„Die Wissenschaft hat festgestellt, dass Marmelade Fett enthält.“ (Volksweisheit)
Wissenschaften sind zu konkurrierenden Ersatzreligionen in modernen Dienstleistungsgesellschaften geworden. Ohne sie geht gar nichts mehr; mit ihnen oft auch nichts. Zahlreiche Andachtsbilder in den Wissenschaftstempeln, Gläubige, soweit das Auge reicht. Manchmal mutieren Wissenschaftler zu größenwahnsinnigen Affen (gleichzeitig entschuldige ich mich bei allen lebenden Primaten), entwickeln gigantische Forschungsprogramme, die keiner braucht, aber doch ein Heer von Wissenschaftlern beschäftigt. Wissenschaftliche Vernichtungslogik gibt es auf Bestellung.
Wissenschaft ist Lebensform geworden wie Werbefritze, Hure, Investmentbänker oder Seelenmasseur.
Wissenschaftliches Arbeiten heißt: systematisches, folgerichtiges, logisches, methodisches, zielorientiertes und nachvollziehbares Vorgehen; entsprechend der formulierten Forschungsfragen wird die passende Erhebungsmethode gewählt, so stellt sich das Lieschen Müller vor. Und Georg Wilhelm Friedrich Hegel kommentiert in etwa: Das Denken bewege sich nach Maßgabe der Stufenfolge in der dialektischen Triade fortwährend und weil die Welt mit dem Geist identisch ist, entwickelt sich auch die reale Welt über These, Antithese und Synthese und weiter und weiter im Wechselspiel. Max Weber ruft uns aus dem Jahre 1922 zu:
„Die Unmöglichkeit »wissenschaftlicher« Vertretung von praktischen Stellungnahmen – außer im Falle der Erörterung der Mittel für einen als fest gegeben vorausgesetzten Zweck – folgt aus weit tiefer liegenden Gründen. Sie ist prinzipiell deshalb sinnlos, weil die verschiedenen Wertordnungen der Welt in unlöslichem Kampf untereinander stehen.“ (Max Weber, Wissenschaft als Beruf)
Und noch mal Weber: „Was ist unter diesen inneren Voraussetzungen der Sinn der Wissenschaft als Beruf, da alle diese früheren Illusionen: »Weg zum wahren Sein«, »Weg zur wahren Kunst«, »Weg zur wahren Natur«, »Weg zum wahren Gott«, »Weg zum wahren Glück«, versunken sind? Die einfachste Antwort hat Tolstoj gegeben mit den Worten: »Sie ist sinnlos, weil sie auf die allein für uns wichtige Frage: Was sollen wir tun? Wie sollen wir leben?' keine Antwort gibt« Die Tatsache, dass sie diese Antwort nicht gibt, ist schlechthin unbestreitbar.“
Dazu ein Gedicht:
Wissenschaft
Die Beobachtung der Beobachtung
der Beobachtung
beobachtet nur noch der liebe
Gott
sagt
der Zwerg der auf den Schultern
eines Riesen steht
und wahrhaftig:
Auch bei uns gehen
Wahrheit und Illusion zittrig
Hand in Hand
theoretisch untermauert
empirisch gestützt
religiös verfolgt
die andere
energisch zur Faust geballt mit
Fortschrittsoptimismus drohend
zum Himmel empor
fucking all over the world
triefen die Münder über in
wolkigen Traumsequenzen
blubbern Wahngebilde
kosten Selbstbeweihräucherungsversuche zartbitter
und …
die letzten in der Ahnengalerie
knipsen das Weltlicht
aus
Erst wenn sich tatsächlich ein wissenschaftlicher Paradigmenwechsel im großen Maßstab vollzieht (nicht das ständig seichte Geschwätz davon) ergeben sich neue Wahrnehmungen, neue Beobachtungen, neue Perspektiven, neue Puzzlespiele, neue Lebensformen. Mit Überzeugung des alten Paradigmas, der alten Wissenschaftsgarde hat das wenig zu tun.
PS. Fragt ein junger Wissenschaftler: Wie sieht denn euer Forschungsdesign – pragmatisch, konstruktivistisch, dialektisch, methodisch – aus?
Damit er sich selbst von einigen Nebelbildungen im Kopf befreien kann, empfehle ich als orientierende (fast zeitlos schöne) Perlen:
Thomas Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen
Paul Feyerabend: Wider den Methodenzwang
Da die Wirtschaftswissenschaften in und vor der jetzigen Weltwirtschaftskrise und dem weltweiten Finanzmarktkollaps 2008 – 201? komplett versagt haben, empfehle ich ein MEHR an erkenntnistheoretischem Anarchismus - den alten Wissenschaftsplünder mit überkommener Semantik über Bord werfen, die eigenen Denkbewegungen neu justieren.
Wissenschaften – gewaltige Luftnummern?
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