen und einen demokratischen Club etablieren. Alles wird diskutiert und abgestimmt – jeder hat eine Stimme. Und trotz des Slogans „Siegen ist nur ein Detail“ wird die sympathische Chaos-Truppe Meister von São Paulo. Der bekannteste Spieler, Sócrates, engagierte sich dann in der Kampagne Diretas-já! für Direktwahlen, die der Militärdiktatur ein Ende setzen wollte und Millionen auf die Straße brachte. Sócrates wurde zu einer der wichtigsten Personen der Demokratiebewegung der achtziger Jahre und versprach, weiter in Brasilien zu spielen, wenn die Kampagne erfolgreich wäre. Leider erreichte die Bewegung nicht ihr Ziel und Sócrates ging nach Italien.

Die Massenproteste im Juni 2013 anlässlich des Confederation Cups machen Hoffnung, dass die Fußball- WM 2014 im Zeichen eines neuen demokratischen Aufbruchs stehen kann und nicht nur die Kontinuitäten der „FIFA Mafia“ (so der Buchtitel des SZ-Journalisten Thomas Kistner) präsentiert.

Zum Autor:

Thomas Fatheuer ist Vorstandsmitglied der Kooperation Brasilien e.V. (KoBra) und Mitherausgeber des Buches „Fußball in Brasilien: Widerstand und Utopie“, das gerade im VSA-Verlag erschienen ist.

s. auch: Staatsstreiche und Militärinterventionen in Lateinamerika

s. auch: Gekaufte Spiele - Brasilien vor der WM

s. auch: "Es wird keine WM geben"

s. auch: Gekaufte Spiele - Gewinner und Verlierer der WM stehen schon fest: Aufzeichnungen einer Veranstaltung in Frankfurt am Main am 17.05.2014

  1. Einleitung

  2. Traum oder Albtraum
    Die sozialen Unruhen in vielen brasilianischen Städten und Regionen im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft. Von Claudia Fix, Redaktionsmitglied der Lateinamerika-Nachrichten in Berlin

  3. Mythos Maracanã
    Die Geschichte des legendären Stadions in Rio de Janeiro ist mehr als ein Fußballmärchen. Von Thomas Fatheuer, Vorstandsmitglied bei Kooperation Brasilien e.V. (KoBra)

  4. Weltkonzern Fußball
    Das System Blatter und Fußball als Modernisierungsmythos. Ein Vortrag von Jens Weinreich, Sportjournalist und FIFA-Kritiker

s. auch Lateinamerika-Nachrichten: Lieber Brot als Spiele - Statt Karnevalsstimmung herrscht in Brasilien vor der Heim-WM große Wut auf die FIFA

s. auch ZEIT online: Abpfeifen! Jetzt!

s. auch hr 2 / Kultur "Der Tag": Fußball ist nicht Leben - Brasilien und die WM (Audio-Podcast mp3)

s. auch Deutschlandradio: Fussball-WM - Brasilien tritt Menschenrechte mit Füßen (Audio-Podcast mp3)

BIG Business Crime ist eine Dreimonatszeitschrift des gemeinnützigen Vereins Business Crime Control e.V.

Herausgeber: Business Crime Control e.V., vertreten durch den Vorstand Erich Schöndorf, Stephan Hessler, Wolf Wetzel, Victoria Knopp, Hildegard Waltemate, Hans Scharpf, H.-Thomas Wieland
Mitherausgeber: Jürgen Roth, Hans See, Manfred Such, Otmar Wassermann, Jean Ziegler
Verantwortliche Redakteurin: Victoria Knopp
Redakteure: Gerd Bedszent, Reiner Diederich, Stephan Hessler

An dieser Stelle veröffentlichen wir ausgewählte Artikel aus der Zeitschrift BIG Business Crime online.

Beiträge in BIG Business Crime 02/2014 u.A.:

Wolf Wetzel: Gekaufte Spiele

Thomas Fatheuer: Fußball zwischen Diktatur und Demokratiebewegung

Claudia Fix: "Es wird keine WM geben"

Hans See: Zum 80. Geburtstag von Jean Ziegler

Vladimiro Giacché: Von einer Krise zur anderen - wie weiter?

Reiner Diederich: Quo Vadis Europa?

Gerd Bedszent: Machtkamps in der Ukraine

Wolf Wetzel: Der blinde Flecck, der äußerst gut sehen kann

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