Frank Schirrmacher, Ludwig Börne und die deutsche Bildungspolitik

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Der FAZ-Herausgeber und Feuilleton-Chef Frank Schirrmacher erhielt gestern in Frankfurt den Ludwig-Börne-Preis 2009. Die alleinige Jurorin Necla Kelek verglich in ihrer Laudatio das publizistische Engagement Schirrmachers mit jenem des jüdischen Frankfurter Kritikers Ludwig Börne (1786-1837), dem Begründer des scharfzüngigen politischen Feuilletons. Es brauche den „radikalen Diskurs“, „um Debatten über Strittiges zu entfesseln“. Diese „Risikobereitschaft im Dienste der gesellschaftlichen Aufklärung“ verkörpere auch Schirrmacher. Mit dem Börne-Preis werden herausragende Leistungen auf den Gebieten Essay, Kritik und Reportage seit 1992 ausgezeichnet. So weit, so gut! Angeblich bedeutende Preise gibt es in der Republik jeden Tag, in regelmäßigen Kartellen wechseln sich Ausgezeichnete und Auszeichnende ab, vielfältige Meriten-Sammelstellen. Was ist hier bedeutsam? Was hat Frank Schirrmacher gesagt?

Ich nehme es allgemein vorweg: Gescheites, Bahnbrechendes, für Deutschland Revolutionäres:
Solidarität mit dem jungen Deutschland.

Er meint damit die Kinder und Jugendlichen ohne Ansehen von Herkunft, Elternhaus, Religion, Rasse, Geschlecht.
„Ich frage, mit Börne, dem Protagonisten des „Jungen Deutschland“, wer uns helfen kann. Wen müssen wir umwerben, fördern, an uns binden? Ich frage mit Heine nach den Alliierten und Mitstreitern, die wir gewinnen müssen und können. Es gibt sie. Nicht mehr ganz so viele, aber man kann sie sehen, meistens morgens gegen 7.45 Uhr auf den Straßen unserer Städte. Sie sind jetzt fünf, zehn oder fünfzehn Jahre alt. Sie werden zum Beispiel dreißig Jahre alt sein, wenn die heute Dreißigjährigen, der Geburtsjahrgang 1978, sechzig sind, und die Achtundsiebziger tun gut daran, einmal nachzusehen, wie viele Dreißigjährige es dann noch gibt, denn die sind alle schon auf der Welt. Die Frage, die unsere gesellschaftliche Zukunftsfrage wird, lautet, warum manche Kinder und Jugendliche reüssieren und andere versagen.(...) Die Integration und Bildung von Migranten, die Konzentration auf frühkindliche Erziehung, die Notwendigkeit einer Bildungsrevolution für das junge Deutschland - das hat nichts mehr mit Ideologien zu tun, die gezielte und womöglich auch teure Förderung von Migranten nichts mit Gnadenerweisen.“(Schirrmacher)

Ich frage mich umgekehrt, ob der Saal der großen und kleinen Prominenten in der Tiefe die Konsequenzen dieser „Bildungsvision“ verstanden hatte?
Noch einmal eine Kostprobe Frank Schirrmacher: „Bildungsversagen heißt nicht nur, dass Menschen später womöglich keinen Beruf finden. Es heißt auch nicht nur, dass Innovationen und Gedanken vertrocknen. Bildungsversagen verändert die Psychologie einer Gesellschaft. Es führt dazu, dass Menschen nicht nur für ein, zwei Jahre, sondern ein ganzes Leben lang vom Bewusstsein ihrer eigenen Inkompetenz verfolgt werden. Die Sozialpsychologie hat diesen Teufelskreis exakt beschrieben. Denn die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, die sich einmal in diesem Teufelskreis befinden, lernen durchaus noch, aber sie lernen, wenn man so will, negativ. Der Begriff dafür lautet: „erlernte Hilflosigkeit“. Sie geben auf. Manche von ihnen, wie wir wissen, schon mit fünfzehn Jahren.“

Als Anspielung auf die aktuelle Finanzkrise meinte er:
„Es reicht, wenn wir der Ausbildung der nachwachsenden Generation den gleichen Stellenwert geben wie einer Bank namens Hypo Real Estate. Es reicht, sie systemisch zu nennen. Die Hypo Real Estate war eine Geldvernichtungsbank, aber es gibt auch vermögensbildende Banken. Und das gilt auch für die Bildung: Es gibt eine florierende und offenbar hochprofitable Verdummungsindustrie; warum sollte es so etwas nicht auch für das Gegenteil geben? Die Tatsache, dass wir, bei einer Lebenserwartung von bald fast neunzig Jahren, immer noch ganze Bildungskarrieren und Lebensläufe beim zwölften Lebensjahr zementieren, wird späteren Generationen nur noch als objektiver Wahnsinn vorkommen.“

Ja, Herr Schirrmacher, Sie haben recht: Solidarität mit dem jungen Deutschland. Die Gretchenfrage lautet jedoch: Wer soll das umsetzen oder besser Ins-Werk-setzen. Die Länder-Kultusminister sind in ideologischen Grabenkriegen verstrickt, halten zum Teil am zementierten viergliedrigen Schulsystem fest, pädagogische Innovationen kommen nicht voran. Die Kultusministerkonferenz bezeichnete schon Altbundeskanzler Helmut Kohl als „die reaktionärste Einrichtung der Bundesrepublik, im Vergleich dazu ist der Vatikan noch weltoffen.“

Was bleibt? Neben vielen engagierten PädagogInnen vor Ort, die unbedingt Rückendeckung für Innovationen brauchen, sind die Medien gefordert: Fernsehen, Internet, Print. Das Fernsehen, insbesondere der öffentlich-rechtliche, zeigt für jedermann ersichtlich, dass eine Bildungsvision möglich ist. Der öffentliche Bildungsauftrag ist im Rundfunkstaatsvertrag festgelegt. Entsprechende Konzeptionen für qualitiative Bildungssendungen liegen entscheidungsreif vor. Auch ein Vorzeige-Projekt: Vom ausgemusterten Hauptschüler in 2 Jahren direkt zum Abitur!

Die FAZ als ein wirkungsmächtiges Medium der öffentlichen Meinungsbildung spricht in den nächsten Monaten Klartext, nimmt keine Rücksichten mehr auf Landesfürsten und Vasallen. Der medienpolitische (Noch)-Zwerg FREITAG mit dem Verleger Jakob Augstein und der einflussreiche FAZ-Gestalter Frank Schirrmacher gehen Hand in Hand, stellen alle ideologischen Differenzen zurück, und sorgen mit allen verfügbaren und noch zu gewinnenden Bündnispartnern für eine praktische Solidarität mit dem jungen Deutschland. Solch eine konzertierte Aktion hat bisher das Land noch nicht gesehen. Das ist nicht nur eine Bildungsvision, sondern auch eine medienpolitische aufklärerische Mission. Sie könnte glücken, wenn man auch ein Stück ins Gelingen verliebt wäre.

Hintergrund:
Den mit 20.000 Euro dotierten Ludwig-Börne-Preis für herausragende schriftstellerische und journalistische Leistungen haben bisher u.a. bekommen: Rudolf Augstein, George Steiner, Marcel Reich-Ranicki, Joachim Kaiser, Hans Magnus Enzensberger, Daniela Dahn, Alice Schwarzer.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Bildungswirt

Bildungsexperte, Wissenschaftscoach, Publizist, Müßiggänger, Musiker

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