Selbstreflexionen eines Lehrers

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oder Der gute Lehrer – ein Phantom? (2)

Eine tief greifende Schulreform kann nur gelingen, wenn die Lehrerinnen und Lehrer grundsätzliche Veränderungsbereitschaft zeigen und ihr bisheriges Handeln in Frage stellen. Der Psychologe Ferenci meint drastisch zugespitzt: »Nichts ist leichter, als unter dem Deckmantel der Versagensanforderungen an Patient und Kindern den eigenen uneingestandenen sadistischen Neigungen zu frönen.« Sicher eine Übertreibung, denn nur wenige Lehrer haben sadistische Neigungen, und doch kann ihre »Lehre« – auch unbeabsichtigt – schwere Lernbehinderungen und
deformierte Kinderseelen hervorrufen. Kein Lehrer kann angesichts der deutschen Bildungskrise seine Hände in Unschuld waschen und behaupten, er habe damit nichts zu tun.
Eine ausführliche biografische Selbstreflexion des Lehrers – von der bewussten Berufswahl bis zur täglichen Unterrichtsgestaltung
– steht deshalb unabweisbar auf der Tagesordnung.
Im Rahmen einer professionellen Selbstreflexion sollten mindestens die folgenden 16 Fragen zur Diskussion stehen:

1. Warum bin ich überhaupt Lehrer geworden?

2. Wie bereite ich Unterricht vor?

3. Wie gehe ich mit sogenannten Planungsfehlern im Unterricht um?

4. Von welchen Alltagstheorien und wissenschaftlichen Konzepten bin ich beeinflusst?

5. Wie gehe ich mit sogenannten schwierigen Schülern um?

6. Welche Fragetechniken und Methoden bevorzuge ich?

7. Wie lange halte ich Stille im Unterricht aus?

8. Welche Reaktionsmuster bis hin zu leiblichen Lust- und Unlust- oder auch Bedrohungsgefühlen spüre ich bei mir selbst?

9. Vor was schrecke ich zurück?

10. Wie komme ich mit chaotischen Zuständen zurecht?

11. Von wem fühle ich mich wann provoziert?

12. Wo liegen bei mir tiefe, vielleicht auch diffuse Ängste?

13. Wie gehe ich mit Spontaneität im Unterricht um?

14. Leide ich unter Konkurrenzangst im Kollegium?

15. Habe ich Angst, den Lehrplan, die Bildungsstandards nicht zu erfüllen?

16. Schotte ich mich ab gegenüber Fremdem und Neuem (z.B. »alles alte Hüte, soll wieder das Rad neu erfunden werden?«)

Nehmen wir uns z.B. Frage Nr. 6 vor: »Welche Fragetechniken und Methoden bevorzuge ich?« Wie könnte vertiefend eine biografische Selbstreflexion des Lehrers (und zum Selbsttest der Eltern
in modifizierter Form) aussehen? Zuerst: Welche Art von W-Fragen (wer, was, wann, warum, wozu, wie) stelle ich den Schülern in bestimmten Situationen, vor welchem Hintergrund? Handelt es sich um eine bewusste/ unbewusste (?) Fragetechnik oder um eine grundsätzliche geistige Haltung zu unbekannten Sachverhalten und Annahmen?
Bin ich selbst mitlernendes Wesen in komplexen Problemstellungen, oder stelle ich im Wesentlichen Schein-Fragen und will wissen, ob es noch jemand weiß? Dafür gibt es dann Belohnungen – Noten, Gummibärchen, Fleißbildchen, Fassadenlächeln, die richtige Antwort vorausgesetzt! Der Lehrer weiß natürlich wie immer die richtige Antwort. Es wird nicht wirklich gefragt, sondern abgefragt! Nur, brauchen Schüler diese weitverbreitete schultypische Fragerei?
Ich will eine kurze Antwort wagen: Schüler brauchen grundsätzlich keine pädagogisch kleingehackte Kost, sie brauchen keinen vorgekauten Brei für Minderbemittelte. So ist Schule oft genug systematische Unterforderung, pädagogische Weichspülung von real sperrigen Bildungsgütern. Dies gilt für die ›Kleinen‹ der Grundschule genauso wie für die ›Großen‹ des Gymnasiums.

Lernende brauchen die tatsächliche Herausforderung, das sperrige Gut, den Aufbruch ins Ungewisse. Sie entscheiden, wohin die Reise geht; kein Kapitän des Lernens kann ihnen diese Entscheidung inklusive der Irrungen und Wirrungen abnehmen. Schon Herr Keuner (der Denkende), die berühmte Kunstfigur bei Brecht, antwortet auf die Frage: »An was arbeiten Sie?« – »Ich bereite meinen nächsten Irrtum vor.« Und doch gibt es immer wieder die berechtigte Hoffnung, aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen.
Ein guter Lehrer stellt sich diese Fragen der Selbstreflexion – ohne narzisstische Kränkungen – und fragt weiter und weiter. Er versucht im Unterricht intelligent und kreativ zu handeln. Er ist Profi in Sachen Bildung.

Neue Lehrer braucht das Land. Mehrere Milliarden Euro müssen in den nächsten 10 Jahren in die systematische Weiterbildung der Lehrer investiert werden. Der größte Teil der Investitionen sollte bis 2013 erfolgen, im Schwerpunkt jüngere Lehrerinnen und Lehrer bis 45 Jahre alt. Auch Ausfall von Unterricht zugunsten einer gründlichen Reform muss in Kauf genommen werden. Eine Reform im Schneckentempo – mit unzähligen Verwässerungsversuchen, neuen Kommissionsberichten zu abgelegten Kommissionsberichten, ungenügender Finanzausstattung und bürokratischen Behinderungen – wird nicht nur scheitern, sondern zur Verschärfung der Krise aktiv beitragen.
Die Lehrer brauchen jetzt (!) Reflexionszeit untereinander und professionelle Hilfe von außen. Lehrer sollten motiviert werden, brauchen Anreize, Lob, gesellschaftliche Anerkennung, im Grundschulbereich auch mehr Geld. Im Kern geht es um einen systematischen Aufbau von Unterrichtskompetenz und weniger um weitere fachliche Expertisen oder Vorlieben für schulische Orchideen. Jede Weiterbildung bedarf der praxisnahen Koppelung; neue und überzeugende Problemlösungen der alltäglichen Unterrichtspraxis sind das Prüfkriterium. Entwicklung neuer Lernkulturen, neuer einsichtiger Aufgabentypen mit pfiffigen Ideen brauchen den Praxistest, müssen positive Effekte auf der Unterrichtsebene nachweisen. Konsequente regelmäßige Veröffentlichungen von Arbeitsergebnissen auf der Schulebene und in Schulverbünden (zugängliche Internetplattform für Lehrer, Schüler, Eltern) sind dringend geboten.
300.000 Lehrer gehen in den nächsten 5 bis 7 Jahren altersbedingt in Pension. Die Chancen eines Bildungs-Umbaus, der Gestaltung neuer Lernkulturen sind gegeben.

PS. Neben einer allgemeinen Debatte fordere ich hiermit ausdrücklich Diskutanten auf, sich eine Reflexionsfrage vorzunehmen und die eigene Antwort zu präsentieren. Damit könnten wir auch dem Anspruch - „wachsender Artikel“ - ein Stück gerecht werden.

Der korrespondierende Beitrag: Der gute Lehrer – ein Phantom? (1)

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Geschrieben von

Bildungswirt

Bildungsexperte, Wissenschaftscoach, Publizist, Müßiggänger, Musiker

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