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Spiegel Wie Narziss ins 21. Jahrhundert fand: Iris Hanika erforscht die Echokammern unserer Zeit
Selbstzirkulation und Egozentrik, das von wegen durch und durch souveräne Ich, das sich designt und vermarktet – davon erzählt Iris Hanikas neuer Roman Echos Kammern. Wir befinden uns in New York, wo die junge deutsche Schriftstellerin Sophonisbe sich zwischen Partyszene und Großstadttrubel auf die Suche nach einer neuen Sprache und mithin den Sinn des Lebens in allzu beschleunigten und sich permanent wandelnden Zeiten begibt. Wo ist das Glück zu finden in einer von Kapitalismus durchchoreografierten Gesellschaft? Und was ist noch authentisch in einer Epoche virtueller Inszenierungen? Vielleicht die Liebe? Obgleich die Heldin sie vermeintlich in dem weitaus jüngeren Amerikaner Josh zu finden scheint, täuscht der Text nicht über den Trug hinweg, zu dem die Welt geworden ist. Nicht zuletzt auf den Mythos von Narziss, der sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt, nimmt das Buch Bezug, um die grassierende Instagramisierung unserer Epoche kulturgeschichtlich rückzukoppeln.
Mit Ironie, erlesener Sprache und Anspielungsreichtum hat die 1962 in Würzburg geborene Schriftstellerin mit Echos Kammern ein panoramatisches Porträt der Spätmoderne geschaffen. Nicht ohne eine gewaltige Komplexität (und nach Berlin geht es auch noch). Doch die Anstrengung lohnt. Gerade seiner so artistischen wie intellektuellen Ambition wegen ist der Text bis zur letzten Zeile ein Gewinn.
Info
Echos Kammern Iris Hanika Droschl Verlag, 240 S., 22 €
Am Geheimnis
Zauber Von der grauen Großstadt an die raue Küste – Judith Hermanns Geschichte einer Frau
Am Anfang steht die mirakulöse Begegnung mit einem Magier – in einer Tankstelle, direkt gegenüber eines wenig attraktiven Wohnblocks mit alten Pflanzen in den Blumenkästen. Dort wohnt die Protagonistin in Judith Hermanns so stillem wie berührendem Roman Daheim. Als der Zauberkünstler ihr das Angebot unterbreitet, während einer Tournee als seine Assistentin zu fungieren, lehnt sie zwar nach langem Nachdenken ab. Ihr Leben wird sie, ausgehend vom symbolischen und berühmten Trick der zerschnittenen Frau auf der Bühne, dennoch verändern. So folgt der große Cut. Sie zieht an die Küste, in ein entlegenes Haus, wo sie sich nach und nach ein neues soziales Umfeld aufbaut, ohne mit der Vergangenheit zu brechen. Während Meer und Wind ihren Alltag bestimmen und beruhigen, führt sie eine rege Korrespondenz mit ihrem Ex-Mann. Erinnerungen legen sich dabei wie ein Schleier über die Gegenwart. Es herrscht die typische Hermann-Atmosphäre vor: eine Melancholie, so mild wie weiße Wolken vor dem blauen Himmel. Überhaupt brilliert das Buch durch sein kluges Spiel mit doppelten Ebenen, Oberfläche und Untergrund. Immer wieder nutzt die Autorin – von Kisten bis hin zur Marderfalle – etwa Motive des Auf- und Abschließens. Niemals wird dabei das Innere einer dumpfen Transparenz preisgegeben. Daheim bewahrt seine Geheimnisse und ist gerade dadurch eines der intimsten Bücher dieser Tage.
Info
Daheim Judith Hermann S. Fischer Verlag, 192 S., 21 €
In den Wein
Reise Christian Krachts fiktive Autobiografie schließt den Kreis zu seinem berühmten Debüt
Ein Sohn, der sich spät mit seiner Mutter versöhnt, deren Vater noch überzeugter Nazi war – nach kontrovers diskutierten Gesellschaftsromanen wie 1979 oder Imperium, dem Roman aus dem Jahr 2012, der ihm einst noch zu Unrecht einen Totalitarismusvorwurf einbrachte, legt der Star der deutschen Pop-Literatur nun sein vielleicht persönlichstes Werk vor. Es ist ein Stück (fiktionalisierter) Autobiografie, ein Stück Gedenkkultur, ein Stück voller gleißend-ironischer Finten auf Zürcher Snobismus und Schweizer Alpenseligkeit. Sieht man von den teils problematischen Pauschalurteilen über das vermeintlich helvetische Tätervolk oder der zweifelhaften Assoziation von Vegetarieren mit einem bizarren Germanenkult ab, zeugt Krachts Buch von ästhetischer Ingeniosität. Insbesondere sein Spiel mit Verweisen auf andere Klassiker der Spätmoderne, darunter Daniel Kehlmann oder Jorge Luis Borges, gibt dem Text eine untergründige Weite und vermittelt letztlich eine tröstlich verrätselte Botschaft: In einer Welt, die von Zerwürfnissen und Unwägbarkeiten gezeichnet ist, vermag das Erzählen wieder Sinn zu stiften. Es verwebt und verbindet und schließt so manchen Kreis – wie zum Beispiel jenen zu Krachts berühmtem Jugenddebüt und Coming-of-Age-Roman Faserland. Eurotrash bildet die reife Fortschreibung der darin angelegten, mithin lebenslangen Suche nach der eigenen Identität.
Info
Eurotrash Christian Kracht KiWi, 224 S., 22 €
Zu der Hingabe
Selbstvergewisserung Wenn der Schmerz nur ein Gegenmittel kennt: das fortwährende Schreiben der Friederike Mayröcker
Seit Jahrzehnten ebbt er nicht ab, dieser Strom aus Farben, Melodien, Licht und Worten. Er kennt kein Halten, keine Müdigkeit. Was er mitführt, ist zu kostbar, um es zurückzulassen: die nie endende Liebe zum Dasein. Dass man ihr trotz aller Energie und Bestrebungen natürlicherweise abhandenkommen wird, bringt die mittlerweile 96-jährige Friederike Mayröcker, Wegbereiterin der Wiener Avantgarde, in ihrem neuesten Buch unmissverständlich zum Ausdruck. Bezogen auf das Jahr 2018 ist die Rede vom „vielleicht letzte[n] Sommer, Fäulnis letzten Endes, Fäulnis“. Berührend schildert das Ich seinen Schmerz, es weint ganze Nächte durch, klagt über die „Herbstgirlande in meinem Kopf“, schaut alte Fotos durch, lauscht dem Gesang der Vögel und erinnert sich an den verstorbenen Geliebten Ernst Jandl. Das alles geschieht sprunghaft, oft ohne Punkt und Komma. Für Mayröcker steht diese Art der scheinbar chaotischen Textproduktion für Selbstvergewisserung. Das Dichten etabliert eine Gegenwelt zum physischen Verfall, mündet in eine hochkomplexe Poetisierung und Überschreibung der Welt. Statt aus diesem Fluss der Sprache mühevoll sämtliche Bedeutungssteinchen herauszusieben, sollte man sich in ihm treiben lassen – hinein in eine zarte und wechselhafte Landschaft. In ihr findet sich das längst verloren geglaubte Ewige der Literatur, das eines erfordert: Hingabe.
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da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete Friederike Mayröcker Suhrkamp, 201 S., 24 €
Im Gedächtnis
Geschichte Verdichtung eines Jahrhunderts: Helga Schubert erzählt von einem Jahrhundert der Widrigkeiten und Irrläufe
Mein idealer Ort ist eine Erinnerung“, lautet ein programmatischer Satz in Helga Schuberts autobiografischem Roman Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten. Als könnte man sein Gedächtnis wie eine sich stetig ausbreitende Zone betreten, führt uns die Autorin hinein in ein Leben voller Wendungen, Glück und Traurigkeit. Als Kind von Kriegsflüchtlingen wächst sie im geteilten Deutschland auf, genießt die milden Kindheitstage während des Sommers bei ihrer Großmutter in Vorpommern, bis die Dunkelheit sich in ihren Gedanken breitmacht. Schatten liegen über den Möglichkeiten des Daseins: der frühe Tod des Vaters, das schwierige Verhältnis zur eigenen Mutter, mit der sie sich erst nach deren Tod auszusöhnen vermag. Hinzu kommen all die politischen Verwerfungen in der DDR, die uns in dem Text der 1940 in Berlin geborenen Autorin als ein Mixtum compositum aus absurdem Behördenwahn und Spitzelstaat begegnen. Aber wie viel besser ist der Westen? Nachdem die Mauer gefallen ist, scheint endlich die Freiheit zum Greifen nah zu sein. Über eine gewisse Orientierungslosigkeit täuscht sie aber nicht hinweg. Differenziert, persönlich und vor allem bedächtig erzählt Schubert auf der Ebene des Individuums von einem Jahrhundert der Widrigkeiten und Irrläufe, stets getrieben von der Sehnsucht nach einem schönen Ort, den es doch irgendwo auch geben muss.
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Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten Helga Schubert dtv, 224 S., 22 €
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Dieser Beitrag ist Teil einer Verlagsbeilage in Zusammenarbeit mit der Leipziger Buchmesse. Die Nominierten in der Kategorie Sachbuch/Essayistik stellen wir Ihnen hier vor. Die Nominierten in der Kategorie Übersetzung finden Sie hier.
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