Zum Lustprinzip der Bundestagswahl

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„Es geht uns um unsere Inhalte und Programme, es geht uns um Deutschland und die Zukunft.“ „Wir meistern die Herausforderungen der Globalisierung“,„Anpacken für unser Land“, schallt’s aus jeder Parteizentrale. Es geht nicht um Posten, Karrieren und Tröge der Macht.
Nein, das sind immer die anderen, die Schlawiner, Verblendeten, Machtkleber, Lügner und Betrüger, mit denen man nach der Wahl leider koalieren muss. Der Wahlkampf hat den Charme eines vertrockneten Gummibaums und gestaltet sich so interessant wie das Platzen einer Currywurst in Chicago.
Alle wollen die Wirtschaft wieder auf Wachstumskurs bringen, den Klimawandel bekämpfen, Arbeitsplätze schaffen, Arbeitslosigkeit und Kinderarmut beseitigen, Chancengleichheit eröffnen, Bildungsgerechtigkeit herstellen und Deutschlands führende Rolle in Europa stabilisieren. Nur wir, die CDSPUDFDLGRÜX-Partei, weiß das notwendige Wie, kennt die Rezepte und Einzelmaßnahmen aus einem Guss.

“Wir sind das Original, nein, wir sind es, nein wir und ihr das Plagiat.“ So touren und taumeln tausende von Kopien durchs Land und suchen Kontakt zum unentschlossenen Wahlvolk. Dazu schleichen und poltern die Prominenten in medialer Dauerpräsenz: Steinmeier als Comicfigur Superman bei Anne Will, Westerwelle mit neuer Spaßwelle bei „mit dem Zweiten sieht man besser“, Künast auf Melkschemel oder Spielzeugwal, Seehofer in Lederhosen und Pleitegeier auf der Schulter. Alle werden durch die Talkshows mit Endlosschleife gereicht – wer will noch mal, wer illnert nicht? Wer ist kein „Anwalt aller Tüchtigen oder Schwachen“?
Die Bundeskanzlerin, freiwillig auf Wolke sieben die neue Hymne pfeifend - „Wir haben die Kraft“- , schwebend über dem Parteiengezänk, schickt Petrusinspirierte Briefe im Sinne von: „Merkel für die frommen Ferkel“.“Schweineimpfung für alle.“ Horst Schlämmer (Hape Kerkeling) und „Die Partei“ (Martin Sonneborn) steuern just in time im Gewande des cleveren Oppositionsgeists ihren Polit-Klamauk dazu. „Isch kandidiere“, isch auch, nur das Bundesverfassungsgericht erweist sich bei einigen als Spielverderber. Die Piraten segeln hart am Wind, nicht nur für die Freiheit im Internet. Sie sind inzwischen in der realen Welt angekommen, sind konsequente Bürgerpartei der selbstinformationellen Bestimmung im digitalen Zeitalter. Aus anderen Themen halten sie sich klugerweise heraus, um als weißes Blatt nicht im schwarzen Loch des allumfassenden Sprechblasensogs unterzugehen. Die Violetten sind längst spirituell abgehoben, nicht mehr von dieser banalen Welt.

Es fehlen die großen Ziele, Themen, Visionen. Über 60 Jahre Frieden, Afghanistan ist weit weg, Hartz IV funktioniert leidlich, die Rentenkassen zahlen auch noch aus, Schulen und Universitäten produzieren maximal einen Proteststurm im Wasserglas und das deutsche Gesundheitssystem gilt international noch aus vorbildlich. Die Billigflieger garantieren zudem die uneingeschränkte Reisefreiheit. Irgendwie ist die große Mehrheit doch satt, will den Status quo halten, jammert auf hohem Niveau und doch realistischem Blick für die Enge der wirtschaftlichen und politischen Spielräume. Adenauers „Keine Experimente“ ist der Deutschen Los, und zwar aus halber Überzeugung. Es geht auch ohne Visionen.

Alles wenig erbauend und mobilisierend für den Wahlsonntag am 27. September: 62,2 Millionen sind als Bürgerinnen und Bürger offiziell wahlberechtigt, ca. 50 Millionen gehen erfahrungsgemäß in 299 Wahlkreise (und abertausende Wahllokale) und machen frei und geheim IHR Kreuz bei Ihrer Partei, Ihrem Kandidaten wie 2005. 25 Millionen der Wähler haben Ihren 50ten Geburtstag hinter sich. Ab 60 sind es immerhin noch 20 Millionen Wahlberechtigte; es darf gemerkelt, gersteinmeiert, gewellt, gegysiet und geulkt werden. 10 Millionen wahlberechtigte Junge bis 30 Jahre stolpern so mit. Auch sie werden keine Wellen produzieren.
Warum strömen 50 Millionen mit schlafwandlerischer Sicherheit doch am 27. September bis 18 Uhr in die Wahllokale, gleichwohl es kaum etwas zu entscheiden gibt?

Es muss eine verborgene Lust, das tief Unbewusste der menschlichen Psyche geben, sowohl beim Wahlvolk als auch bei den Politikern, sich diesen komplexen Spielregeln auszusetzen und aktiv mitzuspielen. Grundgesetz, demokratische Traditionen und Motive sind als Erklärung nicht hinreichend. Es muss an der Faszination des Spiels als „heiliger Ernst“ liegen (Huizinga). Man will als Wahlvolk nicht nur Zuschauer sein, auch mal ganz unkalkuliert in geheimen Rollen auf der Bühne erscheinen, vielleicht auch in die Suppe spucken, was nicht im Drehbuch steht. Emotionen regieren kräftig mit, Verstellungskünste sind nach Friedrich Nietzsche gefragt: „Hier ist die Täuschung, das Schmeicheln, Lügen und Trügen, das Hinter-dem-Rücken-Reden, das Repräsentieren, das im erborgten Glanze leben, das Maskiertsein, die verhüllende Konvention, das Bühnenspiel vor anderen und vor sich selbst, kurz das fortwährende Herumflattern um die eine Flamme Eitelkeit so sehr die Regel und das Gesetz, dass fast nichts unbegreiflicher ist, als wie unter den Menschen ein ehrlicher und reiner Trieb zur Wahrheit aufkommen konnte. Sie sind tief eingetaucht in Illusionen und Traumbilder, ihr Auge gleitet nur auf der Oberfläche der Dinge.“
Gilt das für Politiker und Wahlvolk gleichermaßen? Nehmen wir ein Beispiel: Jeder weiß, dass Steuersenkungen, Abbau der Staatsverschuldung und hohes Niveau des Leistungstransfers nicht gleichzeitig zu haben sind. Dennoch versprechen bevorzugt neoliberale Politiker Steuererleichterungen, „mehr netto in der Kasse, damit sich Arbeit wieder lohnt“, weil das gern gehört wird. Die Politiker lügen somit nicht, denn alle wissen, dass alles im großen Schlawiner-Spiel integriert ist. Es ist die große Fasnacht, das Saturnalienfest der Sklaven. Wenn so gelacht wird, ist „Freude am Unsinn“ im Spiel. Da fühlen sich Mücke und Minister gleichermaßen als fliegendes Zentrum dieser Welt. „Ich will lieber tanzen gehen/ seh wie meine Hüfte kreist / wie mein Gesicht entgleist /es gibt nichts was mich noch hält /Grüße an den Rest der Welt / fehlt der Party dann die Power /gehts auf zur Afterhour.“(Egotronic - Lustprinzip).
Am großen Wahl-Sonntag wird die vielschichtige Triebspannung entladen, das Lustprinzip trifft auf das Realitätsprinzip, Spannung bis maximal 22 Uhr. Dennoch stinkt der Fisch vom Kopfe her und am Montag geht’s zurück ins Hamsterrad der Maloche. Brandaktuell wird von den journalistischen Motoren der gezielten Meinungsmache erklärt werden, warum doch alles seine Richtigkeit hatte und alle, vom Souverän gestärkt, anpacken für unser Land.

PS. Der Beitrag wächst:
1) Es ist eine bleierne Zeit der anderen Art, nicht die bedrückte Zeit der RAF-Siebzigerjahre, sondern eine Art Wundstarrkrampf infolge der infektiösen Schnittwunden aus Agenda 2010, verschlimmert durch stumpfe Verletzungen aus den Schlägen der Wirtschaftskrise. (Co-Autor Schlesinger, 30.08.2009)

2) Wahlen sind weitgehend psychologische Akte, denn, weder lesen ausreichend viele Bürger Programme, noch können kluge, im Alltag eingesperrte Bürger im Schnitt mehr als drei wichtige Wahlprogrammpunkte der jeweiligen Parteien nennen. (Co-Autor Columbus, 31.08.2009)

3) Nein der Fisch stinkt auch an der Unterseite, wo der Durchschnittsmalocher sich mit den üblichen Floskeln der Polit- und Jounalistenpromminenz begnügt, abruft oder abschaltet, die zudem gerne duch Experten irgendeiner offiziell selten plakatierten Interessengruppe belegt werden. Hilft das nicht, gibt es die Demoskopie.
Nein, es stinkt auch im Hamsterrad weil jegliche Bereitschaft zur (Weiter-)Bildung - zum selber Denken fehlt.
Nein, zum Belügen und Betrügen gehören immer drei (Sender, Moderator Empfänger) und alle zusammen bilden den stinkenden Fisch im Hamsterrad. (Co-Autor MisterL, 31.08.2009)

4) Aber uns geht es gar nicht um irgendwelche Farbspiele, wir machen keinen Lagerwahlkampf. Die Wähler können sich vielmehr sicher sein: (...) Wir sitzen in keinem Schützengraben, den wir nicht verlassen dürfen. (Claudia Roth, FR.,02.09.2009)
Farbspiele und kalkulierbare Militärspiele, kombiniert mit Sicherheitsankündigungen - das re-animiert doch den vertrocknete Gummibaum, zarte Lebenszeichen oder? Vielleicht wächst noch freudig der Bodhibaum der Hoffnung nach?

5) Nietzsche lächelt milde aus dem Grab: Lest ihr denn, was ich z.B. in "Menschliches Allzumenschliches" oder in "Jenseits von Gut und Böse" geschrieben hatte? Die Lust an der Lüge ist im politischen Geschäft mit Händen greifbar, Ohren öffnen und erbleichen, soweit es dazu noch reicht. Lust, Lüge und Intrigenspiel gehen Hand in Hand, nicht nur bis zum 27.9. (Bildungswirt, 07.09.2009)

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Bildungswirt

Bildungsexperte, Wissenschaftscoach, Publizist, Müßiggänger, Musiker

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