Schneidige Gauner sind männlich, blond und charmant – so weit zum Hollywood-Steckbrief, wie ihn etwa Robert Redford in Der Clou oder zuletzt Leonardo DiCaprio in The Great Gatsby prägten. Eine solch auratische Figur begegnet uns auch in Hernan Diaz’ Roman Treue, der von einem Investmenthai namens Benjamin Rask in den 1920ern erzählt. Während andere in den Konkurs schlittern, gilt sein Riecher als phänomenal, seine Persönlichkeit als umwittertes Geheimnis. Lediglich ein gewisser Harold Vanner verfügt über Insiderwissen und berichtet in seiner scheinbaren Exklusiv-Story von einem letztlich autistischen Genie.
Dass dieser Beginn des Buches jedoch nicht nur reich an Klischees ist, sondern auch ziemlicher Humbug, löst sich erst im zweiten Teile des Werks auf, nämlich sobald sich der echte Protagonist und Geschäftsmann Andrew Bevel zu Wort meldet. Unter dem Titel „Mein Leben“ stellt er klar, dass er weder mit windigen Methoden zu Wohlstand gelangte noch seine früh verschiedene Frau an psychischem Zerfall litt. Und wiederum erst später erfahren wir, wie es zu dieser Selbstdarstellung kam. Sie entspringt der Feder der vom Finanzexperten als Sekretärin engagierten Ida Partenza, die mit dem Auftrag betraut wurde, eine wahre Gegenerzählung zur Schund-Biografie zu erstellen.
Was als ein eher biederer Roman über einen seltsamen Emporkömmling an der Wallstreet beginnt, erweist sich immer mehr als höchst komplexer Text. Zunächst besticht gewiss die kritische Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus, dessen Entfesselung sich in einer – an Hofmannsthals Jedermann erinnernden – Verselbstständigung des Geldes abbildet. Die Rede ist von einem „Lebewesen“ mit „eigenen Gelüsten“ und einem „freien Willen“. Mit seiner verspielten, vermeintliche Wahrheiten infrage stellenden Erzählkonstruktion problematisiert das Werk darüber hinaus das Eigenleben des Gerüchts in der Epoche „alternativer Fakten“.
Ganz in diesem aufklärerischen Sinne könnte man annehmen, dass die Richtigstellung des Helden, die ihn als Saubermann präsentiert, jedweder Fakes erhaben ist. Doch weit gefehlt! Der eigentliche Coup von Diaz’ Manöver macht sich erst im letzten Kapitel bemerkbar, hier kommt man aus dem Staunen kaum noch heraus. Als auch Andrew Bevel verstirbt, stößt Ida auf versteckte Tagebuchaufzeichnungen von dessen Gattin Mildred. Im Gegensatz zur Darstellung ihres Ehemanns erscheint sie darin als eine komplett andere Frau. Überraschend tritt dabei ihr Anteil am rätselhaften Erfolg des Börsenberserkers zutage. Was für eine fantastische Wende! Aus dem Porträt eines dubiosen Spekulanten geht eine unerwartete Emanzipationsgeschichte hervor ... – nur so viel sei noch verraten, in dieser Emanzipationsgeschichte entwickelt sich Ida von einer Schreibkraft zur Schriftstellerin. All dies geschieht auf dem chauvinistischen Terrain des frühen 20. Jahrhunderts und wirft selbstverständlich ein Schlaglicht auf die Gegenwart.
Unterlegt werden die Storyfäden übrigens durch ein vielschichtiges Stilrepertoire. Für jedes seiner letztlich von erfundenen Figuren geschilderten Kapitel bedient sich der 1973 in Argentinien geborene Diaz eigener Ausdrucksformen. Ist beispielsweise Vanners erlogene Biografie mit Begriffen wie „Detachiertheit“, „Gravitas“ und „Fortune“ noch von einem prätentiösen Ton gekennzeichnet, fällt dieser im Tagebuch Mildreds hingegen schmucklos und fragmentarisch aus. Jede Beschreibung wirkt aufgrund ihrer individuellen Gestaltung authentisch und birgt doch häufig nichts anderes als Schein. Zu spät erkennt man ihn, weil dieses Buch mit aller Kraft verführt, um uns am Ende doch nur unsere eigene Leichtgläubigkeit vorzuführen. Dieser literarischen Intelligenz geht man allerdings nur allzu gern auf den Leim.
Treue Hernan Diaz Hannes Meyer (Übers.), Hanser 2022, 416 S., 27 €
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.