Die Muße ist die Zwillingsschwester der Freiheit

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Die andere Gesellschaft – fortlaufende Randnotizen der anderen Art (3)

Vorbemerkung:
Auf der Suche nach neuen erstrebenswerten Bildfacetten einer kapitalfreien Gesellschaft folge ich verschiedenen Spuren des Denkens zu einer „Anderen Gesellschaft“. Meine Randnotizen folgen keiner Systematik, sie besitzen keinen inneren Bauplan. Dennoch kann im Zeitalter des Rhizom eine ersehnte Lebensqualität ohne äußeren und inneren General hervor scheinen. Möglich sind viele Selbst-Veränderung schon im Kapitalismus. Keiner warte auf die „befreiende Revolution“ (die wiederum die nächsten Ungeheuer produziert).
Die heutige Notiz führt die Gedanken aus Beobachten – ruhen – schlafen“ (Randnotiz Nr. 2) fort. In der 4. Randnotiz kommen wir dann – wie schon angekündigt – endlich zur wichtigen Bedeutung „einer Runde Schlaf“.

Seltsam, alle aktuellen und historischen Revolutionen der progressiven Art kreisen um ihr unveräußerliches Zentrum: Freiheit, Freiheit, Freiheit! Ja, Gleichheit und Solidarität sollen selbstverständlich auch hergestellt werden. Aber alle vergessen sie die Muße, die oft geschmähte Zwillingsschwester der Freiheit! Nur was soll die ganze Plackerei, der volle Kampf für die Freiheit, wenn sich nicht im großen Stil Muße und Entschleunigung einstellen? Ja, es gibt keine wirkliche Freiheit ohne Muße.

Wer die Zwillingsschwester verrät oder verleugnet, der beteiligt sich aktiv am schwachsinnigen Freiheits-Krampf.

Ziel: ein „schöner Lebenszustand“? Ja, aber bitte nicht erst in 20 Jahren! Das Leben ist Hier und Jetzt und schön ist es u.a., wenn man/frau mit der vollen Hand in die wunderschöne Lebenssuppe patscht: „Lieben, träumen, sinnvoll arbeiten“. Dazu benötigt man nicht besonders viel Geld, aber jede Menge Phantasie und Entscheidungsmut!

Einen schönen Lebenszustand, auch im Zusammenhang mit einem gesicherten Grundeinkommen, beschreibt Michael Jäger so: „Das Grundeinkommen in der Anderen Gesellschaft soll einen schönen Lebenszustand schaffen. Genauer mindestens das Minimum eines solchen. Danach richtet sich seine monetäre Höhe. Zuerst muss sich die Gesellschaft darüber einigen, welche Grundgüter und -leistungen zu einem schönen oder sagen wir würdigen Leben mindestens gehören, dann stellt sie fest, was sie kosten, und setzt entsprechend die Höhe des Grundeinkommens fest. Die Frage, ob sie dazu denn reich genug ist, gebe ich mit Lohmann (S. 23) an die Wirklichkeit weiter. Will sagen, es wird Gesellschaften geben, die kein Grundeinkommen einführen können, und andere, die es können. Wir reden von einer, die es kann. Diese Gesellschaft muss nun, um den würdigen Lebenszustand aller zu erreichen, sogleich zwischen dem tatsächlichen und dem minimalen Grundeinkommen unterscheiden. Denn sie braucht einen Spielraum für eine etwa notwendig werdende Senkung des Grundeinkommens, die den würdigen Lebenszustand nicht antastet. Die Frage nach der Höhe der Beträge ist hier nicht zu entscheiden, nur eine Größenordnung sei genannt. Ich meine, eine Gesellschaft kann sich als Andere Gesellschaft begreifen, wenn sie zum Zeitpunkt ihrer Entstehung sage 1300 Euro Grundeinkommen tatsächlich auszahlen kann. Das ist nach meiner Erfahrung ein Monatsbetrag, mit dem man bereits "schön" lebt, obwohl er viele mögliche und durchaus unluxuriöse Bedürfnisse, etwa des Reisens, noch unbefriedigt lässt.“ (J/58)

1300 Euro oder doch 1500 oder nur 1000 Euro? Das sind alles Sandkastenspiele, der großen Aufgabe von Freiheit und Muße unwürdig. In Bremen, Frankfurt oder im Bayrischen Wald stellt sich der Geldbedarf ganz unterschiedlich dar. Frisst die Miete 50, 30 oder nur 20% des Einkommens? Lebe ich alleine im 1-Zi.-Knast oder in einer Wohngemeinschaft mit ordentlicher Ausstattung? Diskutieren wir mehr über die Inhalte und Formen eines „schönen Lebenszustands“ als über die Geldhöhe. Diskutieren wir über angenehme Ausprägungen einer erstrebenswerten Lebensqualität und verabschieden wir uns von den unsinnigen bisherigen Indikatoren des Lebensstandards mit statistischem Warenkorb. (Das BIP als Wohlstandsindikator auf nationaler Ebene hat endgültig ausgedient).

Im Rahmen der Debatte um den „Schönen Lebenszustand“(J/58) bringt das Blogger 'Tiefendenker' sehr treffend auf das hüpfende Komma: Er schreibt:“ (...)

12. Den größten Teil des heutigen Aufwandes betreibt unsere Gesellschaft bekanntlich, um den Geldkreislauf selbst aufrecht zu erhalten bzw. die Folgen der Kapitalverwertung (Kriege, Umweltzerstörung, Atommüll, Mobbing, Burnout, Kriminalität, Arbeitslosigkeit, Flüchtlingsströme, Hunger...die Liste ist endlos...) zu handhaben. Dieses "Handhaben" besteht größtenteils noch nicht mal im "Beseitigen" oder "Bekämpfen", wie man meinen könnte, sondern im Verwalten und Reglementieren, also im Versuch dieses unsinnige System sogar mit Gesetzgebung und notfalls mit Gewalt am Leben zu erhalten - gegen die Natur des Universums und jeder Logik zum Trotz!).

13. Würde Pkt. 12. entfallen, würden der Gesamtaufwand so drastisch sinken, dass wir nur noch 5 Stunden/pro Woche tätig sein müssten (also was wir heute als Arbeit bezeichnen) und wären dennoch viel effektiver und effizienter und hätten einen größeren Grad der Eigenversorgung, weil dann alle Menschen produktiv tätig sein könnten, anstatt Pkt. 12. zu dienen. Dieser Zusammenhang ist auch seit langem bekannt (man google mal das Thema "5 Stunden Woche").“ (...)

Ob ein 4, 5 oder doch 6-Stunden-„Arbeitstag“ ist hier marginal, entscheidend ist das „Wohin geht die Reise“? „Was ist die erstrebte Lebensqualität“? Welche Produkte und Dienstleistungen brauchen wir gesellschaftlich notwendig? Was produzieren/reproduzieren/reparieren/organisieren wir selbst; jeder für sich oder in der Gruppe? Wie stoppen wir Verschwendung und Firlefanz? Wie steigern wir Selbstheilungskräfte und Selbstverantwortung jedes einzelnen Gesellschaftsmitglieds?

Schon 1602 meinte Tommaso Campanella in seinem Sonnenstaat: „In der Sonnenstadt sind die öffentlichen Dienste, Künste, Handwerke und Arbeiten unter Allen verteilt, so dass auf den Einzelnen kaum vier Stunden treffen, die er zu arbeiten hat. Die übrige Zeit kann er mit angenehmem Studium, Disputieren, Lesen, Erzählen, Schreiben, Spazierengehen, geistigen und körperlichen Übungen und mit Vergnügen zubringen.“ Nach über 400 Jahren sollte diese Idee zum obligatorischen Schulwissen gehören. Streckt und rekelt euch in der Sonne, solange sie noch scheint! Auch Schulaufgaben können dank moderner Technik auch im Park auf der Decke oder am Baggersee erledigt werden.

Wie meinte nochmal der große unerschrockene Gandhi? „Das Gute geht im Schneckentempo.“ Ohne Muße ist fast alles nichts.

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Geschrieben von

Bildungswirt

Bildungsexperte, Wissenschaftscoach, Publizist, Müßiggänger, Musiker

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