Was kann Theater? Dem Zuschauer würde kluge Unterhaltung oft schon reichen. Aber immer dann, wenn wir die Bühne vergessen und innerlich Teil der Szenerie werden, gelangt es zu seiner vollen Intensität, es reißt uns schier mit. Rare Momente sind das, sie erfordern eine perfekte Mixtur. Dabei tragen vor allem die Bilder zu der entscheidenden Spannung dieser Kunstform bei. Denn einerseits verorten sie das fiktive Geschehen in der Wirklichkeit, andererseits laufen sie Gefahr, gerade den utopischen Überschuss des Spiels auszuhebeln. Denn Theater will ja die Welt nicht nur zeigen, wie sie ist, sondern bestenfalls, wie sie ganz anders sein könnte.
Zugegeben, derartige ästhetikphilosophische Pirouetten locken noch keinen TV-Aficionado ins Bühnenhaus, sind aber für die Frage nach der Wirkkraft des Schau–spiels – gerade in Zeiten der Ökonomisierung aller Lebensbereiche und einer sich in Alternativlosigkeitsfloskeln ergehenden Politik – wichtige Pirouetten. Die deutschsprachige Erstaufführung Meer des großen norwegischen Theaterautors Jon Fosse am Theater Konstanz verzichtet weitestgehend auf Bilder, um stattdessen Raum für eigenen Ideen eines alternativen Daseins zu lassen. Im Inneren der Spiegelhalle am Hafen herrscht demnach Minimalismus (Bühne: Katrin Hieronimus).
Zweifelsohne traurig
Ein ausgerissener Baumstamm befindet sich in der Mitte des Parketts. Um ihn herum versammeln sich im Laufe des Stücks sechs Figuren. Wie das an Treibgut erinnernde Holzstück sind auch sie alle irgendwie entwurzelt. Unter ihnen der fabelhaft von Odo Jergitsch verkörperte Kapitän, der litaneihaft immer wieder erzählt, dass er große Schiffe über die Meere manövriere, ein Gitarrenspieler (Thomas F. Jung) ohne Instrument, ein Pärchen, das sich mit dem ersten Augenblick ineinander verliebt und zu verlieren droht, sowie Eltern, welche einst ihr Kind verloren haben.
Was das skurrile Ensemble eint, ist die Sehnsucht: nach der Vergangenheit oder einer besseren Zukunft – und immerzu nach Heimat. Sie alle sind Verlorene auf einem weiten Ozean. Dabei ist nicht einmal klar, ob es überhaupt das Schiff gibt, auf dem sie sich gemäß dem Kapitän angeblich befänden. Dasselbe gilt für die Beziehungen unter den Personen. Mal sehen sie sich, mal nicht. Mitunter tauschen sie ihre Rollen oder übertragen ihre Ängste und Hoffnungen aufeinander. Wohin man hört und schaut, vernimmt man Geister. Alles verflüchtigt sich im Sprachnebel. Zweifelsohne haben wir es mit einer traurigen Parabel über Vereinzelung, Desorientierung und Sinnvakuum in der Spätmoderne zu tun. Dass jedoch auch die triste Wirklichkeit stets Möglichkeiten zulässt, deuten die Figuren trotz ihrer Miseren immer wieder an. „Wir können es anders denken“, sagt einmal die Frau zu ihrem Mann, der nicht über den Verlust des gemeinsamen Kindes hinwegkommt.
Indem Regisseur Wulf Twiehaus für das Anderswo jegliche Bilder verweigert, spielt er imaginativ auf den Nicht-Ort, die Utopie an. Theater avanciert hierbei zur Topografie des Möglichen, aber hier in Konstanz wird man dort kaum glücklicher. Denn das anregend klingende Experiment scheitert letztlich, insbesondere an der ambitionslosen Skriptvorlage. „Für mich bedeutet Dichten, in die Stille hineinhorchen“, sagte Fosse einmal. Die selbstzirkulären, an Samuel Beckett erinnernden Gespräche darüber, was ist und was nicht, erschöpfen sich in dieser Inszenierung zu einem langatmigem Sprechtheater. Und wo sich vereinzelt noch Darstellungen finden, wirken diese als plätschernde Dekoration, etwa wenn Wasserwellen projiziert werden.
Mag der Abend sich als ästhetisches Fiasko erweisen, so hat er als politischer Impuls durchaus seinen Reiz – mangelt es unserer Gegenwart doch an nichts so sehr wie an Visionen, nach denen die Protagonisten unentwegt suchen. Das Konstanzer Theater bleibt sich in seinem gesellschaftskritischen Kurs, den der Intendant Christoph Nix eingeschlagen hat, somit treu. Kaum ein anderer Leiter eines kleinen Schauspielhauses hat in den letzten Jahren derart bewiesen, was es bedeutet, den Finger gegen allen Widerstand in die Wunde zu legen. Zuletzt gescholten für seine Realisierung von Taboris Mein Kampf und überhaupt seine unbequeme Weise, Probleme offensiv zu adressieren, geriet der umstrittene Intendant zuletzt immer wieder ins Fadenkreuz der Kulturbürokraten. Die Stadtverwaltung versuchte gar dem habilitierten Juristen nach dessen eigenen Angaben die Anwaltszulassung zu entziehen. 2020 soll sein Vertrag auslaufen. Ruhiger dürfte es bis dahin nicht werden.
Theater als Kampf gegen die Mühlen, scheint die Devise des Bodensee-Theaters und seines Leiters zu lauten. Nicht nur das, demnächst eröffnet sogar eine ständige Vertretung in Berlin. Das ist ambitioniert. Die Aufnahme von Meer in den Spielplan mutet wie ein leiser Ruf zum Hinschauen an, hinter die oftmals nur blendenden Dinge. Das Stück zeugt von der Souveränität, bei Gegenwind nicht unterzugehen. Politisches Theater in einem hochpolitischen Haus vor lieblicher Seekulisse kann man nur begrüßen. Nur beim nächsten Mal wieder mit etwas mehr Kunstfertigkeit!
Info
Meer Regie: Wulf Twiehaus Theater Konstanz
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