Der gute Lehrer – ein Phantom? (1)

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Vorbemerkung:
Der Artikel Lasst die Schulen los hat in der Community für einigen Wirbel gesorgt; zusätzlich eine moderate Entgegnung Auslese mal ganz anders und eine herbe Kritik Bildung spricht anders: Viele Ideen, Einwände, Fragen, Befürchtungen, Meinungen, Unterstellungen, Ideologiekämpfe. Eh man sich recht versah, war man selbst mitten drin. „Wir wollen alles, und zwar sofort“ (diskutieren) scheiterte aus meiner Sicht und führt zur Frage: wie weiter? Können wir uns thematisch eingrenzen, step by step diskutieren? Die Themenliste ist lang und kann beliebig verlängert werden: u.a.
Bildungstheorien, Hintergrundtheorien, Bildungsphilosophien, Bildungspolitiken, Machtpolitiken, Föderalismusgestrüpp, nationale Bildungsstiftung, Finanzierungsmodelle, Bildungsbudget, Organisationsentwicklung, Lehreraus- und -fortbildung, Didaktik, Methodik, Berufsbeamtentum, Schulrecht, zentrale Prüfungen, Vergleichsarbeiten, Bildungsstandards, Kompetenzmodelle, Schulinspektion (Schul-TÜV),PISA, TIMSS, Demokratie in der Schule - Erwartungen, Visionen, empirische Resultate, "Starke Schulleiter" - zwischen Notwendigkeit und Ideologie, Elternbeteiligung - eine Mär?, Arbeitsweisen der Kultusbürokratie konkret? Bedeutung der KMK? Landesabitur in den einzelnen Bundesländern, Zentralabitur für ganz Deutschland?

Wir reden über eines der wichtigsten gesellschaftspolitischen Themen überhaupt: Ca. 12 Millionen Schülerinnen und Schüler (9,2 Millionen in allgemeinbildenden Schulen und 2,8 Millionen im beruflichen Schulwesen) und etwa 700.000 Lehrerinnen und Lehrer sind Beteiligte, Betroffene, manchmal Leidgeplagte, auch Millionen Eltern. Es zeugt von Interesse und Sensibilität, dass hier im FREITAG die Wogen höher schlagen.

Anspruch:
Alles sollte im FREITAG so dargestellt und entwickelt sein, dass auch ein interessierter Laie mit Durchhaltevermögen folgen, sich mit seinen Fragen und momentanen Standpunkten und subjektiven Erfahrungen einbringen kann - eben nicht ständig ins „Expertenchinesisch“ ausgewichen wird. Hier ein Anfang.

Zum Kern, zum Unterricht, zur alltäglichen Praxis

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Lehrerrollen zwischen Erwartungen und Visionen

Der gute Lehrer beherrscht mehrere professionelle Rollen: Er ist immer mal wieder Moderator und Entertainer, der angenehme Atmosphären schafft. Einfaches Kriterium: Wenn es in einem Unterricht über längere Zeit nichts zu lachen gibt, läuft etwas total falsch! Die dicke Luft ist dann buchstäblich zu riechen. Vergessen wird in der Schule all zu oft: Der Mensch ist ein emotionales und lachendes Wesen und kein kognitiver Maschinenkrüppel.
Der gute Lehrer ist jedoch kein beliebig vielfältiger Rollenträger, sozusagen der pädagogische Super-Klon, nein, auch er ist ein emotionales Wesen, das sich vorwiegend authentisch zeigt. Schüler haben zudem feine Seismografen für oft peinlich gespielte Rollen. Der „Olymp“ ist die komplexe pädagogische Praxis, ‚Handlungstheorien zwingend notwendige „Niederungen“, nicht umgekehrt.
Der gute Lehrer ist vornehmlich nicht mehr reduzierter Fachexperte (»Wissensvermittler«) mit dem Nürnberger Trichter im Gepäck, sondern vor allem Initiator, Berater und Organisator von neuen Lernkulturen. Wenn es komplexe Aufgabenstellungen auf schwierigem Gebiet erfordern, kann auch alle zwei Monate der pointierte Lehrervortrag (Vorlesungscharakter) zum neuesten Forschungsstand gehalten werden. Der gezielte Lehrervortrag ist eine Methode unter vielen. Aktives Zuhören, Mitschriften und anschließend vertiefende Erörterungen gehören zwingend ab der 7. Klasse ins feste Repertoire. Dennoch bleiben solche Unterrichtsanteile Nebenäste pädagogischer Anstrengung. Die übergeordnete Faustregel heißt: „Hilf mir, damit ich es selbst tun kann.“

Der gute Lehrer ist ein exzellenter Kunsthandwerker mit großer didaktischer Werkzeugkiste und ausgeprägter Fähigkeit zur Selbstreflexion. Er will keine leeren Fässer füllen, sondern Fackeln zünden, anders formuliert: Er will kein Wissen in Schülerköpfe pressen, sondern vielfältige Neugier der lernenden Subjekte erhalten, fördern, ausbauen. Würde und Freiheit der Person sind unantastbar; sie sind Fixpunkte der Selbstentfaltung und Partizipation am gesellschaftlichen Leben, auch aller schulischer Anstrengungen. Der Bildungsprozess des Lernenden ist als Dialektik von Fremd- und Selbstbestimmung zu verstehen. Die Herausbildung der Persönlichkeit als Kern des Bildungsprozesses ist somit ein langwieriger, widerständiger Prozess der Aneignung eines komplexen Selbst- und Weltverständnisses.
Bildung zeigt sich daher in einer umsichtigen, weltoffenen und wertsensiblen Haltung mit geschärftem Bewusstsein. Sie ermöglicht dem Subjekt, das eigene und gesellschaftliche Handeln zu reflektieren und an der Gestaltung der Gesellschaft verantwortungsvoll teilzunehmen. Bildung mündet ein in umfassende Urteilskraft, in sensible Akte der Wahl-Entscheidungen für ein gewolltes Leben. Bildung erschließt, bewahrt und schafft „kulturelles Gedächtnis“, steht zugleich für Tradition und Innovation. Das Subjekt entwickelt im Bildungsprozess die Fähigkeit, eigenständig zu urteilen und zu entscheiden, um nicht von der Deutungsmacht und Interpretationskraft Anderer und heteronomer Mächte maßgeblich abhängig zu sein. Das Subjekt verknüpft und gewichtet damit unterschiedliche Wissensarten – vor allem praktisches Wissen, strukturelles Wissen, Metawissen, Orientierungswissen, sensitives Wissen - zur bewussten Gestaltung von individueller und gesellschaftlicher Lebenspraxis.
Der gute Lehrer hat wie die improvisationsfreudigen Kinder den Jazz im Blut und vermeidet den Gänsemarsch. Der gute Lehrer arbeitet kooperativ mit Kollegen und Eltern zusammen, weiß aber ganz genau, dass er selbst SEINE Arbeit leisten muss. Meisterschaft im komplexen pädagogischen Feld zu erringen, ist ein langwieriger Prozess der Selbstdisziplin und Selbstreflexion. Der gute Lehrer ist zu 40 % Spezialist und zu 60 % Generalist.

Der gute Lehrer unterrichtet wesentlich kein Fach, keinesfalls nach festen Prinzipien, sondern er unterrichtet Schüler. Er lebt vor, macht mit, organisiert, lässt sich auch auf Unkalkulierbares, spontan Entstehendenes ein.
Beim guten Lehrer schwingen als Hintergrundmusik folgende 10 Prüfsteine zur Selbstreflexion und als Praxistest für gelingenden Unterricht mit:
1. wer seinen Unterricht mehrdimensional plant, aber prinzipiell situativ, problem- und personenbezogen offen ist für NEUES
2. wer die Lernenden (im Rahmen ihrer Möglichkeiten) an Planung und Strukturierung des Unterrichts beteiligt und regelmäßig Schülerfeedbacks zu konkreten Einzelstunden durchführt und dokumentiert
3. wer Themen und Inhalte seines Unterrichts auf die Erfahrungen und die Interessen der Lernenden zu beziehen vermag
4. wer sich vom Verlauf des Unterrichts überraschen lassen kann und mit unerwarteten Wendungen (viele gute Einfälle von Schülern) erfolgreich umgehen kann
5. wer seine ›Stofffixiertheit‹ reflektiert überwunden hat
6. wer als Lehrender versteht, warum ein Lernender oft nicht verstehen kann
7. wer Lernende motiviert, sich mit den Grenzen ihres Vorwissens und ihrer Wissensinteressen zu beschäftigen
8. wer Lernenden Mittel und Wege aufzeigt, ihr Lernen selbständiger zu strukturieren und ein unterschiedliches Lerntempo in der Gruppe/beim Einzelnen akzeptiert
9. wer Lernende dazu herausfordert, die Ergebnisse ihrer Lernprozesse selbst zu beurteilen
10. wer es vermeidet, ›abstrakte Autoritäten‹ zur Begründung des Unterrichts heranzuziehen (typische Motivationskiller: »Ich will eigentlich ja auch nicht, aber der Lehrplan, die Bildungsstandards, das Ministerium, die Schulaufsicht … deshalb müssen wir jetzt …«).

Der gute Lehrer – ein Phantom? Keineswegs. Es gibt ihn tausendfach, zehntausendfach, fast in jeder Schule. Dennoch ist er in Deutschland in der Minderheit. Der Kultusbürokratie ist er eher ein Dorn im Auge, schwierig bis unmöglich zu lenken, immer potenziell ein Herz-Ass im Ärmel, sagt man, ganz genau weiß man es nicht. Eine qualifizierte Minderheit guter Schulleiter schätzt ihn, ist bisweilen stolz, ihn an der Schule zu haben. Auf sein Engagement für die Schule, weit über den Unterricht hinaus, können sich Schüler, Kollegen und Eltern verlassen. Der gute Lehrer begreift seinen Beruf weniger als Job, sondern eher als Berufung; er ist in dieser Beziehung traditionell wertkonservativ, gleichzeitig aber offen für vielfältige Innovationen im pädagogisch-didaktischen Feld. Allerdings springt er nicht auf jede neue Sau, die durchs pädagogische Dorf getrieben wird.
Er hält den „starken Schulleiter“, der zugleich neuer effizienter Schulbetriebsmanager und guter Pädagoge sein soll, im Kern für eine Fata Morgana einer abgetrifteten Kultusbürokratie.
„Mehr Demokratie wagen“, ist durchaus sein Credo; das gilt aber nicht nur für Lehrer, sondern auch für Schüler. Allerspätestens ab Klasse 10 sollte es Schülerparlamente geben, die wirklich etwas zu sagen und zu entscheiden haben. Demokratie muss in der Schule gelebt werden, geübt werden oder sie ist nicht.
Das alles wären aber wieder neue Handlungsfelder und bedeuten neue Common-Sense-Verhandlungen - ein wachsendes Rhizom gelebter Interaktivität von Bildungsprozessen in einer modernen Schulkultur.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Bildungswirt

Bildungsexperte, Wissenschaftscoach, Publizist, Müßiggänger, Musiker

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