Zwei Frauen Mitte dreißig treffen im Berlin der neunziger Jahre aufeinander. "Ljuba Urginowa kam über das Dach." Die wohnungslose Frau aus einem Dorf in Sibirien trifft auf Hanna aus einem Ruhrpottnest. Hanna wartet in einer leeren Wohnung auf den Geliebten und Mitmieter, der aber spielt Verweigerung. Die Wohnung, in der sie das alte Leben hinter sich lassen wollte, ist zur Falle geworden. Eine zufällige Untermieterin kommt da ganz gelegen.
Es beginnt eine aufregende Freundschaft, in der sich die beiden Frauen ihr Leben erzählen. Ljuba, der es spielend gelingt, mit Blini, Tee und Lebenslust die Leere der "Wartehalle" zu füllen, hat bereits so viel Gewalt erfahren müssen, dass es für mehrere Leben reicht. Dennoch steckt sie voller Kreativität und Humor. Als Baby von einer verzweifelten Mutter verlassen, war sie früh den Rohheiten alkoholisierter sibirischer Jugendbanden ausgeliefert. Ihre Karriere als Schauspielerin endete vorzeitig in billigen Filmen und schließlich im "Massagesalon mit Handentspannung".
Demgegenüber erscheint Hannas Kindheit und Jugend als Idylle. Um so irritierender sind die hysterischen Lachkrämpfe, die sie in wichtigen Situationen überfallen. In der ersten Nacht mit dem Geliebten war im entscheidenden Moment ein zwanghaftes Lachen aus ihr herausgebrochen, das ihn für immer verjagte. Als die erfolgversprechende junge Journalistin endlich einen Interviewtermin mit einem gefragten Nobelpreisträger erkämpft hatte, war es ihr ähnlich ergangen. Statt sich "einen anzulachen" hat sie sich die Männer also stets weggelacht. Die pragmatische Ljuba überredet Hanna zu einer Lachtherapie. So sehr die Entspann-dich-Esoterik durch ihren Lachzwang karrikiert wird, am Ende bricht sich ein Traumbild Bahn: Immer wieder hatte die Mutter eine Situation aus dem Frühjahr ´45 beschrieben - sie steht als Achtjährige mit Mutter, Großmutter und Geschwistern vor einem russischen Soldaten mit angelegtem Gewehr. Als dieser die Familie verschont, bricht das verängstigte Kind in ein hysterisches Lachen aus, das von der geistesgegenwärtigen Großmutter gewaltsam erstickt wird. Das traumatische Kriegserlebnis ihrer Mutter hatte sich offensichtlich in Hannas Träume geschlichen.
Krieg, Gefangenschaft, Flucht und Vertreibung hinterließen nicht nur in den Träumen der Kriegskinder Spuren. Noch die Biographien der zweiten und dritten Generation danach sind davon geprägt. Diese Erkennntnis ist brisant, sobald sie nicht nur für die Opfer des NS-Regimes geltend gemacht wird, sondern auch für die Täter und Mitläufer, die deutschen Durchschnittsfamilien. Christa Schmidt findet auch in ihrem fünften Buch eine originelle Perspektive auf die eigene, scheinbar geschichtslose Generation. Die 1959 in Duisburg geborene Autorin lebt seit 1980 in Berlin. Sie arbeitete als Redakteurin, Lektorin und Rundfunkautorin und debütierte 1987 mit Luftschlösser, 1992 folgte Die Wahlverwandten. Liebesbeziehungen als Grenzübertretungen stehen mehrfach im Mittelpunkt ihrer Romane, seien es nun Grenzen zwischen Ost und West wie in dem Wenderoman Rauhnächte von 1996 oder Grenzen zwischen Liebe und Hörigkeit wie in Eselsfest von 1999.
In Jubeljahr verbindet Christa Schmidt die Erkundung familiärer Wurzeln mit einem analytischen Blick auf die Kriegs- und Nachkriegsgeschichte, vermittelt also "kleine" und "große" Geschichte. Sie kommt dabei ohne jede Sentimentalität oder Besserwisserei aus.
Die Freundinnen erzählen einander nicht nur von Wünschen und Ängsten, von Kindheitsmustern und Liebesbegegnungen, sie tanzen und streicheln auch ihre Dämonen weg - einige der zartesten Passagen in diesem Roman über Nähe. Sexualität nimmt einen so selbstverständlichen Platz in den Lebenserzählungen ein, dass man verwundert ist, wie leichtfüßig und unsentimental über einen kindlichen Orgasmus, über Masturbation, Doktorspiele oder Sex zwischen Frauen gesprochen werden kann. Der kühle beherrschte Stil Christa Schmidts funktioniert selbst dann, wenn es um Vergewaltigung geht.
Während Hanna lernt, sich ihren Gespenstern zu stellen, findet Ljuba zu ihrer künstlerischen Sprache. Das Sprichwort "Sich einen Bären aufbinden lassen" nimmt sie wörtlich und bindet einem riesigen Bären all ihren Kummer auf. Als sie "Das geht auf keine Kuhhaut" aufschnappt, bastelt sie eine künstliche Kuhhaut, auf die sie erlebte Gewalt "schreibt".
Nur zögerlich geben die idyllischen Kindheitserinnerungen mit Badetag, Eingewecktem und offenem Feuer im Herd auch die darunterliegenden Schreckbilder frei. Das behütete Ruhrpottkind wuchs in einer alles überdeckenden Stimmung der Trostlosigkeit auf, ihre Eltern bezogen die Lebenskoordinaten noch im Wirtschaftswunderdeutschland aus der Vergangenheit: "Mutters Krieg, Vaters Krieg. Das war ihr Geheimbund, vielleicht der einzige Bund. Sprachen sie vom Krieg, waren sie sich einig." "Wie Junkies haben sie an der Verzweiflung gehangen, und meine Mutter war süchtig nach Angst (...) die war ihr vertraut." Eben diese Sucht vererbte sie an die Tochter. So wie der Vater ihr die Erfahrung der Vertreibung aus Ostpreußen vererbte: "Vertrieben werden, das Nötigste schnell zusammenraffen. Und alles ist für das Kind, das mein Vater geworden ist, verschwunden, zuerst sein Vater, dann das Haus, der Hof, die Hunde, die Pferde, dann seine Mutter und Geschwister, und das Nötigste hatte er am Ende auch nicht." Der Ausbruchsversuch aus dem bedrückenden Familienklima führte die Jugendliche Hanna in die Gegenwelt der Nach-68er, in Kreise, in denen "Marx zum guten Ton gehörte". "... und die Revolution lag an unserem Weg wie das Schwarz, die schwarzen Möbel, die schwarzen Hosen und T-Shirts, Black Magic Woman ..." Politisches Engagement als Lebensstil. Die blauen Bände wurden bald vom Antibürgertum eines Bukowski abgelöst, irgendwann war man "zu alt für Weltschmerz".
Unerwartet scheinen die Biographien der so unterschiedlichen Freundinnen sich im Verlauf ihrer immer vertrauteren Gespräche auf einander zuzubewegen: ist der legendäre "Deda", der dritte Mann der Großmutter der einen, der verschollene Großvater der anderen? Die Erzählfäden Christa Schmidts laufen mühelos zusammen, die Erinnerungen Hannas geben das Stichwort für die Assoziationen Ljubas und umgekehrt, manchmal sind sie kaum noch voneinander zu unterscheiden: "Sibirien lag bei uns in der Familie. Jedes längere Gespräch führte in die Eiseskälte, unweigerlich." - Wer von beiden spricht hier?
Die Gratwanderung zwischen Heute und Gestern, zwischen Taiga und Rhein birgt jede Menge Überraschungen. Dabei hatte sie doch im scheinbar so langweiligen Berlin der neunziger Jahre begonnen.
Christa Schmidt: Jubeljahr. Roman, Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2002, 207 S., 17,90 EUR
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.