Bildungspolitik: Zukunft für alle

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oder: Der halberwachte Quade in der Quadenfabrik

Verdeutlichen wir uns einige Fakten und Ausblicke:

1. In Deutschland leben ca. 82 Millionen Menschen, davon 20% mit Migrationshintergrund. Wir sind eine Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft. Über 70% der Arbeitsplätze befinden sich im Dienstleistungssektor. Die Veränderungsdynamik in einem weltweit globalisierten Kapitalismus ist enorm. Von den Beschäftigten werden zunehmend hochentwickelte, differenzierte Kompetenzprofile in allen Beschäftigungssektoren erwartet.
Das deutsche Bildungssystem müsste hier endlich vorausschauend agieren, ist bisher aber habituell noch nicht in einer globalisierten multimedialen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts angekommen. Die Zukunft wird so verschlafen.

2. Etwa 12 Millionen Schülerinnen und Schüler (9,2 Mio. in allgemeinbildenden Schulen und 2,8 Mio. in beruflichen Schulen) werden täglich von ca. 700.000 Lehrerinnen und Lehrern unterrichtet. In jeden Hauptschüler, Realschüler und jeden Gymnasiasten werden wöchentlich 35 bis 37 Unterrichtsstunden gepumpt. Der Erfolg ist spärlich: Wir erreichen im Bundesdurchschnitt eine Abiturientenquote von 28%, ca. 260.000 Schüler pro
Jahr. Dem stehen gegenüber ca. 80.000 Schüler ohne Hauptschulabschluss (vor allem Sonderschüler, abgebrochene Hauptschüler) und 280.000 mit Hauptschulabschluss, der aber zunehmend arbeitsmarktpolitisch wertlos wird. Unter Berücksichtigung aller Schulformen, insbesondere der Berufsschulen und nachholender Abschlüsse auf dem 2. Bildungsweg, kommen wir deutschlandweit auf eine Abitur-/Fachabiturquote von 40 bis 45%. Ca. 35% eines Jahrgangs nehmen tatsächlich ein Studium auf. Damit sind wir auf Dauer international nicht konkurrenzfähig.

3. Das deutsche Bildungssystem ist unterfinanziert. Der Anteil der Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt ist seit Jahren rückläufig und liegt unterhalb des OECD-Durchschnitts. Das meinen z.B. nicht nur die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, sondern auch die OECD-Beobachter und die deutschen Arbeitgeberverbände. Allerdings: Analysen sind das eine, praktische Strategien und Maßnahmen der politischen Umsteuerung und die Finanzierung des Umbaus das andere.

4. In den nächsten 8 bis 10 Jahren scheiden etwa 50% der derzeitigen Lehrer (über 300.000 durch Früh-/Pension) aus dem Schuldienst aus. Ab 2013 zeigt sich verstärkt die demografische Lücke, d.h. ein deutlicher Rückgang der Schülerzahlen ist vorhersehbar.
Die Folge wird sein: eine drohende Facharbeiter- und Akademikerlücke. In 5 Jahren verfügen z.B. in einer Großstadt wie Frankfurt mehr als 60% der Kinder in der Grundschule über einen Migrationshintergrund. Das stellt alle Beteiligten vor neue
Herausforderungen und zwingt zu einem radikalen Umbau des Schulsystems. Der Teufelskreis aus – niedriger sozialer Schicht, Migrationshintergrund, geringwertiger Schulbildung, niedriger Ausbildungsquote, steigenden Integrationskosten als Folge einer verfehlten Bildungspolitik – muss durchbrochen werden. An der Einführung der flächendeckenden Ganztagsschule (min. 70% der Schulen) mit systematischer Förderung des Einzelnen führt kein Weg vorbei. Präventive Bildungspolitik macht einen Großteil der späteren sozialpolitischen Reparaturmaßnahmen überflüssig. Gleichzeitig brauchen wir aber auch mehr Mittel in der Spitzenförderung. Deutschland ist das Land der Dichter, Denker und intelligenten Maschinenbauer – eine effiziente Förderung neuer Ideen und Kreationen durch die öffentliche Hand ist angesagt. Almosen und kleine »Stiftungspreise« sind hier der falsche Weg.

5. Die Weichen können tatsächlich jetzt neu gestellt werden. Wir brauchen einen Masterplan »Bildung bis 2016« mit einer klaren Rahmenorientierung:

- Flächendeckende Frühförderung aller Kinder, insbesondere Deutsch, Musik, Sport und interkulturelles Lernen (keine neuen Programme, sondern Taten!)

- Neue Lernkulturen und Qualitätsverbesserungen in allen öffentlichen Schulen; besonders hervorstechende Qualitätsschulen werden als Referenzpunkte gesetzt

- Eine neue Lehrerausbildung: Persönlichkeiten braucht die Schule, keine ferngesteuerten Modulrealisierer, Erbsenzähler und Paragraphenreiter

- Eine neue Prüfungsdidaktik und neue Maßstäbe einer Leistungsbeurteilung

- Mindestens 75% Abitur in einer Jahrgangsbreite

- Mindestens 50% Universitäts- und Fachhochschulabschlüsse

- Deutliche Reduzierung der Abbrecherquoten an Universitäten (zurzeit etwa 30% der Studierenden!)

- Ein zusätzliches 100-Milliarden-Bildungsprogramm als bedeutsame Zukunftsinvestition, das Bund, Länder und Kommunen gemeinsam stemmen.

6. Es besteht weitgehend Konsens darüber, dass dem Bildungssektor eine Schlüsselfunktion für Wachstum und Wohlstand in unserer Gesellschaft zukommt. Ausweitung hochwertiger, formaler Schulabschlüsse ist das eine und qualitative Steigerung der Kompetenzen das andere. Die Steigerung der Arbeitsproduktivität der Erwerbsbevölkerung ist ohne einen politisch initiierten Bildungsausbau nicht zu haben. Neue Tätigkeits- und Kompetenzprofile sind unter Beteiligung aller gesellschaftlichen Gruppen zügig umzusetzen. Entgegen der Reform-Rhetorik und der Betonung der Bedeutung des »lebenslangen Lernens« (seit mindestens 10 Jahren!) sind die Weiterbildungsausgaben des Staates und der privaten Unternehmen reduziert worden. Die Weiterbildung verharrt auf niedrigem Niveau. Je früher wir aus dieser Sackgasse umkehren, desto besser. Die Arbeitgeber tragen hier eine besondere Verpflichtung und Verantwortung für Bildung, Aus- und Fortbildung der (zukünftig) Beschäftigten. An einer Neuerfindung der Berufsschulen als »Kompetenzzentren für Aus- und Weiterbildung« mit nachhaltiger Bildungswirkung wird keine Landesregierung vorbeikommen. Die selbstverantwortliche, qualitätszentrierte Schule steht auf der Tagesordnung.
Schulen als bürokratisch überformte Anstalten gehören endgültig der Vergangenheit an. Moderne Schulen besitzen volle Rechtsfähigkeit, regeln weitgehend Bildungsprogramm und Organisation selbstständig, haben Personal- und Budgethoheit.

Zu allen sechs aufgezeigten Punkten sollten zügig politisch-pragmatische Lösungen gefunden werden. An Konzepten mangelt es nicht, es fehlt am engagierten Gestaltungswillen in der Politik und am konsequenten Aufbruch von vielfältigen Bürgerbewegungen, die einfach mit gezielten Reformen anfangen und nicht allein auf den »Staat« als Allheilmittel setzen. Die Bundestagswahl 2009 ist eine Form der Willensbekundung. Der Souverän entscheidet oberflächlich mit, mehr nicht.

Nachtrag:
Einige Milliarden Euro sind für Gebäudesanierung und Innenausstattung für Hochschulen und Schulen genehmigt, sozusagen als Konjunkturprogramm zur Abdämpfung der Wirtschaftskrise (nicht aus Überzeugung zur Bedeutung von Bildung!). Von einem pädagogisch-didaktischen Aufbruch keine Spur.

Gleichzeitig erhält allein die Hypo Real Estate weit über 100 Milliarden Euro an Subventionen, um den Zusammenbruch abzuwenden. Noch vor 9 Monaten wussten 98% der Bevölkerung gar nicht, dass es die HRE überhaupt gibt. Die Netto-Neuverschuldung beträgt allein beim Bund 2010 weit über 90 Milliarden Euro. 2011 wird eine Verschuldung in ähnlicher Höhe anstehen. Alles andere – nämlich die (geplante?) Absenkung weitere Neuverschuldung ab 2012 – sind reine Spekulation. Einnahmen und Ausgaben driften immer weiter auseinander. Steuerpolitik ist letztlich Machtpolitik.

Was wird durch solch eine Realpolitik erreicht? In welchem Zustand befinden sich die halberwachten Quaden? Wird hier Zukunft gestaltet?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Bildungswirt

Bildungsexperte, Wissenschaftscoach, Publizist, Müßiggänger, Musiker

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