Kneipe & Schule (4)

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Der Zusammenhang von Gehirn – Geist – Wahrnehmung – Selbstbewusstsein – Maschinensimulation – bewegt schon seit einigen Jahrzehnten die Geister: Futurologen, Computerfreaks, Neurowissenschaftler und Filmemacher spielen viele Wirklichkeiten durch. Wie denken wir? Warum ticken wir so und nicht anders? Kann das eigene Gehirn das eigene Selbst täuschen? Wenn ja, woher weiß ich das, wenn nicht durch das eigene Gehirn? Leben wir nicht alle in einer Matrix, perfekte unbemerkte Gehirnsimulationen eines unsichtbaren Architekten? Die simulierte Welt als fundamentale Realität?

Erinnerung: Zu einer abendlichen Diskussion solcher Fragen kamen in unsere Kneipe etwa 30 vorwiegend jüngere Leute, allesamt Kenner der Matrix-Trilogie der Gebrüder Wachowski.
Um was geht es knapp zusammengefasst im ersten Film?
Im Cyber-Thriller »Matrix« haben die Maschinen endgültig die Herrschaft über den Menschen und die Welt gewonnen. Die Welt ist Simulation, vorgegaukelte Illusion des komplexen Computer- Weltprogramms, des Supernetzes der Netze; die schlafenden Menschen werden als Batterien/Energiespender für die Maschinen gezüchtet, sind angeschlossenes Frischfleisch für das Programm. Die »Simulationsgesellschaft« (Baudrillard) ist verwirklicht in der referenzlosen
Total-Medialisierung des Alltags; Zeit, Raum, Gravitation scheinen aufgelöst. Die dem Menschen überlegenen Computer (Realität gewordene, alles sprengende künstliche Intelligenz) haben Descartes’ Credo – Ich denke, also bin ich – für sich angeeignet. Nur eine kleine Gruppe von Computerhackern leistet noch Widerstand. Die Matrix kann aber nur im System/Programm und nicht von außerhalb bekämpft werden; die Helden, Widerständler, Retter müssen sich mit ihren Hirnen in die Matrix einloggen und das Duell mit der Matrix aufnehmen. Während die
realen Körper regungslos im Sessel sitzen, spielen sich die Kämpfe im Cyberspace ab, bei Strafe des Untergangs. Der Tod des Gehirns im Cyberspace bedeutet gleichzeitig den Tod des realen Außenkörpers. Der Film strotzt vor religiösen, mythischen und philosophischen Anspielungen und Zitaten, ist geradezu ein Paradebeispiel für professionelle Intertextualität. Der postmoderne Christus ist der Computerfreak Neo (Anagramm zu ›One‹, der Auserwählte, Einzige), seine geheimnisvolle Freundin heißt Trinity (Dreieinigkeit von Vater, Sohn, Heiliger Geist) und der aufklärerische Anführer Morpheus (Orpheus, der größte Sänger der griechischen Mythologie, der Bezwinger des Hades, des Todes und des ewigen Schlafes) meint: »Unfortunately, no one can be told what the Matrix is. You have to see it for yourself.« Jedoch: Nach Ansicht der Maschinen ist der Mensch eine Krankheit, das Geschwür des Planeten, bereit, alle natürlichen Ressourcen zu zerstören. »Wir (die Maschinen, Bildungswirt) sind die Heilung.« Der aufklärerische Impetus, auch in einer skurrilen postmodernen Lesart, ist erkennbar. Die Wachowskis wollen Grenzen sprengen; nicht nur technisch mit vielen Spezialeffekten, sondern auch gesellschaftskritisch als geschärftes Krisenbewusstsein mit einer großen Portion »Verantwortungsethik« als Beigabe.
Nur die Liebe siegt über alle Gewalt und Herrschaft der Maschinen. Der auferstandene Neo-Christus, das ›Licht der Welt‹, bezwingt letztlich die Matrix(-Wächter), setzt in einer erweiterten, unfassbaren Dimension ihre Gesetze kurzfristig außer Kraft und verkündet eine Welt, in der alles möglich ist, ohne Grenzen und ohne Kontrollen. »Wie es weitergeht, liegt ganz an euch«, sagt Neo.

Die jungen Filmkenner waren sich über den Kultstatus dieses Meisterwerks einig, klärten sich wechselseitig über die Fülle der Anspielungen zu Namen, Orten und Gegenständen auf und diskutierten kontrovers Details, wie z.B. Matrix 3 (war kurz vor der deutschen Premiere) enden müsste, damit die Trilogie als gelungen eingeschätzt werden könnte. Der Architekt bereitete allen
Kopfschmerzen, auch ob der Agent Smith das integrale Gegenprinzip von Neo sei (Böse-Gut-Weltprinzip). Der Abend hatte sich kommunikativ gelohnt. Einige verabredeten sich zum gemeinsamen Kinobesuch für Matrix 3. Für zwei junge Leute wehte allerdings am nächsten Morgen in der Schule ein anderer Wind: Fontanes »Effi Briest«, die Deutschlehrerin sei seit Wochen begeistert. Immerhin.

Nachtrag in Jetztzeit: Ostersonntag 39 - 2009, Tag der Auferstehung, unerschütterlicher Glaube, Gründung einer Welt-Religion, the ONE, NEO: Trägt nicht Obama Zeichen eines medialen Christus, eines Weltenretters? Oder will nur die Großgemeinde ihn - der aus dem NICHTS kam - so sehen? Wird das Licht des Auferstandenen nur verwechselt mit den millionenfachen Blitzlichtern der medialen Welt? Sind wir alle Geblendete in der Matrix der Matrix?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Bildungswirt

Bildungsexperte, Wissenschaftscoach, Publizist, Müßiggänger, Musiker

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