Ballettchef Marco Goecke attackiert Theater-Kritikerin mit Kot: Enthemmung ohne Grenzen

Meinung Ein tätlicher Angriff auf eine Rezensentin durch den Ballettchef Marco Goecke ist ein Anschlag auf das Theater, das Publikum und die Kritik gleichermaßen
Tanztheaterchef Marco Goecke
Tanztheaterchef Marco Goecke

Foto: Christophe Gateau/picture alliance/dpa

Dass sich Kunstschaffende bisweilen über negative Kritiken ärgern, ist nichts Neues. Manche haben in der Geschichte sogar mal kreativer, mal schäbiger ihre Meinungen öffentlich dazu kundgetan. Man erinnert sich mitunter noch an den Eklat während der Premiere von „Das große Massakerspiel“ in Frankfurt im Jahr 2006, als der damalige und für seine zugespitzten Rezensionen bekannte Theaterredakteur Gerhard Stadelmaier von dem Schauspieler Thomas Lawinky mit „Hau ab, du Arsch, verpiss dich!“ beschimpft wurde.

Nun hat es erneut eine F.A.Z.-Berichterstatterin getroffen. Und diesmal mit einer weitaus drastischeren Grenzüberschreitung. Auf der Premiere von „Glaube – Liebe – Hoffnung“ vergangenen Samstag an der Staatsoper Hannover wurde die Kritikerin Wiebke Hüster von dem Tanztheaterchef Marco Goecke mit Hundekot beschmiert, nachdem er sich zuvor über die vermeintlich persönlichen Angriffe der Journalistin in ihren Texten echauffiert hatte.

Zurecht weist die F.A.Z.-Redaktion in ihrer Stellungnahme auf die Missachtung der Pressefreiheit hin, die nicht mehr allein in autoritären Regimen bedroht zu sein scheint. Was die Causa überdies brisant macht, ist die bedenkliche Ausweitung gesellschaftlicher Enthemmung auf den Kulturbetrieb. Während sich Hass und Hetze viral in den sozialen Netzwerken verbreiten, hatten Theater in den vergangenen Jahren stets versucht, einen reflexiven Gegenraum zu etablieren. Den populistischen Lärm, gerade in polemischen Debatten zur Migration oder Gewalt auf den Straßen, flankierten viele Institutionen mit dialogischen Formaten oder einem ausdifferenzierten Programm, das Ambivalenzen aufzeigte. Halten unbotmäßige Tabubrüche vermehrt im Theater Einzug, kratzt das auch an ihrer Vorbildfunktion.

Marco Goecke hatte Tüte mit Exkrementen in der Tasche

Das ausfällige Verhalten des Choreografen, das gezielt geplant gewesen sein muss, zumal man nicht zufällig eine Tüte mit Exkrementen in der Tasche hat, zieht buchstäblich nicht nur die eigene Wirkstätte in den Dreck, sondern diffamiert zudem das Publikum. Dass wegen Hüsters Text zu „In the Dutch of Mountains“, einer zurückliegenden Aufführung in Den Haag, Goecke zufolge Abonnements gekündigt worden seien, impliziert, das Publikum hätte keine eigene Meinung. Dabei dürften sich gerade Abonnentinnen und Abonnenten wohl kaum ausschließlich eines Verrisses wegen zurückgezogen haben, sondern weil sie wahrscheinlich selbst nicht von der Darbietung überzeugt waren.

Und die Kritikerinnen und Kritiker? Einerseits dokumentiert der Vorfall: Rezensionen werden offensichtlich noch gelesen. Andererseits wird die Position von unabhängigen Kulturberichterstatterinnen und Kulturberichterstattern erneut geschwächt. Allen voran negative Kritiken geraten zunehmend in Verruf. Warum soll man überhaupt Bedenkliches schreiben? Bisweilen sogar über Exoten- und Nischenthemen? Weil auch sie das Gespräch über Kunst stärken, weil auch sie unser Sensorium für Schönes und Wahres oder Hässliches und Trügerisches schärfen.

Allen voran die Theaterkritik gilt noch immer als jenes Genre, das im Vergleich mit Literatur- oder Ausstellungsbesprechungen am streitbarsten auftritt und zu oftmals hitzigen Auseinandersetzung animiert. Der Angriff auf Hüster sollte letztlich allen ein Weckruf sein. Denn würden keine (auch kontroversen!) Rezensionen mehr geschrieben, verbliebe Kunst allein in ihrer Blase, ohne den notwendigen äußeren Widerhall.

der Freitag digital zum Vorteilspreis

6 Monate mit 25% Rabatt lesen

Geschrieben von

Der Freitag im Oster-Abo Schenken Sie mutigen Qualitätsjournalismus!

Print

Entdecken Sie unsere Osterangebote für die Printzeitung mit Wunschprämie.

Jetzt sichern

Digital

Schenken Sie einen unserer Geschenkgutscheine für ein Digital-Abo.

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden