Ein Recht auf Chanel

Bühne Warum Aufstieg ein Märchen ist: das berührende Sozialdrama „Einfache Leute“ am Staatstheater Mainz
Ausgabe 25/2021

Sie hat es geschafft: Als Kuratorin in einem Kunstmuseum kann Alex sich mit den schönen Dingen des Lebens umgeben. Ein schwarzer Designschreibtisch und Apple-Laptop ergänzen das Angekommensein in der gehobenen Schicht – wenn eben nur nicht vereinzelt ihre Herkunft aus armen Verhältnissen durchschlüge. Da ist die Hand vor dem Mund beim Lachen oder der überhöfliche Hang, sich ausnutzen zu lassen. Doch als unversehens ein neureicher Emporkömmling ihr Chef wird, gerät ihr Glaube an eine Welt, die Leistung mit Aufstieg belohnt, ins Wanken. Sollte das ihr Leben sein? Und welchen Preis hat sie dafür gezahlt?

Differenziert lotet Anna Gschnitzers Stück Einfache Leute die brüchige Oberfläche einer vermeintlich auf Chancengleichheit gründenden Gesellschaft aus und findet in der Uraufführung am Staatstheater Mainz eine formidable Realisierung. Als gäbe es im Dasein der Protagonistin keinen Makel, rahmt die Bühne ein weißer Lackvorhang, die Wand hinter dem Arbeitsplatz ist holzgetäfelt. Doch während sich die Akademikerin (Hannah von Peinen) in der artifiziellen Museumsatmosphäre zu bewähren sucht, für den Chef den Bonsai gießen oder Weihnachtsgeschenke kaufen muss, suchen sie die Geister der Vergangenheit heim. Neben ihr spielen sich auf dem Parkett Szenen ihrer Kindheit ab: die erste Übernachtung mit ihrer einst besten Freundin, selbstironische Mädchengespräche über ein Recht auf Chanel(lippenstift). Die Erniedrigungen der Mutter bei der Frau des Arztes, die in feine Kostümchen gekleidet mit einer immer grinsenden Maske dargestellt wird. Sie zählt zu den Makellosen, die auch das spätere Leben der Aufsteigerin in der Kulturblase bevölkern werden. Dort klagt man, wie ihr Vorgesetzter, gern Hierarchiegefälle und Patriarchalismus an, während man(n) en passant die Hand der Angestellten streichelt.

Heimatlos im Zwischenraum

Genau in diesen kleinen Gesten und zahlreichen durch und durch schlüssigen Bildern erschließt sich das Potenzial von Alexander Nerlichs kongenialem Textzugriff. Arbeitet die Vorlage vor allem mit harten Oppositionen, so schafft seine Regie fluide Übergänge zwischen gestern und heute. Etwa beim Aufkommen der Scham. Dann umfasst die junge Alex (Gesa Geue) von hinten den Körper der Älteren. Auch die Kunst erscheint wie eine durchlässige Grenze, zumal die Holzpaneele mit Auslassungen und Kapseln versehen sind, in denen sich Alex auch einmal aufhält – heimatlos im Zwischenraum. Als die Flächen umgedreht werden, erscheinen Figuren einer bäuerlichen Genremalerei. Alex’ Herkunft tritt so gleißend in den Vordergrund. Erst spät wird sie den Ausbruch aus ihrem mit falschen Illusionen behafteten Wohlstandssetting wagen und noch einmal zu ihren Wurzeln zurückkehren. Am Ende steht sie traurig hinter ihrer Mutter, die in einer von Kerzen erleuchteten Ecke vor dem Kreuz kniet. Es ist ein tragisches Bild der Entfremdung, hier die Karrieristin, dort die kleinbürgerliche Mater familias. Zumindest in einem ist Letztere ihr voraus: Sie findet noch Halt im Glauben.

Selten hat das Theater derart bewegend das Märchen von der sozialen Durchlässigkeit entlarvt. Die Inszenierung deckt Heucheleien auf und sucht inmitten all der Kulissen und Projektionen die Reste der wahren Existenz. Berührend ist das und auf eine unbehagliche Weise zutiefst ehrlich.

Info

Einfache Leute Text: Anna Gschnitzer, Regie: Alexander Nerlich Staatstheater Mainz

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