Der Sturm ist da

Lyrik Kurt Pinthus’ legendäre Anthologie „Menschheitsdämmerung“ glüht, fühlt und kühlt
Ausgabe 08/2020

Selten hat man in der Lyrik so viel Elend und Grauen gelesen wie um 1900. „O meine Zeit! So namenlos zerrissen“, schreibt Wilhelm Klemm. Ernst Stadler sieht auf den Straßen nur noch „zertretne Leiber“, spricht von „Worten, denen Leben längst / entglitten“ ist. Keine Vision, alles am Nullpunkt. Man befindet sich, wie in Alfred Lichtensteins Gedicht Nebel, längst im Verfallsprozess: „Wir aber, die, verrucht, zum Tode taugen, / Zerschreiten knirschend diese wüste Pracht.“

Die Umwälzungen sind gigantisch: Es tobt der Klassenkampf, die Industrielle Revolution trimmt den Menschen auf Beschleunigung, die Städte platzen aus allen Nähten. Theorien treten an, alles infrage zu stellen, woran man zuvor glaubte. Sei es Freuds Entdeckung des Unbewussten, Darwins Verständnis der Evolution oder die Kampfansage Nietzsches an das Christentum – der Mensch der Moderne ist seines Platzes verwiesen und taumelt orientierungslos in den Ersten, später den Zweiten Weltkrieg.

Doch wie in der biblischen Apokalypse gehen auch die Texte der juvenilen Dichter weit über bloße Untergangsbeschwörungen hinaus. Wer sich in einem Gedicht in finsterer Larmoyanz übt, ruft im nächsten schon die Revolution aus. So heißt es in Ernst Wilhelm Lotz’ Poltertext Aufruf der Jugend: „Wir fegen die Macht und stürzen die Throne der Alten.“ Viele rufen „Nieder mit der Bourgeoisie!“, manche preisen zeitweise den Krieg als den großen Erlöser – Hauptsache, der verstaubte Wilhelminismus wird überwunden.

Euphorie und Melancholie bilden die Pole dieser Lyrik, die unter dem Schlagwort Expressionismus ein ganzes Jahrzehnt dominieren sollte. Was sie so reich macht, ist die Bereitschaft, eigene Widersprüche und Spannungen auszuhalten und auszustellen. Die Schriftsteller beklagen den Mangel, um im Poetischen zugleich visionäre Auswege zu finden. Poesie wird zur Kunst des Machbaren, wie das letzte von drei Quartetten in Alfred Wolfensteins Chor eindrücklich belegt: „Sterniges Kühlen, Glühen der Seele, / Einsamkeit, Liebe, – beides fühlen! / Gehende Stimme geht auf zu Stimmen, / Freunde umwühlen Wüste zum Glück.“ All dieses Ringen, all das Pathos und Sehnen versammelt Kurt Pinthus 1919 in seiner Menschheitsdämmerung. Dass diese Sammlung nun in Neuauflage erscheint, wirft ein Licht zugleich auf unsere Tage. Wer die Dichtung der letzten Jahre verfolgt hat, konnte bemerken, dass gegenwärtige Lyriker aus keiner anderen Epoche als der klassischen Moderne (ca. 1890 – 1920) so viele Werke zitieren. Warum? Möglicherweise liegt es an verblüffend ähnlichen Konfliktlagen. Damals bricht die K.-u.-k.-Monarchie, ein multiethnischer Schmelztiegel, der von der Bukowina bis nach Vorarlberg reicht, zusammen.

Erinnern allein nützt nichts

Heute arbeiten neue Nationalisten am Ende der EU. Damals überfordert der Fordismus die Menschen, heute verändert die Digitalisierung unsere Lebensweise. Damals wie heute stehen Extreme einander gegenüber. Die poetische Rückbesinnung auf die Frühphase der Moderne ist also nicht nur Hommage, sondern auch Mahnung: zur Wachsamkeit, zum Innehalten, zur Vergegenwärtigung der Geschichte. Doch Erinnern allein nützt nicht viel. Wie das letzte Kapitel der Sammlung, Liebe den Menschen, dokumentiert, braucht es auch den Mut zum Träumen, das große Trotzdem. Dass „die Menschen“, Albert Ehrensteins Gedicht Hoffnung zufolge, „in ihrem Dasein“, wo „die Götter starben, / Finden den Himmel“. So bieten doch gerade gottlose Zeiten die Chance für einen neuen Humanismus.

Die Dichter des frühen 20. Jahrhunderts sind nicht bloße Kulturpessimisten. Viele eint die Kraft zur Fantasie. Florian Illies nennt sie im Nachwort daher „hoffnungslose Romantiker, die sich die Flügel verbrannten, weil sie der Sonne zu nahe gekommen waren“. Lieber von zu viel Licht geblendet, als sich mit der Finsternis zufrieden zu geben. So könnte man die Maxime dieser Generation auf den Punkt bringen, die wiederzuentdecken uns Momente klarster Einsicht verschaffen könnte.

Menschheitsdämmerung. Symphonie jüngster Dichtung Kurt Pinthus (Hrsg.), Rowohlt 2019, 448 S., 34 €

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