Epik, komm raus

Theater Daniel Kehlmanns „Die Reise der Verlorenen“ ist so anregend wie bedenklich
Ausgabe 46/2019

Wer derzeit das sogenannte politische Theater besucht, erlebt nicht selten eine schlaffe Welterklärungsshow. Umso erfreulicher fallen jene Stücke auf, die sich der Logik des allzu Plakativen und Erwartbaren entziehen. So etwa Daniel Kehlmanns grandioses Drama Die Reise der Verlorenen – ein Text, der auf den ersten Blick so gar nicht typisch für den Autor ist. Denn statt ein Spiel aus Wahrheit und Fiktion zu betreiben, was zu seinen liebsten Finessen zählt, führt er uns zurück zu einem historischen Ereignis, das subtil, aber unverkennbar ein Licht auf die Gegenwart wirft.

Erzählt wird die Geschichte des 1939 nach Kuba ausfahrenden Schiffs St. Louis. Unter den Passagieren befinden sich über 900 deutsche Juden. Die Fahrkarte in die Ferne stellt für die meisten die letzte Rettung dar. Als das Schiff jedoch am Kleinstaat anzulegen versucht, wird ihnen die Einreise untersagt. Es folgen Hinterzimmergespräche, Bestechungsversuche, diplomatisches Hin und Her zwischen dem Präsidenten der Insel und Unterhändlern beispielsweise der US-Administration (Anmerk. der Redaktion, in der Zeitungsfassung stand hier irrtümlicherweise "kommunistischen Insel"). Jedoch ohne Erfolg. Der Kapitän muss umkehren, erst in letzter Minute werden sich die Nachbarnationen von Hitler-Deutschland zur Aufnahme der um ihr Leben Fürchtenden entschließen. Was historisch ähnlich verbürgt ist, strahlt mit einem Zitat, das Kehlmann dem kubanischen Staatsoberhaupt in den Mund legt, bis in die Gegenwart der großen Flüchtlingsströme aus: „Sie meinen also, ich sollte tausend Menschen einfach so ins Land lassen? (…) Wissen Sie, wie viele Schiffe sich in Bewegung setzen, sobald ich das tue? Dann muss ich statt tausend zehntausend abweisen. Oder ich nehme die zehntausend, aber kommen dann nicht sofort die nächsten zehntausend?“

Einen Text von dieser Tragweite, mit derart vielen Wendungen und einem umfangreichen Personaltableau auf die Bühne zu bringen, ist wahrlich keine Leichtigkeit. Regisseur Rafael Sanchez wählt für die deutschsprachige Erstaufführung am Schauspiel Köln eine antiillusionistische Darbietungsweise. Wir erleben episches Theater, wie es im Lehrbuch steht: Damit sich die Zuschauer gar nicht erst mit den Figuren identifizieren können, switchen diese zwischen den Rollen und reden zumeist zum Publikum hin. Umgeben ist die Szenerie von zwei hohen Holzwänden an der Seite sowie einem in der Mitte auf ein Ozeanbild hin ausgerichteten Bug. Die Bühne bietet keine Fluchtmöglichkeit. Die Figuren müssen sich daher zwangsweise in diesem künstlichen Raum, irgendwo auf weiter See, umziehen.

Ent- und Verfremdung könnte man generell als das Motto dieser Aufführung beschreiben, die raffiniert Zeichen und Bilder durcheinanderwirbelt. Mitunter mimt der Überzeugungsnazi und Giftzwerg Otto Schiendick (einzigartig: Stefko Hanushevsky) einmal für die Kinder an Bord ebenjenen Charlie Chaplin, der noch in dem Film Der große Diktator die üble Fratze des Faschismus demaskiert. Umgepolt wird auch der bekannte Filmsong Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern. Obgleich die Protagonisten dieses Lied in einem Chor vortragen, um sich selbst Hoffnung in der Hoffnungslosigkeit zu geben, passt es eigentlich nicht. Denn zum einen sang es ursprünglich der Vorzeige-Schauspieler des Regimes, Heinz Rühmann, zum anderen handelt es sich um ein propagandistisches Durchhaltestück für die Soldaten an der Front. Einzig die dazu live im Hintergrund gebotene unbehagliche Klaviermusik (Piano: Cornelius Borgolte) lässt die Dissonanz erkennen.

Es bleiben ferne Individuen

Kompakt, stimmt alles, könnte man meinen, Bild und Ton fügen sich zu einer Inszenierung, die dennoch einen schwierigen, neuralgischen Punkt aufweist: nämlich die ästhetische Signatur. Denn bei der Wahl einer brechtianischen Darbietungsweise, die Rollen nicht fixiert, sondern austauschbar macht, übersieht der Regisseur das vielleicht wichtigste Anliegen des Stücks: Kehlmanns Komposition will an die wahren Menschen der damaligen Beinah-Katastrophe erinnern und ihnen, von denen viele letztlich doch den Tod in Lagern oder im Krieg fanden, ihre Würde zurückgeben. Bei Sanchez bleiben sie uns als Individuen fern und bilden zum Schluss eine homogene Masse. Selbst der Nazi Schiendick kann darin untertauchen und betont zuletzt mehrfach, alle seien jetzt endlich gleich. Mag sein, dass der Regisseur mit seiner Entscheidung durchaus in kritischer Absicht darum bemüht ist, die Strategie des Hitler-Regimes, alle Systemfeinde als uniformen Block zu entmenschlichen, zu demaskieren. Unmittelbar erschließt sich der Gedanke aber nicht.

Die Interpretation von Die Reise der Verlorenen kann man daher nicht einfach als gelungen oder misslungen bezeichnen. Sie ist in jedem Fall diskussionswürdig und wirft zentrale Fragen der theatralischen Erinnerungsarbeit auf: Ist Dekonstruktion das adäquate Mittel dafür, die alle Bereiche der damaligen Gesellschaft durchdringende Ideologie zu entlarven? Oder ist nicht etwa als einziges Mittel eine konsequente Distanz ihr gegenüber nötig? Selten resultieren aus einem Bühnenwerk so viele elementare Überlegungen. Allein deswegen lohnt der Besuch dieser so bedenklichen wie gleichsam souveränen Inszenierung.

Info

Die Reise der Verlorenen Daniel Kehlmann Rafael Sanchez (Regie), Schauspiel Köln, bis 18. Dezember 2019

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