Es gackert im Stall. Als würde der Marder bald schon in sein Inneres vordringen, macht sich Panik unter den Hühnern bemerkbar. Allerdings befinden wir uns gar nicht auf einem Bauernhof, sondern im Hessischen Staatstheater, einem architektonischen Juwel inklusive barocker Deckengemälde: genau der richtige Ort, um dort einmal kopflose Hühner schalten und walten zu lassen. Zu starken Moves und im Paillettenshirt tanzt sich der Obergockel Romulus Augustus (Matze Vogel), Kaiser von Westrom, auf die Bühne des kleinen Hauses in Wiesbaden. Wie er tragen auch alle weiteren Figuren des Abends Schnäbel und Federn, machen ruckartige Bewegungen oder scharren mit den Füßen. Während die Herde des „Flatterlands“ vor dem Einfall der Germanen warnt, bleibt der Obergockel cool, verzehrt wie jeden Morgen mit einem langen Löffel sein Frühstücksei und wartet und wartet.
Einfluss von Karl Marx
Nein, diese aberwitzige Szenerie ist nicht der Sitz der deutschen Kanzlerin, die mit ihrem oft kolportierten Hang zum Aussitzen den Begriff des Merkelismus inspiriert hat. Und doch hat dieser Herrscher in Friedrich Dürrenmatts Farce Romulus der Große manches mit ihr sowie großen Fürsten der Theatergeschichte gemein. Statt anstehende Probleme zu lösen, lässt er das Schicksal bar jeder Vision auf sich zukommen. Unmittelbar erinnert fühlt man sich an Figuren wie Schillers Wallenstein oder Shakespeares Julius Caesar – Musterbeispiele für Herrscher, die sowohl an ihrer Unentschlossenheit als auch an ihrer Epoche scheitern. Dürrenmatt, so schrieb er selbst einmal, „lockte (es) ..., einen Helden nicht an der Zeit, sondern eine Zeit an einem Helden zugrunde gehen zu lassen“.
Wer in Sebastian Sommers so verspielter Inszenierung eine Parabel auf die gegenwärtige mutlose große Koalition oder eine Kanzlerinnendämmerung sehen will, dürfte Anknüpfungspunkte finden, obgleich sich die Inszenierung glücklicherweise allzu plumper Heranschmeißerei an die Aktualität verweigert. Mit seiner goldenen bis eigelbfarbenen großen Treppe, die sich von einem breiten Sockel pyramidal nach oben führt, könnte der durchgeknallte Hühnerstaat überall auf dem Planeten angesiedelt sein. Und doch ist zumindest die westliche Hemisphäre gemeint – mit ihrer bräsigen Wohlstandsdekadenz, mit einer ideenlosen, vor sich hin wurschtelnden Politelite. Offenkundig ist für den Herrscher, „dass die Sitte des Jahrhunderts abnimmt, je mehr es zunimmt“.
Bei Dürrenmatt hat Romulus, der Regent, eine einzige wahre Leidenschaft, die Hühnerzucht. Aus Zwecken der Zuspitzung hat der Regisseur daraus einen ganzen Vogelstaat abgeleitet. In ihm steht nicht nur der finanzielle Bankrott an, weswegen sich der titelgebende Antiheld dazu entschlossen hat, die Büsten der großen Schriftsteller – als Skulpturen von Hähnen – an einen Kunsthändler zu veräußern. Mag der Herrscher den Ausverkauf des Landes in geistiger Hinsicht längst beschlossen haben, den materiellen verhindert er bis zum Schluss – verbietet er doch die strategische Hochzeit seiner Tochter (Karoline Marie Reinke) mit einem steinreichen Hosenfabrikanten (Felix Strüven). Es ist wohl der Einfluss von Karl Marx auf den jungen Dürrenmatt, der sich hier bemerkbar macht und überdies eine zentrale Botschaft des Stücks vermittelt: Das Gemeinwesen darf nicht zum Spielball fremder Mächte werden.
Denn so wie sich Romulus dem Kapitalismus entsagt, so verweigert er sich der militärischen Mobilisierung gegen die Germanen. Mehr und mehr lassen sich die wahren Motive hinter seiner Passivität erkennen. So entpuppt er sich als ein Staatsskeptiker, der im Politischen, ja, in jedem Beschluss den Keim von Gewalt zu sehen glaubt. Der Untergang Roms war von Anbeginn sein Plan. Und so wendet sich denn auch im Laufe des Abends das Bild des Kaisers, der, sich am Ende dem feindlichen Anführer in Jesuspose darbietend, zuletzt fast schon die Aura eines Widerstandskämpfers bekommt.
Staat als Ruine
Wie viel Ernsthaftigkeit in dieser Volte liegt – darüber lässt sich diskutieren. Doch das Stück allein auf Ratschläge für Good Governance zu reduzieren, würde der Groteske, die in Wiesbaden mit aller Süffisanz ausgestellt wird, nicht gerecht werden. Urkomisch muten die Zuckungen des mit einem Hühnerbeil ausgestatteten Kriegsministers (auch: Felix Strüven) an, auch, dass der Kunsthändler verkrampft silberne Eier legt, sorgt für breites Amüsement, ebenso die brillante Gesangseinlage der Kaisertochter: Mit ihrem in die Lüfte steigenden Schauspiellehrer performt sie den Rap der fliegenden Hühner – mitreißender geht’s kaum!
Derweil steigt unter den eigentlich friedliebenden Tieren so sehr der Unmut, dass des Nachts allesamt mit Waffen aus ihren Verstecken unterhalb der Treppe hervorkommen, um dem Kaiser hinterhältig den Garaus zu machen. Gerade diese Heimtücke zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Œuvre des 1990 verstorbenen Autors. Man denke nur an Alfred Ill aus Der Besuch der alten Dame. Für dessen Tod bietet eine von ihm verschmähte Jugendliebe dem verarmten Städtchen „Güllen“ eine Million. Nachdem die Bürger sich anfangs noch auf ihre hehre Moral berufen, machen sie nach und nach Anschaffungen, weil sie bereits mit großem Reichtum rechnen. Die Schlinge um den Krämer zieht sich mehr und mehr zu. Auch in Die Physiker findet sich Ähnliches. Trotz des Versuchs, gefährliches Fortschrittswissen geheim zu halten, wird der Protagonist in der Irrenanstalt hintergangen und seine Formel zur Unterwerfung der Menschheit zum Einsatz gebracht.
All diesen karikaturenhaften Arrangements wohnt mit Blick auf das Politische eine wichtige Aussage inne, die vielleicht unbestreitbarste im Werk des Schweizer Schriftstellers: Da der Mensch grundsätzlich durch Verkommenheit bestimmt ist, braucht es die Ordnung eines regulierenden Staates. Und selbst wenn von diesem Staat in Dürrenmatts Stücken stets nur noch eine Ruine übrig ist, erinnert die doch daran, was es zur Weltrettung bedurft hätte. Aber da reden wir dann doch von ungelegten Eiern.
Info
Romulus der Große Sebastian Sommer (Regie), Hessisches Staatstheater, bis Mai 2020
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