Das Zeitalter des Rhizom

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Wer über das Rhizom – das dynamisch pulsierende Wurzel-Denkgeflecht ohne Hauptader - systematisch und strukturiert schreiben will, steckt schon in der Falle traditioneller Logik. Die geordnete Darstellungsform zwingt zum Baum, zur Hierarchie, zur Klassifikation, zum Entweder-Oder, zur „0 -1 – Entscheidung“. Sie verfehlt ihren schwer fassbaren „Gegenstand“, verbirgt mehr als sie enthüllt.

Das Rhizom selber kann die unterschiedlichsten Formen annehmen, von der verästelten Ausbreitung in alle Richtungen an der Oberfläche bis zur Verdichtung in Knollen, Knoten, Denkschleifen und Neuschöpfungen. Es kann im Plural auch der unendlich tiefe und ausgedehnte Kaninchenbau des WWW sein. Ein Rhizom kann an jeder beliebigen Stelle gebrochen und zerstört werden, es wuchert entlang seiner eigenen oder anderen Linien weiter.
Jede Vielheit, die mit anderen durch an der Oberfläche verlaufende unterirdische Stängel verbunden werden kann, so dass sich ein Rhizom bildet und ausbreitet, nennen wir Plateau. Gilles Deleuze und Felix Guattari - die Rhizomatiker par exzellence - setzten solche, ähnliche und verfremdete Sätze schon vor 30 Jahren in die Welt. Ihr Denken sprengt alle gewohnten Zuordnungen, irritiert, fordert vom Leser selbst „Rhizom machen“, was ich hiermit tue und nach Belieben zitiere, montiere, konnektiere, erweitere. Schöpfe oder stirb! (Oder heb’ das oder auf.)
1000 Plateaus - wie geschmeidiger, nicht mehr eindämmbarer Bambus – sind wahrscheinlich die Horrorvision des Kleingärtners mit den abgezirkelten Beeten. Von Deleuze/Guattari dauerte es noch einmal einen Wimpernschlag der jüngeren Weltgeschichte, bis Google und Wikipedia, um im Zeitalter des Rhizom mit voller Wucht anzukommen.

Freitag-LeserInnen: Findet die Stellen in einem Buch oder im Gestöber der Blogosphäre, mit denen ihr etwas anfangen könnt. Wir lesen und schreiben nicht mehr in der herkömmlichen Weise. Es gibt keinen Tod des Buches oder des Hypertextes, sondern eine neue Art des Lesens. In einem Buch, im Netz, im Großen Text der Politiken gibt' s nichts zu verstehen, aber viel, womit man etwas anfangen kann. Keine Repräsentation der Welt, auch keine Welt als feste Bedeutungsstruktur. Das Buch ist kein Wurzel-Baum, sondern Teil eines Rhizoms, Plateau eines Rhizoms für den Leser, zu dem es passt. Die Kombinationen, Permutationen und Gebrauchsweisen sind dem Buch nie immanent, sondern hängen von seinen Verbindungen mit diesem oder jenem Außen ab. Jawohl, nehmt, was ihr wollt! Seid nicht eins oder viele, seid Vielheiten! Lasst in euch keinen General entstehen! Seid der rosarote Panther! Schreibt euren eigenen Freitag, Donnerstag oder Sonntag.

Ordnungsliebende Wissenschaftler verorten das Rhizom als Metapher für ein poststrukturalistisches Modell der Wissensorganisation und Weltbeschreibung. Nun gut, warum nicht. Genauso gut ließe sich sagen: Wenn ich ein Wort gebrauche, dann heißt es genau, was ich für richtig halte. Eben Humpty-Dumpty. Genauso gut, können wir wieder konnektieren: Der Poststrukturalismus denkt sowohl in differenten Vielheiten wie in Zusammenhängen. Das dabei entstehende Bild von Einheit und Vielheit ordnet die Vielheit der Einheit nicht identitätslogisch unter bzw. sie verfällt nicht in bloß nominalistische Opposition, die nichts am Baumschema ändert. Vielmehr verweben sich Einheit und Vielheit ineinander und weder existiert das eine vor oder über dem anderen noch hebt das eine das andere auf. Keines gibt es ohne das andere. Je nach Betrachtungsperspektive kann das Zentrum eines Rhizoms überall und nirgends sein.

Jeder webt seine Konnexion, verbindet als rosaroter Panther die Heterogenitäten seiner Wahl. Wenn es dich nach Struktur gelüstet, auch das. Du baust jedoch fast immer auf Treibsand, der beim festen Auftreten durchaus erstaunliche Festigkeit besitzt, aber unmerklich die Struktur verändert. Rhizom bedeutet die Befreiung von definierten Machtstrukturen: Viele Perspektiven und viele Ansätze können frei verkettet werden. Jede Linie kann sich verschlingen mit jeder anderen, eine Aperspektivität der Welt ist ahnbar, Interdisziplinarität ein gewünschter Modus, bestehendes Wissen baut von neuem, in neuer Weise wieder auf, übersteigt Grenzen, bildet neue komplexe Rhizome.

Die Metapher des Rhizoms scheint daher auch geeignet, um Strukturen von Hypertexten, sozialen Netzwerken, Chats, Web 2.0-Spielarten zu beschreiben.
Eine rhizomorphe Kommunikation wäre demzufolge eine solche, die die traditionelle Sender-Empfänger-Struktur auflöst und sich durch einen pulsierenden reziproken Austausch zwischen allen gleichberechtigten Kommunikatoren auszeichnet. Auf dem Weg dorthin sind viele Wikis und Blogs. Öfter gelingt’s, öfter bereiten wir unseren nächsten Irrtum vor. Das angestrebte asignifikante System ohne General bricht auch mal zusammen und viele kleine Feldwebel und Internet-Trolls luken hervor, das „krumme Holz“(Goethe) schwimmt auf der Oberfläche, wenigstens eine zeitlang. Das Netz repariert sich aber von selbst, bildet von neuem Rhizome, neue Ströme, neue Mannigfaltigkeiten, neue Falten, neue Links, neue Schnittstellen.

Strömen wir rhizomatisch vom Netz in die konkreten Lebenswelten, in die sozialen Milieus und deren überlappender Veränderungsdynamik. In der „Sinus-Brille 2007“ z.B. zeigen sich in Deutschland folgende zehn Milieus: Traditionsverwurzelte, Konservative, DDR-Nostalgiker, Etablierte, Bürgerliche Mitte, Konsummaterialisten, Postmaterielle, Moderne Performer, Hedonisten, Experimentalisten. Sie unterscheiden sich in ihren Lebensstilen, ihren Wertorientierungen, Arbeitseinstellungen, Freizeitmotiven, alltagsästhetische Neigungen, Konsumorientierungen, etc – selbstverständlich mit sehr unterschiedlichem Einkommen und Vermögen. Andere Einteilungen, andere Merkmalsausprägungen mit anderen Brillen sind möglich. Was folgt daraus? Für wen? z.B. für die Konsumforscher, Wahlforscher, Parteienforscher? Für Unternehmen, Parteien, Medienmacher, Rhizomatiker? Was verbindet 6 Millionen Postmaterialisten, 6 Millionen Moderne Performer und 5 Millionen Experimentalisten? Sie alle können Konnexion über Heterogenitäten hinweg bilden. Sie können z.B. ein gemeinsames Medien-Großprojekt steuern. Der in seinem Verständnis geweitete liberale FDPler findet Anknüpfungspunkte mit dem die Ohren geöffneten Ökolinken. Sie können gemeinsam, situationsbezogen, Rhizom gestalten; das Verbindende und nicht das Trennende wird betont, Einheit in der Differenz belebt.

Und was sagt zu allem der große deutsche Geist aus Königsberg? Er flüstert aus dem OFF: Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfucht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Sittengesetz und Sternenhimmel sind die wahren Wunder dieser Welt. Wie wäre dies passend rhizomatisch zu integrieren? Gibt es mit der Sittlichkeit eine wirkliche Erhebung über die Tierheit? Ist das die Freiheit der staunenden Vernunft? Gilt das auch für Fundamentalisten, Rigoristen aller Länder?
Und Kant flüstert erneut aus dem OFF: Folglich können wir a priori einsehen, dass das moralische Gesetz als Bestimmungsgrund des Willens, dadurch dass es allen unseren Neigungen Eintrag tut, ein Gefühl bewirken müsse, welches Schmerz genannt werden kann. Freiheit kann auch schmerzen und ist nicht zu verwechseln mit Willkür. Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde. Das kreative Moment, die abduktive Vermutung kommt uns blitzartig, Sie ist ein Akt der Einsicht, obwohl von außerordentlich trügerischer Einsicht. Es ist wahr, dass die verschiedenen Elemente der Hypothese zuvor in unserem Geist waren; aber die Idee, das zusammen-zubringen, von dem wir nie zuvor geträumt hätten, es zusammenzubringen, lässt blitzartig die neue Vermutung in unserer Kontemplation aufleuchten. Dies könnte der Ex-ante-Rhizomatiker Peirce beisteuern. Wir reorganisieren, konstruieren, justieren, interpretieren, kommentieren ständig neu – manchmal bilden wir uns das aber auch nur ein. Abduktion ist im freudigen Erregungszustand die Erfindung einer Regel, die Erfindung eines neuen Codes. Wir bewegen uns in mutierenden Situationen und Texten. Dazu gehört auch ein Anrennen gegen die Grenzen der Sprache zwitschern im Chor Deleuze, Breton, Barthes und Federman schon 1965.

PS. Fußnote: Damit bin ich der (spontanen) Aufforderung Jakob Augsteins vom 21. Februar nachgekommen – Stichwort „Journalismus 2.0“.

Die Zuordnung meines Beitrags zu Innenpolitik & Regionales ist mehr oder minder willkürlich. Genauso gut könnte er z.B. unter Außenpolitik & Weltgeschehen, Lernen & lesen oder Haben & Sein stehen. Ob und wie die Fäden rhizomatisch weitergesponnen werden, entscheiden beide: die ‚Community’ und jeder für sich selbst.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Bildungswirt

Bildungsexperte, Wissenschaftscoach, Publizist, Müßiggänger, Musiker

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