Was für ein Kaff
Sozialkritisch Verkommen, versoffen. Den Ton dafür trafen Sonja Finck und Frank Heibert
Auf den ersten Blick erscheint Kitchike wie jede andere Kleinstadt. Es gibt eine Tankstelle, eine Kirche und den üblichen Tratsch. Doch das Kaff ist auch ein Reservat mit eigenen Gesetzmäßigkeiten, wo Polizei und Mafia miteinander ringen und Korruption an der Tagesordnung ist. Gespiegelt wird das Leben in der trostlosen, von Rassismus und Konflikten durchdrungenen Gemeinschaft aus unterschiedlichen Perspektiven, die mitunter auch jene der Aufständischen gegen die so festgefahrene wie dekadente Ordnung einschließt. Der große Absturz. Stories aus Kitchike berichtet dabei von verkommenen Eliten genauso wie von versoffenen One-Night-Stands. Wirklich schön mutet in diesem Gebiet jenseits der Mehrheitsgesellschaft nichts an. Kann es eine bessere Welt geben? Und erzählt die Geschichte am Ende nicht von einem globalen Phänomen, das weit über den Mikrokosmos der indigenen Stadt hinausweist? Trifft es nicht sehr grundsätzliche Aussagen über Ausgrenzung und den Opferbegriff? Lässt sich eine Brücke zur europäischen Kultur und Gesellschaft schlagen? Ganz praktisch mussten sich Sonja Finck und Frank Heibert die Frage nach der Übertragbarkeit von Louis-Karl Picard-Siouis sozialkritischem Werk stellen, die für ihre übersetzerische Leistung aus dem Französischen (Québec) nunmehr von der Jury in die Liste der Nominierten aufgenommen wurden.
Info
Der große Absturz. Stories aus Kitchike Louis-Karl Picard-Sioui Aus dem Französischen von Sonja Finck und Frank Heibert, Secession Verlag, 184 S., 20 €
Ein Blitz schlug ein
Existenzialistisch Es ist einsam und still in Tarjei Vesaas’ Roman „Die Vögel“. Hinrich Schmidt-Henkel fand Worte für diese Welt
Es ist ein stiller, anmutiger Roman, den Tarjei Vesaas, gestorben 1970 in Norwegen, mit Die Vögel bereits 1957 vorgelegt hat. Beschrieben wird in diesem nunmehr neu übersetzten Text das Dasein eines romantischen Taugenichts. Während er von den Bewohnern des Dorfes seiner Verträumtheit wegen verspottet wird, kümmert sich seine Schwester um ihn und den Haushalt. Er bleibt von alledem weitestgehend unberührt, übt er sich im Haus am See doch vor allem in der täglichen Beobachtung der balzfreudigen Waldschnepfen. Die Idylle wäre perfekt, schlüge nicht das Schicksal von außen zu. Erst wird einer der Vögel, mit denen er in seiner Illusionswelt zu kommunizieren glaubt, erschossen, danach schlägt noch ein Blitz ein. Die Folge: Die beschauliche Welt von Mattis – ein Kind gefangen im Körper eines Erwachsenen – bricht zusammen. Um jedenfalls die landschaftliche Ruhe Nordnorwegens einzufangen, findet der für den Übersetzerpreis nominierte Hinrich Schmidt-Henkel die passenden Worte, was keineswegs allzu einfach gewesen sein dürfte. Denn Vesaas verfasste seine Prosa einst in Nynorsk, einer westnorwegischen Dialektvariante. Dass die eremitische Natur plastisch vor dem inneren Auge der Leserschaft entstehen kann, verdankt sich somit auch der gelungenen Übertragung ins Deutsche. Man kann sich in die Szenerie fallen lassen. Aber ein gutes Ende hält sie nicht bereit, schon gar nicht für den Helden. Statt Erlösungskitsch und wohlfeilem Happy End gibt es Existenzialismus in Reinform.
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Die Vögel Tarjei Vesaas Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel, Guggolz Verlag, 279 S., 23 €
Schaumfetzen der Welt
Hyperfortschrittlich Von den Schlachten zur Börse: John Dos Passos’ „USA-Trilogie“ liegt in einer lesenswerten Übersetzung von Nikolaus Stingl und Dirk van Gunsteren vor
Man könnte von einem literarischen Monument sprechen, einem Opus magnum, das bis heute nichts an seiner Strahl- und Aussagekraft eingebüßt hat: John Dos Passos’ USA-Trilogie. Der 42. Breitengrad / 1919 / Das große Geld gilt als das Porträt des modernen Nordamerikas. Auf Basis von Zeitungsartikeln und einer an dem bewegten Bild des Films erprobten Schreibweise, die mithin an Alfred Döblins nicht minder bedeutenden Klassiker Berlin Alexanderplatz erinnert, zeichnet der 1970 gestorbene Romancier den Verlauf des frühen 20. Jahrhunderts nach: von den Schlachten im Ersten Weltkrieg über Hollywoods goldene Ära bis hin zur Spekulationsgier an der Wall Street. Gespiegelt wird die Entwicklung des Kapitalismus, samt seiner Effizienz, seines Hyperfortschritts sowie seiner grenzenlosen Beschleunigung. Dabei erleben seine unterschiedlichen ProtagonistInnen, vom Arbeiter und Außenseiter bis hin zu Spekulanten, alle Facetten des Daseins, stürzen sich in Affären und feiern Revolutionen. Oder sie betrachten die Gischt des Meeres, „die Schaumfetzen der springenden Wellen Schiffeversenker Menschenersäufer (in ihrem satten Purpur wiegten sich sanft Treibminen darunter fuhren Unterseeboote auf ebenem Kiel)“. Dos Passos’ Werk liegt nun in einer preisverdächtigen Neuübersetzung aus dem Englischen von Nikolaus Stingl und Dirk van Gunsteren vor. Beachtenswert fällt vor allem deren Bemühung um einen Ton aus, der der Präzision und Pointiertheit des Stils des Autors nahe kommt.
Info
USA-Trilogie. Der 42. Breitengrad / 1919 / Das große Geld John Dos Passos Nikolaus Stingl, Dirk van Gunsteren (Übers.), Rowohlt Verlag, 1648 S., 50 €
Ehemals zensiert
Mitreißend Miklós Szentkuthys Essay von 1939 „Apropos Casanova“ – übersetzt von Timea Tankó
Vielleicht war Miklós Szentkuthy, gestorben 1988, einer der letzten Uomo universale. In jedem Fall war er ein Tausendsassa, der vor nichts zurückschreckte. Biografien zu Luther wie gleichsam Goethe, Händel und noch anderen soll er zu schreiben begonnen haben. Noch zu Lebzeiten erschien ein großer Essayroman, der an Musil oder Joyce denken ließ. Aber damit nicht genug, auch Venedigs bis heute berüchtigster Verführer hat es ihm angetan. 1939 herausgebracht und unmittelbar von der Zensur verboten, wurde nun sein provokatives Werk Apropos Casanova. Das Brevier des Heiligen Orpheus neu aufgelegt. Dabei nähert er sich zum einen rational-sezierend den Memoiren des Frauenhelden an und wagt zum anderen immer wieder gesellschaftskritische, stets erhellende Seitenhiebe auf Politik und Eliten seiner Zeit der 30er Jahre. Was natürlich in einem Text über einen Schwerenöter nicht fehlen darf, ist die pointierte Diskussion über Geschlechterrollen, die mithin ein amüsantes Schlaglicht auf die heutigen Debatten um #Metoo und Identitätspolitik wirft. Dass der Klassiker noch immer so gegenwärtig anmutet, verdankt sich nicht zuletzt der nominierten Übersetzung aus dem Ungarischen von Timea Tankó. Sie fördert gerade die Musikalität der Vorlage zutage, hat sie dem Lob der Jury zufolge „in ein so lebendiges und klingendes Deutsch gebracht, dass es den Leser mal mitreißt, mal schlicht umwirft“.
Info
Apropos Casanova. Das Brevier des Heiligen Orpheus Miklós Szentkuthy Aus dem Ungarischen von Timea Tankó, Die Andere Bibliothek, 312 S., 44 €
Vom Begehren
Superluftig Die Lyrikerin Ann Cotten war die Richtige für „Pippins Tochters Taschentuch“
Während sich ihr Vater in spirituelle Fantasien und die beinah obsessive Erforschung des Nationalsozialismus stürzt, hat sich ihre Mutter schon kurz nach der Eheschließung anderen Vergnügungen zugewandt. Ob aus deren Affäre damals auch ein Kind hervorging, ist eine Frage, die Frederikas Tochter nicht loslässt. Denn ist Andrea in Wirklichkeit nur Lucys Halbschwester? Letztere, gleichzeitig die Ich-Erzählerin in Rosmarie Waldrops Roman, lässt sich übrigens auch nicht als ein Kind von Unschuld beschreiben, zumal sie selbst die Vorteile eines Liebhabers genießt. Da Pippins Tochters Taschentuch so bunt und klangintensiv von sämtlichen Regungen des Begehrens erzählt, bedurfte es zwingend eines leichtfüßigen Sprachgestus. Diesen verleiht den aus dem Englischen stammenden Texten die Lyrikerin Ann Cotten. Sie hat, wie die Jury lobt, die „Wörter (…) so luftig übersetzt, als würde sie die Laken nach einer langen Liebesnacht lachend ausschütteln“. Die Decke zu heben, erweist sich mithin als passende Beschreibung für das ästhetische Verfahren des Werks, zumal sich Lucys Auseinandersetzung mit ihren Eltern textlich in einem ständigen Wechsel der Zeitebenen, zwischen Gegenwart und Vergangenheit, bemerkbar macht. Kein Kissen bleibt somit auf seinem Platz, keine Bettwäsche faltenlos.
Info
Pippins Tochters Taschentuch Rosmarie Waldrop Aus dem Englischen von Ann Cotten, mit einem Nachwort von Ben Lerner, Suhrkamp, 275 S., 24 €
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Dieser Beitrag ist Teil einer Verlagsbeilage in Zusammenarbeit mit der Leipziger Buchmesse. Die Nominierten in der Kategorie Belletristik stellen wir Ihnen hier vor. Die Nominierten in der Kategorie Sachbuch/Eassayistik finden Sie hier.
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