1 × Pizza ohne alles

Literatur Darius Kopp ist ein Antiheld, wie er im Buche steht. Im Abschluss von Terézia Moras Trilogie kriegt er die Kurve
Ausgabe 37/2019

Er hatte sich aufgegeben, nach einer jahrelangen Verlustgeschichte. Erst verliert er seinen Job in der IT-Branche, wenig später begeht seine Frau Flora Suizid. Um all dem Unheil irgendwie zu entfliehen, reist Darius Kopp nach Ungarn und bleibt schließlich nach weiteren Stationen in Sizilien hängen. Er ist ganz der Anpassungsmensch. Und was geht in Italien immer? Pizzabacken. Mehr als Mittelmaß war in Darius Kopps Leben, das die Büchner-Preisträgerin Terézia Mora schon in zwei dicken Romanen entfaltet hat, bislang nicht drin. Erst mit ihrem just erschienenen Roman Auf dem Seil, dem Abschlussband der Trilogie, gewährt sie ihrem glücklosen Hallodri eine erlösende Schicksalswende.

Denn die sich überschlagenden Ereignisse zwingen den Protagonisten dazu, aus seiner Lethargie aufzuwachen. Und wiederum zeigt sich eine Frau dafür verantwortlich, nämlich Kopps 17-jährige Nichte, die ihn unversehens auf der Insel aufsucht. Sie ist attraktiv, pubertär und – zu allem Überfluss – schwanger. Lore oder auch Lorelei zieht, gemäß dem symbolträchtigen Namen, die Männer in ihren Bann. Kopp muss hingegen widerstehen und Verantwortung übernehmen – eine Eigenschaft, vor der er sich seit jeher gedrückt hat. Indem er nach Berlin zurückkehrt, wo er eine Bleibe für Lore finden muss, ferner alte Schulden abzahlen, entdeckt er auch für sich selbst neue Perspektiven – er ist jetzt 50 Jahre alt.

Mora lässt ihre Hauptfigur die klassische Heldenreise des Epos durchlaufen. Um zur inneren Reife zu gelangen, muss der Protagonist vielfältige Krisen und Rückschläge bewältigen. Dabei erweist er sich ganz als Kind des globalisierten Zeitalters, worin sich die Folgen des eigenen Handelns nicht selten fernab des eigenen Blickfeldes bemerkbar machen. Bereits im Auftaktroman Der einzige Mensch auf dem Kontinent setzte die Autorin dafür auf eine experimentelle Ästhetik. Raffiniert durchbricht sie immer wieder die Ich-Perspektive Kopps durch einen im Abstrakten bleibenden Erzähler. Der hüpft von einer Figur zur nächsten, lässt sich nicht greifen. Wie ein supranationales, dezentrales und wolkenartiges Gebilde schwebt er über allem.

Diese krasse Disparität

Von ähnlicher Erfindungsgabe zeugt die narrative Struktur in Auf dem Seil. Nun kollidiert ein nahezu unsichtbarer olympischer Erzähler immer wieder mit der Innenperspektive Kopps. So vermittelt Mora den häufig krassen Zwiespalt zwischen der objektiven und der vom Lebemann erfahrenen Wirklichkeit. Statt die krasse Disparität melancholisch auszumalen, bedient sich Mora in gewohnt kurzweiliger Manier einer ausgiebigen Situationskomik – vor allem wenn sich der übergewichtige Antiheld mit Halbglatze ständig in einen grundlosen Optimismus hineinredet oder versucht, peinlichen Momenten aus dem Weg zu gehen, um dann doch in jedes Fettnäpfchen zu treten. Überdies trägt zum Amüsement bei, dass die Autorin mittels weniger Worte bestimmte Stereotypen aufzurufen vermag. Neben einem klassischen Online-Nerd, der in Berlin massig Milchpulver in sich hineinschaufelt, trifft man an anderer Stelle etwa auf einen „Penner“, der mit seinem „Rauschebart wie ein in einem Erdloch hausender gefallener Diktator“ anmutet.

Als brillant muss man diesen Roman allerdings allen voran wegen seines Mutes zur ästhetischen Verspieltheit bezeichnen. Kaum eine andere unter den deutschsprachigen GegenwartsautorInnen beherrscht es, eine derartig stilistische Varianz auf knappstem Raum so grazil und von vermeintlich leichter Hand zu erzeugen wie Terézia Mora. Ihre Dialoge entspringen dem Sound von Flur- und Straßengespräche, ihre sich abwechselnden Erzählstimmen gleichen einem polyphonen Konzert. Und dann findet man noch ganz unverbrauchte Elemente wie die Verwendung von Pfeilen als einfachsten Symbolen für Kopps Bewertung verschiedener Ereignisse und Begegnungen während der Tage in Berlin: „die aggressiv dreinschauenden Proleten auf der Straße (↓), die Schönheit der irischen Mädchen (↑), Cafés (↔), Spätis (↓), Wettbüros (↓)“ – der heutige Flaneur, wenn man ihn überhaupt noch so bezeichnen kann, beobachtet eben nicht mehr. Er wischt Gesehenes wie ein Tinderer hin und her und liked oder disliked. Derlei Manöver stehen dabei nie im Verdacht einer bloßen L’art pour l’art. Vielmehr legt die 1971 im ungarischen Sopron geborene Schriftstellerin eine sich immer weiter verdichtende Poetik vor, die im Kern die Wahrnehmungsweisen der spätmodernen Gesellschaft widerspiegelt. Auf die Unüberschaubarkeit und Synchronität unzähliger Einflüsse – dem Geklingel und Gebimmel und Geflimmer und „Dem-haste-nicht-Gesehen“ und „Das-muss-jeder-Haben“ –, die allesamt auf den heutigen Menschen einwirken, reagiert sie mit einer feinstrukturellen Vielfalt erzählerischer Kniffe. Diese Mikrostrukturen summieren sich zu einem Werk, das man zweifelsohne mit dem Titel eines zeitgenössischen Epos versehen kann.

Im Einzelschicksal des gemütlichen und immer wieder auch scheiternden Darius Kopp führt Mora die Effekte weltweiter Kommunikation und Vernetzung vor Augen. Als er sich in Auf dem Seil beispielsweise schließlich erneut auf IT-Stellen bewirbt, muss er feststellen, dass er als Ingenieur der alten Schule unlängst die App-Ära verschlafen hat. Im Angesicht derartiger Entfremdungen offenbart der Protagonist einerseits die erwartbare Überforderung und andererseits die sympathische Fähigkeit, dem Beschleunigungsstress durchaus mit einer gehörigen Portion Gelassenheit entgegenzutreten – ganz nach der Devise: Lieber weiter Pizza backen, als sich an Verzweiflung und Eskapismus zu laben. Und so fängt auch Terézia Moras aktueller Roman erneut die Totalität unserer Welt ein: mit überragender Kunstfertigkeit und bewährtem Gespür für diesen Helden der Normalität, Darius Kopp, den wir sehr vermissen werden.

Info

Auf dem Seil Terézia Mora Luchterhand 2019, 368 S., 24 €

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