Gesellschaftstheoretische Wurzeln einer emanzipativen Pädagogik (3)

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Es ging mit der 68er Protestbewegung im Rücken zentral um die Durchsetzung eines neuen Paradigmas: neue Deutungsmuster von Bildung und Erziehung, neue Kategorien, Begriffe, Bezeichnungen, ein neuer Habitus im Referenzrahmen einer komplexen Gesellschaftstheorie. Kritische Theorie (Horkheimer, Adorno, Habermas, Marcuse) war en vogue, eine unerschöpfliche Fundgrube für ErziehungswissenschaftlerInnen mit der Freiheit sehr eigenwilliger Interpretationen und Übertragungsleistungen auf ihr Terrain. Der Fokus aller Bestrebungen hieß gesellschaftliche und individuelle Emanzipation, d.h. Befreiung von Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnissen. Das wissenschaftstheoretische Programm war folglich gesellschaftspolitisch gespeist. Es ging also vornehmlich nicht um neue Theorien und Ansichten zur Pädagogik als universitäre Geistesübungen, sondern um eine zu verändernde gesellschaftliche Praxis, um permanente Kapitalismuskritik in allen gesellschaftlichen Feldern, in der Erziehung um eine „Kritische Schule“ (H.-J.Gamm).

Auf die „erkenntnisleitenden Interessen“ (Habermas) für pragmatische Ziele und Analysen in einer bestimmten Wissenschaft kommt es an; sie entscheiden über Annahme oder Ablehnung metatheoretischer Regeln und Normen, sie entscheiden über theoretisch-praktisches Tun und sinnhafte Orientierung im ständigen Selbstreflexionsprozess der Handelnden. In „Erkenntnis und Interesse“ führt Habermas in intensiver Beschäftigung mit Marx aus: „Während das instrumentale Handeln dem Zwang der äußeren Natur korrespondiert und der Stand der Produktivkräfte das Maß der technischen Verfügung über Gewalten der Natur bestimmt, steht kommunikatives Handeln in Korrespondenz zur Unterdrückung der eigenen Natur: der institutionelle Rahmen bestimmt das Maß einer Repression durch die naturwüchsige Gewalt sozialer Abhängigkeit und politischer Herrschaft. Die Emanzipation von äußerer Naturgewalt verdankt eine Gesellschaft den Arbeitsprozessen, nämlich der Erzeugung technisch verwertbaren Wissens (einschließlich der „Transformation von Naturwissenschaften in Maschinerie“); die Emanzipation vom Zwang der internen Natur gelingt im Maße der Ablösung gewalthabender Institutionen durch eine Organisation des gesellschaftlichen Verkehrs, die einzig an herrschaftsfreie Kommunikation gebunden ist. Das geschieht nicht unmittelbar durch produktive Tätigkeit, sondern durch die revolutionäre Tätigkeit kämpfender Klassen (einschließlich der kritischen Tätigkeit reflektierender Wissenschaften).“
Die herrschaftsfreie Kommunikation, die Herstellung unverzerrter Kommunkationsverhältnisse avanciert schnell zum Kristallisationspunkt pädagogisch-emanzipativen Handelns. Das pädagogische Problem ist, wie unter den Bedingungen wirklicher Unfreiheit (herrschenden Klassenverhältnisse), gesellschaftlicher (latenter und offener) Repression und Unterdrückung Freiheitspotentiale bei Schülern, Lehrern und reformfreudigen Eltern zu entfesseln seien.
Es geht um die Schaffung kommunikativer Kompetenz, um in einen kritischen Dialog , sprich: herrschaftsfreien Diskurs eintreten zu können.
Pädagogik/Erziehungswissenschaft ist nicht mehr als abgegrenzter gesellschaftlicher Bereich zu analysieren, sondern Schule und Hochschule generell auch in Genese, Funktion und Perspektive in der Klassengesellschaft zu begreifen. Im Gegensatz zu den traditionellen Geisteswissenschaften und den empirisch-analytischen Forschungen gilt es aus dem universitären Elfenbeinturm auszubrechen.
Der Definitionskreis des Neopositivismus im Sinne einer analytischen Wissenschaftstheorie wird damit für die Pädagogik eindeutig überschritten. Die positivistische Faktizität erweist sich nämlich im Radius der pädagogischen Interessen als eine zwar operational notwendige, aber ohne dialektische Zuordnung unbefriedigende Funktion. Mollenhauer, Blankertz, Dahmer, Gisecke, Gamm u.a. arbeiteten - trotz aller ideologischen Unterschiede im Detail - an solchen emanzipativen Konzeptionen. Klaus Mollenhauers Buch „Erziehung und Emanzipation“ ist Programm dieser Aufbruchbewegung und „Anstrengung des Begriffs“ zugleich. In der Wirtschaftspädagogik fordert v.a. Wolfgang Lempert, dass sich „Bildungsforschung“ von „emanzipatorischen Interessen lenken lassen“ soll. Es geht ihm um Aufklärung, Ideologiekritik, Rollendistanz, Demokratisierung und Mitbestimmung auch im gesamten Feld beruflicher Bildung - entgegen konservativer Einschätzungen und Ängste weit entfernt vom Ziel ‘revolutionärer Praxis’ und schriller klassenkämpferischer Töne. „Das emanzipatorische Interesse fordert sowohl empirisch- analytische Informationen - als Bedingungen der technischen Emanzipation von der Natur - als auch historisch-hermeneutische Interpretationen - als Bedingungen der kommunikativen Emanzipation in der Gesellschaft...“ „Darum sollen auch berufliche Bildungsprozesse unter dem Aspekt der Emanzipation erforscht werden und nicht nur der Qualifizierung. Hierzu zählen auch Experimente zur reflexiven Aneignung beruflicher Rollen ...“ Praktisches Ziel ist die „berufliche Mündigkeit oder auch Autonomie“ der Lohnabhängigen, das ist zugespitzt die berufspädagogische Konsequenz aus Demokratie- und Gleichheitsrechten. Nicht immer ist bei Lempert klar, wie denn dieses technische Erkenntnisinteresse mit dem angeblich leitenden emanzipatorischen Erkenntnisinteresse verbunden werden soll.
Karlheinz Geißler geht mit seinem Konzept „beruflicher Identität“ in starker Anknüpfung an die ‚Kritische Theorie‘ über Lemperts Ansatz hinaus. Dem „interaktionstheoretischen Paradigma“ verpflichtet, entfaltet er sein Konzept in Ausleuchtung der Dimensionen kritisch-reflexiver, kritisch-sozialer und kritisch-instrumenteller Kompetenz.
Beruferziehung zielt ab auf eine umfassende Ermöglichung gelingender beruflicher Identitätserfahrung. “Kritik wird begriffen als dialektische Einheit von Erkenntnis und Handeln im Interesse von Emanzipation. Dies geschieht durch das Aufdecken von Widersprüchen und Mängeln in der Gesellschaft und ihrer Aufhebung durch aktive Mitwirkung. Solche Widersprüche zeigen sich speziell zwischen der Funktion der Subjekte im Selbstkonstituierungsprozess durch Arbeit und Interaktion.“ Geißler repräsentiert mit Lempert zusammen den ‘Mollenhauer’ der Wirtschaftspädagogik.

In Teil 4 geht es um Umrisse konkurrierender Programme zur kritisch-emanzipativen Pädagogik: geisteswissenschaftlichen Pädagogik und empirisch-analytischen Erziehungswissenschaft.

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Geschrieben von

Bildungswirt

Bildungsexperte, Wissenschaftscoach, Publizist, Müßiggänger, Musiker

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