Ich liebe es, mich von Zeit zu Zeit aus dem auditiven Alltagsgedösel auszuklinken. Bevor ich zum Frisör gehe, schiebe ich mir Watte in die Ohren. Nur in gedämpfter Atmosphäre kann ich das Wohlgefühl beim Haarewaschen und Spitzenschneiden genießen. Auf dem Heimweg lasse ich sie noch drin, weil mir oft meine immerzu quasselnde Nachbarin im Flur auflauert. Zu Hause läuft der Fernseher, meine Familie guckt eine Dokumentation über das Formel-Eins-Rennen - für mich zum Glück knatterfrei. Ich tauche, weiter milde lächelnd, in das geräuschlose Egolaufställchen meines Ich-Universums. Für mich ist klar: keine Reise, keine Hotelübernachtung, keine Zugfahrt ohne Stöpsel. Ich will nicht unfreiwillig zum akustischen Spanner diverser Verwicklungen im ICE-Abteil werden.
Und überhaupt, Ohrschutz ist in. Selbst Musiker von Motörhead und Iron Maiden, die um den Titel "Lauteste Band der Welt" spielten, schafften das nur mit Lärmentschärfern. Tennisspieler benutzen beim professionellen Training Ohropax - die Sportler sollen nicht nur hören, ob sie den Ball genau in der Mitte des Schlägers getroffen haben, sondern es auch bewusst sehen. Oder Großraumbürogeplagte. Wer kennt nicht die verzweifelten Versuche, sich bei permanenten Krach Gummibärchen oder Kleenexschnipsel in die Ohren zu drücken? Nicht zu vergessen: Literaten. Der Schweizer Schriftstellers Peter Weber sagte übers Bücherschreiben: "Ich brauche dazu nicht viel. Einfach einen Quadratmeter Platz - und Ohropax."
Lange Antilärm-Tradition
Lärm-Mimosen gab es schon zu allen Zeiten, selbst früher, als für unser heutiges Ermessen die Welt noch ruhiger war. Nehmen wir Immanuel Kant: Als ein Hahn vor seiner Denkerstube krähte, kaufte er ihn und aß ihn auf - so nervös machte ihn das. Schopenhauer ging beim Knallen einer Reiterpeitsche in die Luft: "Dass eine solche Infamie in Städten geduldet wird, ist eine große Barbarei…" Auch Theodor Lessing, Mediziner und Philosoph, schimpfte über den großstädtischen Lärm durch elektrische Bahnen, Dampfwagen, Automobile. 1908 gründete er einen Antilärmverein, der sich mit Publikationen wie "Das Recht auf Stille" an die Öffentlichkeit wandte.
Es muss schon eine turbulente Epoche gewesen sein, denn ein Jahr zuvor erfand der Maximilian Negwer die Wachskügelchen Ohropax. Man kann sie kleinlächeln, kleiner als sie ohnehin sind, doch möglicherweise wäre ein Stück Weltliteratur sonst nie geschrieben worden. Werke wie Der Prozeß oder Das Urteil von Franz Kafka beispielsweise. Nur um ein stilles Zimmer zu mieten, ist das Genie im Prag des Jahres 1915 einige Male umgezogen und klagte: "So viel Ruhe wie ich brauche, gibt es nicht oberhalb des Erdbodens". Der Hyperempfindliche war abhängig von Ohropax und jammerte, dass er sich immerzu im Hauptquartier des Lärms befinden würde. Durch den Tumult der Außenwelt fühlte er sich in seinem selbstreferierenden Verhältnis gestört.
Unsere Ohren schlafen nie
Ohropax ist ein Segen. Ohne Frage gibt es fürchterliche Stunden in derNacht, schnarchende Männer lassen den Adrenalinpegel auf gefährliche Werte ansteigen, ebenso wie hämmernd-dröhnende Bässe aus der Nachbarwohnung, Motorradrennen vor dem Schlafzimmerfenster oder tobende Kinder um Mitternacht. Auch leiseste Geräusche wie das Surren des Kühlschranks oder das Ticken des Weckers können einen um den Verstand bringen. Unsere Ohren schlafen nie und eine Gewöhnung an Krach läßt sich nicht trainieren. Ein leise tropfender Wasserhahn kann uns den Schweiß auf die Stirn treiben, während stürmisch-tosendes Meeresrauschen wunderbar entspannt. Doch egal wieviel Dezibel uns umzingeln: laut sind immer nur die Anderen. Denn die produzieren Geräusche, die wir nicht kontrollieren können. Die stören mehr als jene, die wir selbst verursachen: Das eigene Radio kann nicht aufgedreht genug sein, während das leise Gedudel von nebenan die Nerven blank legt. Eigentlich kann man sich gar nicht genug abschotten: Eltern gegen Baby-Blues, Studenten gegen Quatschliesen in der Bibliothek, Cabriofahrer gegen Windpfeifen, Vielflieger auf Langstrecken, selbst Zahnärzte gegen des Quietschen des Bohrers.
Ohrstöpsel sind en vogue. In Lamellenausführung oder mit Fenchelduft, nicht nur für die Nacht. Die Dunkelziffer der Anwender muss hoch sein, denn nach verbriefter Aussage des Herstellers liegt die Zahl der jährlich verkauften Stopfen bei 25 Millionen. Mittlerweile gibt es schöne Stopfen. Beispielsweise den HiFi-Gehörschutz, im hosentaschengeeigneten Soft-Etui mit Clean-Up-Spray. Oder Ohropax mit Fenchelduft. Oder die hippen Kunststoffstöpseln in Lamellenausführung, mit Schnürchen wie bei Lesebrillen üblich. Schweizer, aber auch Deutsche und Österreicher lassen nur das Beste in ihre Ohren. Nicht wie der deutsche Sänger Gus Backus Mitte der 60er Jahre sang: "Ich hab Bohnen in die Ohren".
Die Japaner dagegen dröseln Klopapierschnipsel zusammen, um sich vor der Großfamilie im Kleinstapartment akustisch abzuschotten. Die Araber formen aus Kerzenwachs Kügelchen, wenn die Kumpels zu temperamentvoll sind. So etwas wie Ohropax gibt es überall, ob sie nun englisch "Earplugs" oder finnisch "Korvatulppa" heißen - die Welt braucht sie eben. Und meine Katze auch. Sie beißt darauf herum, rollt sie durch das Zimmer. Deswegen heißt sie auch Xaporho. Lesen Sie mal rückwärts. Sauer werde ich nur, wenn sie die Stöpsel verschluckt. Dann stupse ich ihr wütend aufs Näschen und schieße mir damit ein Eigentor. Xaporho faucht mich so scharf an, dass ich mir gleich eine neue Packung Ohropax aufmachen muss …
Unter dem Motto "Horch, was kommt von draußen rein" findet am 29. April der Tag gegen den Lärm statt.
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