Kneipe & Schule (2)

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Ich komme mit einer Gruppe Gymnasiasten (11. Klasse) ins Gespräch. Zwei Unterrichtsstunden Deutsch sind gerade ausgefallen, sie gönnen sich vor den nachmittäglichen Sportstunden Milchkaffee oder Cola bei uns im Wirtschaftsgarten. Meinen Fragen zum Biologieunterricht, insbesondere zu neuen Erkenntnissen der Hirnforschung hören sie aufmerksam zu, wundern sich aber in deutlich erkennbarer Körper- und Gesichtssprache ein wenig darüber, warum ein Kneipier sich dafür interessieren mag. Als Antworten geben sie: Große Fehlanzeige in der Schule, davon haben wir nichts gehört, steht nicht im Lehrplan, keine Ahnung, warum wir das nicht machen. Ein Schüler weiß einiges darüber, er ›googelt‹ regelmäßig zu allem Möglichen und schaut gern bei Wikipedia nach. Referate könne man mit Internetquellen leicht schreiben, die wenigsten Lehrer würden sich im Internet auskennen. Ich frage sie weiter, was sie denn im Deutschunterricht lesen bzw. an was sie sich erinnern würden. Unisono kommt die Antwort: Emilia Galotti, Natan der Weise, Die Leiden des jungen Werther und demnächst Effi Briest und Irrungen und Wirrungen. Ich bestätige, dass ich das auch schon als Schüler gelesen habe und meine Eltern auch. Wir lachen und heben dabei automatisch unsere Schultern. Einer der Schüler meint: Wir machen halt mit, was soll’s, ab und zu ist es auch mal lustig. Was mich richtig interessiert, mach’ ich eh allein oder mit ein paar Freunden.
„Irrungen und Wirrungen“ (Fontane) scheinen offenbar in vielen verantwortlichen Köpfen der Schulpolitik zu dominieren.

Szenenwechsel

Ein Biologie-Lehrer sitzt etwas zerknirscht mit einem Glas spanischem Rotwein (vollmundig, drei Jahre im Eichenfass gelagert) allein in der Ecke. Auf meine Nachfrage, wie die persönlichen Aktien so stehen, erzählt er von einer ernüchternden Studie zum Leistungsstand von Abiturienten: 500 Studienanfänger an den Universitäten Dortmund und Münster mit den Studiengängen Primarstufe Sachunterricht Naturwissenschaften/ Technik und Biologie Sekundarstufe I haben zwischen 1995 und 2000 an einem einfachen kurzen schriftlichen Test zur biologischen Grundbildung teilgenommen. Der Schwierigkeitsgrad der Anforderungen bewegte sich auf dem Niveau der Sekundarstufe I bis 10. Klasse. Ergebnis: nur 8 (!) von 500 haben den Test bestanden, das sind 1,6% (!). Noch schockierender wird das Ergebnis, wenn man berücksichtigt, dass 55% der Studentinnen und Studenten vorher einen Leistungskurs Biologie bis zum Abitur belegt hatten und ihnen positive Leistungen attestiert wurden (mittlere Note 3+). Neun Jahre Biologieunterricht hatten offensichtlich noch nicht einmal »Gedächtnisspuren« hinterlassen.
Eine schallende Ohrfeige für das deutsche Schulsystem, meint er, so könne es nicht weitergehen. Die vorherrschende Instruktionspädagogik habe total versagt, da können sich Lehrer, Schulen und Kultusministerien nicht herausreden. Ich lade ihn zu einem zweiten Glas Rotwein ein, das bringt ihn vorübergehend wieder ins Lot.

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Geschrieben von

Bildungswirt

Bildungsexperte, Wissenschaftscoach, Publizist, Müßiggänger, Musiker

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