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Ein Leben ohne Kindheit Die Biografie des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Sander L. Gilman über Jurek Becker schwankt zwischen Nähe und Distanz

Gleich zu Beginn seiner jüngst erschienenen Biografie über Jurek Becker schildert der US-amerikanische Kulturwissenschaftler und Literaturhistoriker Sander L. Gilman die komplizierte Beziehung zwischen Becker und seinem Vater. Sie führt mitten hinein in die deutsch-jüdische Geschichte voller Schuld, Scham und Verdrängungen.

Becker war 1937 in Lódz´ in einer polnisch-jüdischen Familie geboren worden. Wie das meiste aus seiner Kindheit ist selbst das Datum seiner Geburt fraglich. Seit seinem zweiten Lebensjahr kannte der Junge Krieg, Verfolgung, Ghettoisierung. Als Sechsjähriger wurde er mit seiner Mutter aus dem Ghetto Lódz´ nach Ravensbrück deportiert, der Vater nach Auschwitz und später Sachsenhausen. Wenige Wochen nach der Befreiung aus dem Lager starb die Mutter an Unterernährung - Zeit seines Lebens trug Becker an der Last, er hätte auf Kosten seiner Mutter überlebt, die ihm ihr bisschen Essen gegeben hatte. Nach Kriegsende fand der Vater (erst mit Hilfe der American Jewish Joint Distribution Organization) einen fast verhungerten Siebenjährigen, der viel jünger aussah und eine Mischung aus Polnisch, Ghetto-Jiddisch und der »Lagersprache« Ravensbrücks sprach. Der Vater ging mit seinem Sohn nicht zurück nach Lódz´, sondern nach Berlin. Er hielt es für angemessen, dort nicht aufzufallen: aus Jerzy und Mieczyslaw Bekker wurden Georg und Max Becker. So wie die Eltern seit der Geburt ihres Sohnes zu Hause nur noch Polnisch gesprochen hatten, um dem Kind die Erfahrungen des Antisemitismus zu ersparen, so sollte der kleine Jurek (von Jerzy abgeleiteter Kosename) im Nachkriegs-Berlin nun Deutsch lernen, um nicht aufzufallen. Welches also war die »Muttersprache« des späteren Autors? Seine ersten deutschen Worte, so erinnerte er sich als Erwachsener, waren Kommandos der Wachen: »Antreten- Zählappell« und »dalli-dalli«. Sein Leben lang verfügte er über keinerlei Erinnerung an seine Kindheit. Die Vergangenheit wurde zwischen Vater und Sohn zum Tabuthema.

Das literarische Thema des Autors wird jedoch nicht das Erinnern, sondern das Erzählen. Anders als Primo Levi, Fred Wander oder Jean Améry suchte Becker seine Identität nicht in der Schicksalsgemeinschaft der Überlebenden. Einem Grundmuster der Shoah-Literatur, dem »Erzählen um zu überleben«, gibt er eine überraschende Wendung: In seinem bedeutendsten Roman Jakob der Lügner wird gerade dieses Erzählen mehrfach in Frage gestellt. Die Vergangenheit ist nicht erzählbar. »Ich habe schon tausendmal versucht, diese verfluchte Geschichte loszuwerden, immer vergebens. Entweder es waren nicht die richtigen Leute, denen ich sie erzählen wollte, oder ich habe irgendwelche Fehler gemacht. Ich habe vieles durcheinandergebracht, ich habe Namen verwechselt, oder es waren, wie gesagt, nicht die richtigen Leute.« Noch bevor wir die Geschichte kennenlernen, untergräbt der Ich-Erzähler die eigene Autorität. Jakob, der Held des Geschehens, ermöglicht durch seine Lüge den anderen das Überleben - sich selbst kann er damit nicht retten. Die Gewissheit über den Ausgang der Geschichte wird den LeserInnen verweigert: der Erzähler bietet uns zwei gegensätzliche Schlussvarianten an.

Es verwundert, dass Gilman, der den Autor seit dem Ende der sechziger Jahre kannte, auf Gespräche mit nahen Freunden Beckers verzichtet hat. KollegInnen, die 1976 zusammen mit ihm den Protestbrief gegen die Biermann-Ausbürgerung verfasst und die anschließenden Restriktionen im Schriftstellerverband geteilt hatten, befreundete Künstler, Nachbarn, Lektorinnen, Filmleute, die in den Achzigern an der erfolgreichen Fernsehserie Liebling Kreuzberg mitgearbeitet haben, - ihre Erinnerungen erfährt man nicht. Manfred Krug teilte fünf Jahre lang die Wohnung mit dem Zwanzigjährigen und war einer der engsten Freunde Beckers, Näheres darüber liest man nur in Krugs Postkartenbuch von 1997. Beckers ironisch-charmante Postkarten an Familie und Freunde wurden vielfach gerühmt. Die prägnante Alltagsprosa hat eine Intimität, wie man sie sonst in Tagebüchern trifft (die Becker nicht geschrieben hat). All das interessiert Gilman nicht. Er verlässt sich auf gedruckte Quellen: Zeitungsinterviews, Essays, Briefe und persönliche Dokumente aus dem Familienarchiv der Beckers.

Das Bild, das Gilman von Beckers Beziehung zu seinem Vater zeichnet, ist vom literarischen Vater-Sohn-Muster im Roman nicht zu unterscheiden. Becker hat sich Zeit seines Lebens dagegen verwahrt, seine Texte als »authentische Dokumente« der Shoah oder jüdischen Lebens in der DDR aufzufassen. Darauf weist Sander L. Gilman hin, beherzigt es jedoch nicht. Seitenlang erzählt er Romane Beckers nach, um sie ab und zu mit der Biografie ihres Autors kurzzuschließen. Gilman setzt sich damit über ein zentrales Problem hinweg, das der Buchenwaldüberlebende Jorge Semprun als »Last des Autobiographischen« bezeichnet hatte. Wenn Semprun dieser Last »die Wahrheit dessen, was man erfindet« entgegensetzt, so führt dies ins Zentrum des Lebens und Schreibens Jurek Beckers. Der Autor muss sich erfinden, was ihm an Erinnerung fehlt. Wer als Leser literarische Erfindung mit gelebter Wirklichkeit verwechselt, macht es sich zu einfach. Jurek Becker war über drei Jahrzehnte lang der Observierung durch die Staatssicherheit ausgesetzt, wie Gilman anmerkt. Entgegen seinen Einschränkungen im Vorwort lässt es der Biograf an Distanz und Vorsicht gegenüber den fragwürdigen Informationen aus diesen Akten jedoch fehlen.

Warum schreibt jemand eine Biografie? Weil er dem geheimen Zentrum eines Lebens nachforschen will? Gilman sieht in Becker jemanden, der seine jüdische Identität zu verdrängen versuchte. Das ist plausibel, reicht als Fokus aber nicht aus, um Leben und Schreiben des Autors zu erklären. Jurek Becker wollte sich nicht auf den Juden reduzieren lassen, vehement wehrte er sich dagegen, zum »Spezialisten« in jüdischen Fragen gemacht zu werden. Unheimlich war ihm der Status als »Opfer des Faschismus«, der ihm wie dem Vater von den DDR-Behörden zuerkannt wurde. Auch nachdem er bereits über ein Jahrzehnt mit einem ständigen Visum im Westen lebte, bezeichnete er sich öffentlich als »DDR-Autor«, nicht als deutschen oder deutsch-jüdischen Autor. Noch nach dem Ende der DDR verstand sich Becker als Sozialist. Als Abiturient war er 1955 in die SED eingetreten und in der Folge seines Protests gegen die Biermann-Ausbürgerung 1976 ausgeschlossen worden. Der Biograf lässt sich auf diese widersprüchliche lebenslange Suche nach einer politischen und kulturellen Identität nicht ein. Ihm ist sie mit der Verdrängung des Jüdischen bereits erschöpfend erklärt.

Sander Gilman hat international beachtete Forschungen zum Antisemitismus und zum »jüdischen Selbsthass« (Jewish Self Hatred 1982; deutsch 1992) vorgelegt. Es verwundert insofern nicht, wenn er sich der Frage nach dem jüdischen Autor in der DDR besonders widmet. Der psychoanalytisch geschulte Blick auf das künstlerische Werk des Drehbuch- und Romanautors macht aus drei Romanen eine Trilogie und lehrt uns, sie im Zusammenhang zu lesen: Jakob der Lügner (1969) als erster Versuch, von der Ermordung der Juden zu erzählen. Der Roman aus der Sicht eines Überlebenden war nach Gilman auch »der allererste komische Text« über die Shoah. In Der Boxer (1976) setzt sich der inzwischen in West und Ost anerkannte Autor mit den psychischen Folgen des früh erfahrenen KZ-Traumas auseinander. Vater und Sohn leben in der DDR der fünfziger Jahre und stoßen an die Grenzen des autoritären Erziehungssystems. Bronsteins Kinder (1986) schließlich spitzt nicht nur die Folgen der Traumatisierung zu, sondern zeigt zugleich, wie das Schweigen des Vaters selbst gegenüber den eigenen Kindern jede »normale« familiäre Beziehung unmöglich macht. In dem Erzählungsband Nach der ersten Zukunft (1980) entdeckt Gilman die Geschichte Die Mauer. Darin geht es um die Mauer zwischen der Ghetto- und der Lagerwelt, gesehen mit den Augen eines fünfjährigen Lagerkindes. Nur hier unternimmt Becker den Versuch, die Shoah aus der Perspektive eines Kindes zu erzählen.

Gilmans Darstellung liest sich seltsam hölzern. Der weitherzige Humanist Jurek Becker, der Witze erzählende Melancholiker, der verständnisvolle wie aufbrausende Freund, Vater und Geliebte, der Jazzliebhaber und Sportfanatiker, kurz der liebende und leidende Mensch kommt einem beim Lesen dieser Biografie abhanden. Vor allem im letzten Drittel des Textes stolpert man über stilistische Unsicherheiten und Brüche, woran die Übersetzung einen Anteil haben mag. Die durchaus informativen Exkurse zum Vorkriegs-Lódz´ als »jüdischster« Stadt Polens oder zu Wurzeln des Antisemitismus in Polen stehen unvermittelt neben den essayistisch-erzählenden Passagen. Stellenweise ist familiär von »Jurek« die Rede, dann wird übergangslos theoretisiert. Gilmans Gestus schwankt zwischen Nähe und Distanz, ohne dass dies reflektiert würde. Es scheint schwergefallen zu sein, die Perspektive zu finden, aus der die vielen Leben des Jurek Becker erzählbar werden. Sieben Jahre jünger als Becker, wurde Gilman vielleicht nur durch die Flucht seiner Eltern vor der Erfahrung der Lager bewahrt.

Was man bei Gilman vermisst, lässt sich in einem Band finden, den Karin Kiwus im Auftrag der Akademie der Künste zusammengestellt hat. Anfang des Jahres 2000 erhielt die Akademie den Nachlass Jurek Beckers, der ab 1990 ihr Mitglied gewesen war. Die kluge Auswahl dokumentierter Quellen reicht von einem langen, sehr nachdenklichen Brief Jurek Beckers an einen seiner drei Söhne bis zum bislang unveröffentlichten ersten Filmexposé zu Jakob der Lügner von 1963. Kenntnisreich kommentiert, werden die abgedruckten Materialien zu Zeugnissen, die mehr Fragen eröffnen als beantworten. Die Dokumentation führt eine Widersprüchlichkeit im Leben des DDR-Autors Becker vor Augen, die der eingeschränkten Perspektive des Biografen entgeht. Kabarettszenen für die Distel und Szenarien für Fernsehkomödien, die der Autor zu Beginn seiner Karriere (zum Teil unter dem Pseudonym Georg Nikolaus) für die DEFA und das DDR-Fernsehen schrieb, bringen den Satiriker in Erinnerung. Hinter den Manuskriptseiten, Notizblättern, Briefausschnitten und eben den vielgerühmten Postkarten (großenteils im Faksimilé abgedruckt) wird der messerscharfe Analytiker ebenso sichtbar wie der charmante Skeptiker. An Joachim Sartorius schrieb er im November 1996, drei Monate vor seinem Tod: »Lieber Achim, vielleicht interessiert Dich ein Blick auf meinem Lebenslauf, an dem ich gerade schreibe: Ich wurde am, in, als einziges. Mein Vater war, meine Mutter. Bei Kriegsausbruch kam ich, wo ich bis zum. Nach Ende des blieb mein Vater mit mir, was ich bis heute nicht. Er hätte doch auch. Jedenfalls ging ich zur und wurde ein halbwegs normales. Das änderte sich, als ich den Beruf eines. Wenn ich auf mein bisheriges zurückblicke, dann muß ich leider sagen. In Liebe Dein Jurek.«

Nach der Begegnung mit diesen Spuren beginnt man zu ahnen, was es heißt, ein Leben lang ohne Kindheit auskommen zu müssen. Aus Anlass einer Ausstellung über das Ghetto in Lódz´ hatte Becker 1990 geschrieben: »Ich starre auf die Bilder und suche mir die Augen wund nach dem alles entscheidenden Stück meines Lebens. Aber nur die verlöschenden Leben der anderen sind zu erkennen, wozu soll ich von Empörung oder Mitleid reden, ich möchte zu ihnen hinabsteigen und finde den Weg nicht.«

Sander L. Gilman: Jurek Becker. Die Biographie. Aus dem Amerikanischen von Michael Schmidt. Ullstein, Berlin und München 2002, 336 S., 22 E


»Wenn ich auf mein bisheriges zurückblicke, dann muß ich leider sagen.« Jurek Becker 1937- 1997. Dokumente zu Leben und Werk aus dem Jurek-Becker-Archiv. Zusammengestellt und herausgegeben von Karin Kiwus. Akademie der Künste Berlin 2002.


Literaturhinweis zum Thema Juden in der DDR:


Überleben heißt erinnern. Lebensgeschichten deutscher Juden. Hg. von Wolfgang Herzberg. Berlin 1990; Vincent von Wroblewski: Zwischen Thora und Trabant. Juden in der DDR. Berlin 1993; Vincent von Wroblewski: Eine unheimliche Liebe. Juden und die DDR. Berlin 2001. Interessante Studien haben in den neunziger Jahren des weiteren die HistorikerInnen Mario Keßler, Lothar Mertens, Ulrike Offenburg und Angelika Timm vorgelegt.

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