Wenn es noch Utopien gibt, dann im Netz. Trotz aller Ernüchterungen angesichts Shitstorms und viraler Fake News wurden die großen Mythen über den Cyberspace nie ganz entzaubert. Nach wie vor verspricht er die Schaffung einer geeinten Menschheit. Nach wie vor bergen seine Second-Life-Programme die Renaissance des Paradieses. Nur, wollen wir wirklich in so einer perfekten Blase leben? Ganz ohne Verfehlungen und Wunden, die uns zu dem gemacht haben, was wir sind?
Am Hessischen Staatstheater Wiesbaden werden diese Fragen nun philosophisch hochkomplex in einem Stück diskutiert. Bevor sie – so viel vorweg – in aller Drastik auf der Bühne deutlich werden, bringt die Inszenierung von Ulf Erdmann Zieglers Text Digitales Feuer noch das Davor auf die Bühne: In
die Bühne: In einem (analogen) Wohnsalon treffen Figuren mit unterschiedlichen politischen Hintergründen aufeinander, darunter eine trinkfreudige Altsozialistin (Anne Lebinsky), eine Träumerin, die einst auf den Aufstieg im Kapitalismus hoffte (Evelyn M. Faber), sowie Klimaaktivisten der Letzten Generation (unter anderem Nina Völsch, Paul Simon und Klara Wördemann).Nicht nur für Komik, sondern auch für Erkenntnis steht überdies ein Senior im Rollstuhl (Tobias Lutze). Er sagt die Schlüsselsätze zu diesem bunten Szene-Tableau: „Geschichte wiederholt sich nicht. Sie bleibt.“ Der historische Verlauf äußert sich hier demnach nicht in aufeinanderfolgenden Zäsuren und Epochen, sondern als Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Weltanschauungen, Systeme und Ideologien überlappen sich oder treffen konfrontativ aufeinander. Erst wer sich mit all diesen Verheißungen und Irrwegen der Menschheit auseinandersetzt, kann das „größte Abenteuer“, wie es im Stück heißt, erleben, nämlich „die Reise zu sich selbst“.Für diese Tour d’Horizon bietet Regisseur Christoph Kohlbacher ein buntes Sammelsurium an Bildern und Szenewechseln. Einmal wird die Bühne – unterlegt mit Vangelis’ Conquest of Paradise – zum Henry-Maske-Boxring, als Sinnbild für das Gegeneinander sich widersprechender Weltauffassungen, umgebaut. Wenig später schwebt an einer Nabelschnur ein Methusalem in der Erscheinung einer Babypuppe namens Bellamy herab.Allerlei KarikaturenWährend er in Zitaten von Kant, Hume und anderen Granden des Intellekts monumentale, die Zivilisationsentwicklung prägende Sätze der Philosophiegeschichte zum Besten gibt, hat auf der anderen Seite der Bühne längst eine andere Macht das Zepter übernommen: die „Armee der Ungeduldigen“, ein Heer von KI-Avataren. „Wir wissen Bescheid“, bekunden ihre Mitglieder mehrfach und rufen zudem eine neue Ära aus. Überall sollen nun Öko-Räte eingesetzt werden, überall sollen Verbote klimaschädlicher Handlungen durchgesetzt werden, überall soll das Prinzip der absoluten Gleichheit gelten. Wie schon die gelben Uniformen und durchweg gleichen Gesichtsmasken veranschaulichen, stehen die Sprecher für eine monochrome Gemeinschaft. Niemand muss in dieser Unterschiedslosigkeit noch Leid oder Diskriminierung hinnehmen. Und die Individualität? Die hat doch ohnehin immer nur Probleme hervorgerufen, oder?Was Ziegler mit diesen Repräsentanten eines vollkommenen Daseins, deren wir anfangs noch allein auf Bildschirmen gewahr werden, zum Ausdruck bringen will, ist ein problematisches Bild der Historie im digitalen Raum. Im Gegensatz zum Chaos der Lebensentwürfe und -anschauungen zu Beginn des Textes, genauer: im Real Life, regiert im Kosmos der Bildschirme allein die Logik, mithin die moralische Fehlerlosigkeit. Sie geht nicht aus Schmerzen und Lerneffekten hervor. Sie beruht auf Berechnung, steril und transparent. Eine Geistesgeschichte, deren Fortschritt im steten Trial and Error bestand, hat nun abgedankt, weswegen die vermeintlichen Heilssoldaten Bellamys einfach die Nabelschnur durchtrennen.Diese allerlei Karikaturen durcheinanderwirbelnde, kluge Farce zeigt, wozu das Gegenwartstheater fähig ist: Zum einen kann es als Schauplatz einer praktizierten philosophischen Auseinandersetzung dienen. Graue Theorie wird darin verlebendigt, im Widerstreit der von Figuren verkörperten Positionen. Zum anderen kommt der Kulisse eine bedeutende Funktion zu. Anders als etwa die zumeist linear erzählende Literatur ist die Bühne dazu imstande, Synchronizität herzustellen. Diverse Handlungen und Dialoge können zur selben Zeit stattfinden. Somit verfügt das Theater auch über eine Ästhetik, die intelligent auf die Wirkweisen der neuen Medien, die uns in jedem Augenblick der Wirklichkeit auf dem gesamten Globus aussetzen, reagieren kann. Sie kann sie spiegeln, dekonstruieren oder Alternativen aufzeigen.Da sich beispielsweise die digitale Utopie in Zieglers Stück als Dystopie entpuppt, ziehen die Protagonisten im Bewusstsein, dass eine andere Welt möglich sein muss, schließlich den Stecker. Das sakrale Leuchten der Monitore, es wird ersetzt durch ein ganz gewöhnliches Feuer in einer Tonne. Alle versammeln sich darum und erproben ihren Zusammenhalt im Gesang. Er scheint bitter nötig zu sein. Denn nun steht alles wieder auf Anfang.Placeholder infobox-1